
KI in der Medizin: "Der digitale Zwilling verbessert die Behandlung"
Künstliche Intelligenz hält zunehmend Einzug in die Medizin. Forschende arbeiten an sogenannten digitalen Zwillingen – virtuellen Abbildern von Patient:innen. Claudia Witt, Direktorin der Digital Society Initiative der Universität Zürich, erklärt die Chancen und Risiken.
- Von: Samantha Taylor
- Bild: ZVG
annabelle: Die Medizin forscht an digitalen Zwillingen – Abbilder unserer selbst. Sind solche Zwillinge aktuell noch Science-Fiction oder bald Realität?
Samantha Taylor: Es mag nach Science-Fiction klingen, wird aber in der Zukunft Realität. Ein digitaler Zwilling ist nichts anderes als ein umfassendes Datenmodell eines Menschen, basierend auch auf KI.
Wie funktioniert ein digitaler Zwilling?
Er simuliert unsere Organe, ihr Zusammenspiel sowie unsere Körperfunktionen. Kurz: Das KI-Modell simuliert uns eins zu eins in Form von Softwarecodes. Ursprünglich kommen digitale Zwillinge übrigens aus der Industrie. Auch dort überwachen und simulieren sie Prozesse.
Also wird es jede:n von uns künftig zweimal geben?
Vielleicht. In einem ersten Schritt gibt es digitale Zwillinge von der Stange. Dabei handelt es sich um Standardmodelle, die mit Daten vieler Tausender Menschen trainiert sind. Vorstellbar ist, dass es weibliche und männliche Modelle gibt sowie Modelle aus unterschiedlichen Altersklassen.
Das klingt nach einem Fortschritt für die weibliche Gesundheit.
Die medizinische Zukunft wird für Frauen Verbesserungen bringen. Im Gegensatz zu heute, wo in der Medizin das Geschlecht zu wenig berücksichtigt wird, werden in der Zukunft digitale Zwillinge explizit mit Daten von Frauen trainiert und auf den weiblichen Körper abgestimmt.
Was heisst das genau?
In ein weibliches Modell fliessen auch Zyklusdaten oder der weibliche Hormonhaushalt standardmässig mit ein. Diese Grössen finden heute noch zu wenig Beachtung, beispielsweise bei der Dosierung von Medikamenten oder der Wahl von Therapien.
"Am digitalen Zwilling können Ärzt:innen Therapien simulieren und feststellen, welche Methode am besten wirkt"
Was sind die Anwendungsbereiche von digitalen Zwillingen?
Prävention, Diagnostik sowie die Unterstützung bei der Wahl von Therapien. Der letzte Punkt ist jener, den die Bevölkerung als besonders wertvoll erachtet. Zwei Drittel der Schweizer:innen würden dafür einen digitalen Zwilling nutzen. Das ergab unsere Umfrage der Digital Society Initiative der Universität Zürich.
Wie unterstützt ein digitaler Zwilling bei einer Therapie?
Am digitalen Zwilling können Ärzt:innen Therapien simulieren und feststellen, welche Methode am besten wirkt und welche das ideale Verhältnis zwischen Wirkung und Nebenwirkung hat. Wichtig ist das beispielsweise bei Krebstherapien. Aber auch bei anderen Medikamenten lassen sich dann zum Beispiel negative Wechselwirkungen zwischen Medikamenten reduzieren.
Welche Aufgaben übernimmt ein digitaler Zwilling in der Diagnostik?
Hier geht es vor allem um die Früherkennung von Krankheiten. Der digitale Zwilling stellt Veränderungen im Körper frühzeitiger fest und kann Symptome individueller deuten.
Besser als Ärzt:innen?
KI hat den Vorteil, dass sie mit Daten Tausender Menschen trainiert wurde und ständig weitertrainiert. Auf dieses «Wissen» kann sie zugreifen. So erkennt sie Schemen schneller als Menschen. Gleichzeitig braucht es Menschen, die diese Daten mit dem tatsächlichen Zustand einer Person abgleichen und die Informationen vermitteln. Es wird eine enge Zusammenarbeit zwischen Menschen und Technik brauchen.
Wozu brauchen wir eine personalisierte KI bei der Gesundheitsprävention? Die meisten wissen doch, was es für ein gesundes Leben braucht.
Das stimmt, aber ein digitaler Zwilling kann seine Empfehlungen individuell auf mich abstimmen. Er erinnert mich beispielsweise daran, mich zu bewegen, und schlägt mir gleich eine Aktivität vor, die ich mag und die in meinen Tagesablauf passt. Das erhöht die Chance, dass ich es wirklich tue.
Wenn ich einen personalisierten digitalen Zwilling möchte, also dieses Abbild meiner Selbst, muss ich mich dann ständig vermessen?
Ja, je mehr Daten wir liefern und je konstanter wir dies tun, umso besser werden die Vorhersagen. Viele dieser Daten messen wir ja schon heute.
Zum Beispiel?
Krankenakten enthalten unsere medizinischen Daten. Gewisse Veranlagungen kennen wir aufgrund der Krankengeschichte unserer Eltern. Viele Menschen tragen eine Smartwatch oder haben zumindest ein Smartphone. Damit tracken sie ihren Schlaf oder ihr Bewegungsmuster. Es ist also einiges an Daten vorhanden. In einem digitalen Zwilling würde alles zusammenfliessen zu einer ganzheitlichen Betrachtung.
Wie sieht es mit dem Schutz dieser Daten aus?
Der Datenschutz ist ein riesiges und zentrales Thema. Es muss zwingend einen sicheren Ort geben, um diese Daten aufzubewahren, und es braucht klare Regeln, wer wann darauf zugreifen darf.
Wer sollte die Hoheit über diese Daten haben?
Unsere Empfehlungen aus der Digital Society Initiative sagen: meine Daten gehören mir. Jeder und jede sollte selbst entscheiden, mit wem man die eigenen Daten teilen will. Und dann muss der Staat Strukturen und Sicherheitskonzepte erstellen, die es ermöglichen, diese Daten sicher aufzubewahren.
Was ist mit den Krankenkassen? Sie werden Interesse an solchen Daten haben, gerade in Bezug auf Prävention und Risikoabwägung.
Das ist anzunehmen. Wichtig ist, dass hier eine Freiwilligkeit besteht. Es wird immer Menschen geben, die einen digitalen Zwilling ablehnen oder ihre Daten nicht teilen möchten. Das ist in Ordnung. Ein Ansatz wäre, dass ein digitaler Zwilling eine Krankenkassenprämie positiv beeinflusst, aber kein Zwang ist, ähnlich wie heute die Hausarzt- oder telemedizinischen Beratungsmodelle.
"Da stellt sich die Frage: Wie viel will ich über mich und meine Gesundheit wissen?"
Können digitale Zwillinge zu einer Zweiklassenmedizin führen? Sprich: Wird man irgendwann einen digitalen Zwilling haben müssen, wenn man die optimale medizinische Behandlung möchte?
Irgendwie schon, denn der digitale Zwilling wird eine bessere Behandlung ermöglichen. Wir müssen künftig aber eine Medizin anbieten können, die mit und ohne solche Zwillinge funktioniert. Wie man das umsetzt, ist eine grosse Frage. Klar ist, dass die Ärzt:innen künftig technikaffiner sein müssen.
Welche Schwierigkeiten sehen Sie beim Einsatz von digitalen Zwillingen?
Es gibt verschiedene Punkte. Beispielsweise der internationale Datenaustausch. Wenn ich im Ausland einen Unfall habe, können die dortigen Ärzt:innen dann auf meine Daten zugreifen und wenn ja, unter welchen Vorbehalten? Vor allem, wenn ich mich in einem Land aufhalte, mit dem wir keine entsprechenden Abkommen haben. Die grösste Herausforderung besteht für mich aber im Umgang mit den neu gewonnenen Informationen.
Inwiefern?
Wir werden die Möglichkeit haben, deutlich mehr über unsere Gesundheit, aber eben auch über unsere Risiken zu erfahren. Da stellt sich die Frage: Wie viel will ich über mich und meine Gesundheit wissen? Will ich ständig über mein Krebsrisiko informiert sein und wer vermittelt mir diese Informationen psychologisch geschickt?
Würden Sie über Ihr Krebsrisiko Bescheid wissen wollen?
Ich möchte nicht alles wissen, denn dieses Wissen ist mit Erwartungen verbunden. Negative Erwartungen können zu einem Nocebo-Effekt führen. Das heisst, der ständige Gedanke an mein Risiko oder eine potenzielle Krankheit kann dafür sorgen, dass ich mich schlechter fühle oder bestimmte Symptome eher bekomme. Es wird wichtig sein, eine Balance zu finden zwischen Wissen und Unwissen.
Wie schaffen wir das?
Wir müssen uns mit Digitalisierung und KI vertieft auseinandersetzen und uns weiterbilden. Nur so können wir informierte Entscheidungen treffen. Darüber, wann wir KI einsetzen wollen oder wie ihre Prognosen zu bewerten sind.
Aber können wir als Laien das überhaupt leisten? Die Thematik ist ja wahnsinnig komplex.
Ich kann mir vorstellen, dass es in Zukunft eine Art Gesundheitscoaches geben wird, die als Übersetzer:innen zwischen der KI und den Nutzer:innen wirken und uns so bei Entscheidungen unterstützen.
"Vermutlich wird es in den nächsten zehn Jahren die ersten Standardmodelle für Forschungszwecke geben"
Wann werden die ersten digitalen Zwillinge im Einsatz sein?
Es gibt heute schon digitale Zwillinge als Forschungsmodelle vom Herz, von der Lunge oder von der Wirbelsäule. Allerdings arbeiten sie isoliert. Aktuell entwickelt sich alles rasend schnell. Vermutlich wird es in den nächsten zehn Jahren die ersten Standardmodelle für Forschungszwecke geben. Bis sie aber in der Normalversorgung zum Einsatz kommen, schätze ich, dauert es wohl eher 15 Jahre.
Warum so lange?
Die Technologie ist sehr komplex und es gibt vieles, was wir über den Menschen noch nicht wissen. Genauso wichtig sind zudem der regulatorische Rahmen und gesetzliche Grundlagen bei medizinischen Produkten. Diese Mühlen mahlen langsam.
Claudia Witt ist Professorin am Lehrstuhl für komplementäre und integrative Medizin und Direktorin Digital Society Initiative an der Universität Zürich.