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Botox: Wer hats erfunden?

Body & Soul

Botox: Wer hats erfunden?

  • Text: Bernadette Calonego

Das Ärztepaar Jean und Alastair Carruthers hat einst die faltenglättende Wirkung von Botox entdeckt. Das Milliardengeschäft machten aber andere.

Das Ärztepaar Jean und Alastair Carruthers hat einst die faltenglättende Wirkung von Botox entdeckt. Das Milliardengeschäft machten andere.

Ein Büroblock an einer Einkaufsstrasse: 943 West Broadway im kanadischen Vancouver ist keine exklusive Adresse. In der achten Etage, in den Arztpraxen von Jean und Alastair Carruthers, gibt es weder Marmorsäulen noch Sicherheitsbeamte. Ausserhalb von Fachkreisen wissen nur wenige, dass die 63-jährige Augenärztin Jean zusammen mit ihrem Mann Alastair, einem Hautarzt, das Faltenwunder Botox erfunden haben. Das war vor zwanzig Jahren. Das Milliardengeschäft der Botoxindustrie ging allerdings spurlos an den Carruthers vorbei – wegen eines verhängnisvollen Fehlers.

Sie haben mindestens eine herbe Enttäuschung im Leben weggesteckt. Aber man sieht Ihnen nichts an. Weil Sie sich beide mit Botox behandelt haben?
Jean Carruthers: Ich habe mein Gesicht vor zwölf Jahren liften lassen, und ich glätte meine Falten mit Botox, ich bin da sehr offen. Als kosmetische Ärzte müssen wir gut aussehen, weil wir das Produkt anwenden, das wir verkaufen. Aber ich finde, uns sind die Freuden und Sorgen anzusehen, die uns das Leben beschert hat. Botox sollte die Fähigkeit des Individuums sich auszudrücken, nicht einschränken.
Alastair Carruthers: Welche Enttäuschungen meinen Sie überhaupt?

Sie beide haben als Erste die faltenglättende Wirkung des Nervengifts Botox wissenschaftlich beschrieben. Aber Sie liessen die Behandlung nicht patentieren.
Alastair Carruthers: Ja, wahrscheinlich würden wir es heute ein bisschen anders machen.

Ein bisschen? Sie haben Milliarden verschenkt!
Jean Carruthers: Ein Patentanwalt sagte mir damals, dass die kosmetische Behandlung mit Botox kein Patent rechtfertige. Heute bin ich ein winziges bisschen weiser und würde einen zweiten, dritten Anwalt konsultieren.

Eine krasse Fehleinschätzung des Anwalts. Tragen Sie ihm das nach?
Jean Carruthers: Nein, wir haben so viel Spass an unserer Arbeit, mit oder ohne Patent.

Hätten Sie sich irgendwie an der Botoxproduktion der Firma Allergan beteiligen können?
Jean Carruthers: Nicht ohne unsere akademische Unabhängigkeit aufzugeben, und das möchten wir keinesfalls.

Kaum zu glauben, dass Sie das so gelassen nehmen.
Jean Carruthers: Warum sollen wir in der Vergangenheit stecken bleiben? Wir haben in den vergangenen Jahren viele andere Dinge gemacht. Wir haben zwei gut laufende Praxen in Vancouver und publizieren viele Forschungsberichte. Und wir wollen ein ganz normales Leben führen.

Jean und Alastair Carruthers haben ihre Karriere nicht in der kosmetischen Medizin begonnen. Erst eine zufällige Beobachtung im Jahr 1987 führte das Paar in die Welt der Antifalten-Industrie. Jean Carruthers setzte damals Botox als Neuromodulator (das ist eine chemische Substanz, die die Arbeitsweise des Nervensystems beeinflusst) gegen unkontrolliertes Zucken der Augenlider oder zwanghaftes Blinzeln ein. Eines Morgens sagte ihr eine Patientin, wenn sie ihr Botox in die Stirn spritze, würden ihre Falten verschwinden.

Wie haben Sie darauf reagiert?
Jean Carruthers: Beim Abendessen erzählte ich es meinem Mann, aber es war lärmig mit den drei kleinen Kindern, und irgendwie ging das bei ihm nicht wirklich rein.
Alastair Carruthers: Am folgenden Tag sprach Jean mit der Empfangsdame in unserer Praxis. Es war hektisch, und nachmittags um 2 Uhr sah die Frau ziemlich gestresst aus. Jean sprach also mit ihr, und es ging zackzack, nachher sah die Empfangsdame sooo entspannt und ruhig aus!

Was meinen Sie mit zackzack?
Jean Carruthers: Oh, ich habe ihr Botox gespritzt.

Die Angestellte hat sich einfach wie ein Versuchskaninchen Botox spritzen lassen?
Jean Carruthers: Ja, aber in einer ganz extrem starken Verdünnung, das dürfen Sie nicht vergessen. Meine Angestellte war kein bisschen besorgt, denn mit Botox behandelte ich ja schon seit vielen Jahren unkontrolliertes Augenzucken bei meinen Patienten. Und sie kannte diese Patienten schon seit Jahren.

Und dann haben Sie Botox auch an Ihren Falten ausprobiert?
Jean Carruthers: Aber ja doch. Ich kann mich damit brüsten, dass ich seit 1987 nie mehr die Stirn gerunzelt habe!

Die Hollywoodlegende Katherine Hepburn hat Sie, Alastair Carruthers, einmal als «sehr gut aussehend» bezeichnet. Wozu brauchen Sie Botox?
Alastair Carruthers: Ich habe nur meine senkrechten Stirnfalten verschwinden lassen, sie können beim Mann bedrohlich wirken. Die waagrechten Linien dagegen signalisieren Neugier und Anteilnahme. Ich habe mir auch Botox in die Achselhöhlen spritzen lassen, um die Schweissbildung zu verhindern, weil wir viele Vorträge halten. Das war zwar unangenehm, aber die Mühe wert.

Botox ist das tödlichste Gift, das der Welt bekannt ist, nicht wahr?
Alastair Carruthers: Das ist richtig, aber Botox ist ein Fragment eines Proteins, und bei einer kosmetischen Behandlung bekommt man ein bis drei Milliardstel verabreicht. Der Körper hat kein Problem, das zu verarbeiten.

Aber manche Leute werden Botox-süchtig.
Alastair Carruthers: Botox macht süchtig, wie man süchtig nach Zähneputzen werden kann, weil es das gewünschte Resultat liefert. Es ist keine Sucht im chemischen Sinn.

Und die Nebenwirkungen? Manche Mediziner sagen, Botox schade dem Gedächtnis.
Jean Carruthers: Es gibt keine wissenschaftlich abgestützten Informationen dafür. Aber es gibt solide Forschungsresultate, die Botox mit Stimmungsaufhellung in Verbindung bringen, vor allem für depressive Menschen.

Die Carruthers wollen nicht nur als Schönheitschirurgen gesehen werden. Forschung und Wissenschaft sind ihnen wichtig. An den Wänden des kleinen fensterlosen Konferenzzimmers der Praxen hängen Dutzende von gerahmten akademischen Auszeichnungen, Zertifikaten und Diplomen. Alastair Carruthers nennt es das «Glaubwürdigkeitszimmer».

Jean Carruthers sagt, für sie sei nie nur das Aussehen für ihre Selbstachtung wichtig gewesen. Jeans Eltern waren beide Ärzte. Die Mutter nahm ihre 7-jährige Tochter ein Jahr nach England mit, weil sie sich dort zur Radiologin weiterbilden liess. Seit dem Auslandaufenthalt war Jean Carruthers von intellektuellem Ehrgeiz gepackt. Das gefiel auch Alastair Carruthers, als sich die beiden an der Universität UBC in Vancouver trafen: Er habe immer eine gleichgestellte Partnerin an seiner Seite haben wollen, versichert er. Im Gespräch lässt er seiner Frau oft den Vorrang und zählt stolz ihre wissenschaftlichen Erfolge auf.

Wie fühlt es sich an, die Welt verändert zu haben?
Jean Carruthers: Wir sind stolz, dass es so vielen Menschen hilft. Und es ist schön, dass sich etwas Positives mit unserem Namen verbindet.

Wenn Sie schon nicht Milliardäre wurden, bekommen Sie denn wenigstens Anerkennung dafür?
Jean Carruthers: Uns fragen Kollegen um Rat. Wir halten auf der ganzen Welt Vorträge. Oprah Winfrey erwähnte uns. Aber bestürmen uns Bewunderer auf der Strasse? Nein. Immerhin, wenn wir ein Restaurant in Vancouver betreten, dann kennen wir eine Menge Leute, die dort sitzen. Patienten von uns natürlich!
Alastair Carruthers: Sie schauen diskret weg, und wir schauen auch weg. Aber in Brasilien sind wir Stars. Da wird unser Besuch in den Nachrichten gemeldet.

Warum denn das?
Jean Carruthers: Die meisten Menschen dort verstehen, wie wichtig das Aussehen ist. In Nordamerika, in Europa und Asien denken manche Leute immer noch, gutes Aussehen sei mehr ein Luxus und nicht eine Notwendigkeit. Die verwechseln oft Selbstachtung mit Eitelkeit.

Aber gehen manche Menschen nicht zu weit in Sachen Jugendwahn?
Jean Carruthers: Ich glaube nicht, dass alle Leute wie 16 aussehen wollen. Sie möchten frisch aussehen, energiegeladen, gut gelaunt. Heute muss man gut aussehen, um seinen Arbeitsplatz zu behalten. Es gibt solide Untersuchungen, die zeigen, dass man schlechter behandelt wird, wenn man zornig, deprimiert und ausgelaugt aussieht. Das habe ich nicht erfunden. So sind die Menschen.

Auch bei provozierenden Fragen bleiben die Carruthers engagiert, aber immer höflich. Ihre Energie, so betonen sie, tanken sie nicht nur aus Schönheitsprozeduren. Sie stehen um fünf Uhr auf fürs Training im Kraftkeller ihres Hauses im Nobelviertel Shaughnessy. Ihr Auto haben sie verkauft, sie fahren Velo oder gehen zur Bushaltestelle, sie schnorcheln und surfen. Alastair Carruthers, ein Weinconnaisseur, liebt zudem Flaschen aus dem Burgund und spielt Golf mit seiner Frau. Es seien die gesammelten Erfahrungen, die das Leben interessant machten, sagt Alastair. Aber er ist auch überzeugt, dass man den körperlichen Zerfall nicht einfach so akzeptieren muss. Botox begeistert ihn weiterhin.

Aber es muss Ihnen doch auffallen, dass manche Leute zu geliftet und aufgepolstert aussehen?
Alastair Carruthers: Ich weiss nicht, wo diese Leute wohnen, in Manhattan oder Beverley Hills vielleicht? In unserer Praxis in Vancouver haben wir sie nicht.
Jean Carruthers: Nur selten kommen Patienten mit unrealistischen Erwartungen zu mir. Zu ihnen sage ich: «Sie sehen jetzt fabelhaft aus. Wenn wir noch mehr verändern, dann wirkt es übertrieben.» Ich bin für die leichte Unterbehandlung, damit es natürlich wirkt. Wenn ich jemandem die Wangen mache, lasse ich vielleicht die Mundfalten stehen. Oder behandle die Augenbrauen, aber die Krähenfüsse nicht.

Trotzdem – wird unser Schönheitsideal wegen Botox nicht von Hollywood diktiert? Müssen wir alle aussehen wie Demi Moore?
Jean Carruthers: Nein. Die meisten Frauen wollen für sich selber so gut wie möglich aussehen. Nicht jünger, nur dem Alter angepasst.

Geraten insbesondere Frauen nicht immer stärker unter Druck?
Jean Carruthers: Niemand ist gezwungen, Botox anzuwenden. Aber Leute, die es vorziehen, ihr Aussehen nicht zu erhalten, sollten nicht enttäuscht sein, wenn sie anders behandelt werden. Eine gewisse Altersdiskriminierung schleicht sich allerdings ein, das gebe ich zu.

Manche Leute haben eine dismorphe Störung: Sie wollen ihren Körper ständig verändern.
Jean Carruthers: Diese Menschen sind rasch zu erkennen. Sie brauchen Hilfe. Ich schicke sie zu einem Psychologen.

Wie sieht die Zukunft der Botoxbehandlung aus, was kommt als Nächstes?
Alastair Carruthers: Der Heilige Gral ist die Botoxcrème, einfach und sicher anzuwenden.

Wie weit ist man damit?
Jean Carruthers: Die klinischen Versuchsreihen 1, 2 und 3 sind abgeschlossen. Jetzt ist die US-Gesundheitsbehörde FDA daran, die Zulassung zu prüfen. Es handelt sich um ein Gel, das für eine bestimmte Zeit auf die Haut gestrichen wird. Dann wäscht man es sorgfältig ab. In zwei bis fünf Tagen sieht man schon Resultate! Die Crème kann auch gegen übermässiges Schwitzen oder Rückenschmerzen helfen.

Würden Sie junge Menschen, die noch gar keine Falten haben, mit Botox behandeln?
Alastair Carruthers: Wenn ihre Gründe vernünftig sind, wenn sie die ganze Zeit ihre Stirn runzeln und deswegen Falten kriegen – warum nicht? Ich behandle Teenager mit Botox gegen übermässiges Schwitzen, weil es ein Problem für sie ist, das sie in Verlegenheit bringt.

Sie arbeiten zwar beide im selben Hochhaus in Vancouver, aber warum sind Ihre Arztpraxen getrennt?
Alastair Carruthers: Weil wir sehr unterschiedlich sind, Jean ist voller Elan, ich mehr nachdenklich.
Jean Carruthers: Das funktioniert zuhause, aber im Büro nicht. Wir ziehen es vor, verheiratet zu bleiben.

Botox ohne Tierversuche

Botulinumtoxin ist ein natürlicher Eiweissstoff. Seit 1992 wird es in der ästhetischen Chirurgie verwendet. Für die Freigabe für kosmetische Zwecke mussten für Verträglichkeitstests jedes Jahr Hunderttausende Mäuse sterben. Nun hat der weltweit führende Hersteller Allergan versprochen, in der Schweiz ab sofort nur noch tierversuchsfreies Botox zu verkaufen.

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«Heute würden wir es ein bisschen anders machen»: Jean und Alastair Carruthers versäumten es, die kosmetische Botox-Behandlung patentieren zu lassen