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Kopfsprung in den Rollstuhl: Vom Partygirl zur Querschnittgelähmten

Stil

Kopfsprung in den Rollstuhl: Vom Partygirl zur Querschnittgelähmten

  • Text: Yvonne EisenringFotos: Vera Hartmann

Sie war auf Diplomreise, sie war in Partylaune, sie sprang kopfvoran in den Hotelpool – an der falschen Stelle. Seither ist Chantra querschnittgelähmt.

Es geschah im Sommer 2010. Chantra war in Kroatien. Auf Diplomreise. Berufsmatur im Sack und jeden Tag feiern. Seich machen. «In der dritten Nacht sprang ich, wie auch die Nächte davor, in den Pool. Es gab einen lauten Knall. Ich dachte, Scheisse, ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich bekomme keine Luft. Was ist, wenn mich niemand bemerkt, Scheisse, ich muss einatmen.» Dann wurde sie ohnmächtig. Sie hatte einen Köpfler gemacht – an einer Stelle, wo der Pool nur knietief war.

Ihre Schulkollegen fischten sie aus dem Wasser, riefen im nächsten Spital an. Die wollten keinen Krankenwagen schicken. Also fuhren die Kollegen selbst. Drei Stunden. Chantra auf dem Rücksitz. Im eigenen Auto. Im Spital haben sie sie geröntgt. Gesehen, dass zwei Wirbel kaputt sind. Man überführte sie nach Zagreb. Acht Stunden im Krankenwagen. Chantra konnte kaum noch atmen. Dort wurde sie notoperiert. Die Rega kam. Flog sie nach Nottwil.

Chantra (27) spricht viel. Flucht viel. Will einen Mojito. «Zur Feier des Tages.» Auswärts essen gehe sie schliesslich nur noch selten. Kaum ein Zürcher Restaurant ist rollstuhlgängig. Hat ein Behinderten-WC. Und sie trinke sonst fast keinen Alkohol mehr. Spüre ihn kaum noch, so im Sitzen. Erst später zuhause: wenn sie vom Rollstuhl aufs Bett will. «Wenn ich betrunken bin, kann ich mich noch viel weniger bewegen. Bin wie Pudding.»

Chantra hat eine inkomplette Tetraplegie. Die rechte Körperhälfte ist vollständig gelähmt. Die linke: etwa zu dreissig Prozent funktionsfähig. Wenn sie erzählt, hat man manchmal das Gefühl, sie will testen, wie viel ihr Gegenüber erträgt, so detailliert sind ihre Schilderungen. Tabuthemen gibt es für sie keine. Bei unserem ersten Treffen erklärt sie zum Beispiel ausführlich, weshalb sie eine halbe Stunde zu spät ist. «Ich will eben keinen Urinbeutel. Darum muss ich regelmässig mit einem Katheter die Blase entleeren. Dauert jedes Mal zwanzig Minuten. Ist schampar mühsam. Aber immer so einen beschissenen Sack am Körper? Nein, danke.»

Im Schweizer Paraplegikerzentrum in Nottwil lag die damals 25-Jährige drei Wochen im künstlichen Koma, hing an Maschinen, bekam einen Luftröhrenschnitt. Nachdem sie aus dem Koma geholt wurde, blieb sie weitere neun Monate in Nottwil. Eine harte Zeit. «Einige, die jahrelang mit mir befreundet waren, sind mich in der Klinik kein einziges Mal besuchen kommen. Die sind für mich abgeschrieben. Ein paar von ihnen haben jetzt ein schlechtes Gewissen, aber ich kann ihnen nicht verzeihen.» Doch sie hat auch gute Erfahrungen gemacht. Mit Kollegen, von denen sie nie erwartet hätte, dass sie sich so intensiv um sie kümmern würden. Und sie fand neue Freunde. Ihre Zimmernachbarin in der Reha-Klinik zum Beispiel, eine 18-Jährige, die seit einem Bike-Unfall gelähmt ist, oder Samuel Koch, der durch seinen Unfall bei «Wetten, dass …?» nach Nottwil kam. Der habe nicht so Glück wie sie, könne sich immer noch kaum bewegen.

«Ich habe verbissen trainiert. Jeden Tag mehrere Stunden. Wenn ich keine Fortschritte machte, war ich frustriert.» Doch vieles wurde besser. Immer mehr konnte sie selbstständig machen. Als sie ihre Zähne noch nicht eigenhändig putzen konnte, war sie jedes Mal genervt, wenn ihr die Pflegerinnen halfen. «Die trafen die Zähne nie richtig.» Sie wollte es selbst machen, besser machen. Der erste Versuch misslang. «Ich machte mit den Zähnen die Tube auf. Drückte die Paste raus. Schob die elektrische Zahnbürste über die Lavabokante, um sie zu starten. Als die Vibration begann, ist die ganze Zahnpasta durch den Raum gespritzt.» Seither drückt sie die Zahnpasta direkt in den Mund.

Beim Schminken wollte sie sich auch nicht helfen lassen. «Wenn die Pflegerinnen mein Make-up gemacht haben, sah es einfach scheisse aus.» Sie hat geübt und geübt. Heute kann Chantra dank ihrer linken 30-Prozent-Hand die Wimpern wieder selbst tuschen. Ihr Aussehen ist ihr wichtig. Der Ex-Freund hat das nicht verstanden. «Warum schminkst du dich überhaupt noch?», habe er gefragt. Im Frühling 2010, drei Monate vor dem Unfall, hatten sie sich kennen gelernt. Sie 25, er 32 Jahre alt. Beide schwer verliebt. Nach dem Sturz hat er sie eine Zeit lang fast täglich in Nottwil besucht. Zwei Stunden mit dem Zug hin, zwei zurück. Irgendwann habe er nicht mehr gewusst, ob er sie noch liebe oder nur funktioniere. Er habe sie andauernd kritisiert. Sie versteht, dass es krass für ihn war. «Aber wenn ich zum Beispiel meine Jacke anziehen wollte, selbstständig, dann hat er gemotzt, weil es so lange gedauert hat. Ich solle mir gefälligst helfen lassen. Er hat nicht kapiert, dass das wichtig war für mich.» Und einmal – das vergesse sie nie – seien sie zusammen vor dem Fernseher gesessen, und er habe gesagt: «Ich habe mich in eine Powerfrau verliebt, nicht in einen Pflegefall.»

«Im Ausgang werde ich immer noch häufig angesprochen. Fast öfter als vorher. Jetzt trauen sich die Männer wahrscheinlich eher»

Sie will aber nicht nur schlecht über ihn reden. Sie ist auch dankbar, dass sie ihn hatte. Dass er ihre Beziehung nicht sofort aufgab. Wegen ihm wisse sie, dass sie noch Sex haben kann. Das erste Mal nach dem Unfall – sie gingen dafür ins Hotel neben dem Paraplegikerzentrum – war zwar speziell. «Aber ich war so, so glücklich, dass es noch geht.» Natürlich sei sie nun eher passiv im Bett, doch sie spüre immer noch etwas. Innerlich beinahe mehr als auf der Hautoberfläche. Sie kann auch noch schwanger werden. «Wie der Alltag mit Kindern dann funktioniert, so mit nur einer halb funktionsfähigen Körperhälfte, ja Scheisse, das weiss ich auch noch nicht. Aber das wird schon gehen.»

Seit jener gescheiterten Beziehung ist sie Single. An Angeboten mangelt es nicht. Chantras offene, direkte Art kommt gut an. «Im Ausgang werde ich immer noch häufig angesprochen. Fast öfter als vorher. Jetzt trauen sich die Männer wahrscheinlich eher.» Oft gehe sie aber nicht mehr weg. «Wenn ich nicht viele Leute kenne, fühle ich mich unwohl. Ich werde oft komisch angeschaut mit dem Rollstuhl.» Früher wollte sie immer tanzen gehen, fuhr Velo, machte Aerobic, ging mehrmals pro Woche schwimmen. Auch das geht heute nicht mehr. «Im Schwimmbecken verkrampfe ich mich total. Werde zum Spasti. Mein Körper macht dann, was er will.»

Aber sie will nicht klagen. Für einen Tetra könne sie sehr viel bewegen, sehr viel allein machen. Wie wenig dieses viel ist, weiss sie genau. Weiss auch ich. Ich, die genauso gut in dem Stuhl mit Rädern sitzen könnte. Wir sind gleich alt. Was ihr passiert ist, hätte mir, hätte jedem in diesem Alter passieren können. Badeunfälle sind gemäss dem Paraplegikerzentrum Nottwil eine häufige Ursache für Querschnittlähmungen. In der Schweiz wird zwar keine genaue Statistik geführt, aber in Deutschland werden allein im Unfallkrankenhaus Berlin jeden Sommer rund zehn junge Frauen und Männer behandelt, die sich wegen eines Sprungs ins Wasser schwer verletzt haben.

Vor dem Essen will sie noch rasch «eis räukle». Als wir zurückkommen, stehen die vollen Teller auf dem Tisch. «Egal. Dass etwas kalt wird, ist Alltag», sagt sie und lässt das Rindssteak von mir in Stücke schneiden. Dass sie Hilfe annimmt, ist eine Ausnahme. Macht sie nur, wenn es bei ihr allzu blöd aussehen würde. So in der Öffentlichkeit.

Manchmal geht es aber schlicht nicht ohne fremde Hilfe. «Ich falle immer wieder aus dem Rollstuhl.» Wenn sie zu schnell über einen Randstein fährt oder abrupt bremst. «Kürzlich wollte ich über die Strasse. Lehnte nach vorne, um nach meinen Rädern zu greifen. Ohne etwas zu sagen, hat ein Mann im gleichen Moment die Griffe meines Rollstuhls gepackt. Da bin ich rausgekippt.» Das sei schon krass, so hilflos am Boden zu liegen.

Der Mann, der sie über die Strasse schieben wollte, habe sie danach beschimpft. «Was ich mir dabei denke, einfach so allein unterwegs zu sein.» Schon vier- oder fünfmal sei sie von Fremden angeschnauzt worden. «Diese Leute sagen, ich sei eine Heuchlerin. Ein Scheisskrüppel. Ich zöge ihnen das Geld aus der Tasche. Das Schlimmste ist, wenn niemand reagiert. Einmal im Tram haben einige sogar ihren Platz gewechselt, damit sie nicht hinhören mussten.» Doch das sei die Ausnahme. Meist seien die Leute hilfsbereit und nett.

Fast zu nett. Die junge Kellnerin im Lokal, in dem wir uns für das Rindssteak – Chantras Lieblingsessen – treffen, ist komplett überfordert mit der Situation. Alle fünf Minuten kommt sie an unseren Tisch. Ob wir schon wüssten, was wir bestellen wollen, ob alles recht sei. Chantra bleibt gelassen. Sie ist sich nichts anderes gewohnt. «Aber am Anfang hat mich das Getue genervt. Ich war ja selbst überfordert mit der Situation!»
Von Überforderung merkt man nichts mehr. Obwohl Chantra seit erst zwei Jahren «ein Tetra» ist, wirkt sie sicher. Ihre Bewegungen sind fliessend. Hie und da vergesse ich gar, dass sie keine «normale» Gleichaltrige ist. Dann wird es mir wieder schlagartig bewusst, wenn sie auf die Toilette verschwindet und nach 15 Minuten immer noch nicht zurück ist. Ob ich kurz schauen gehen soll, ob alles in Ordnung ist? Nach 25 Minuten ist sie – Gott sei Dank – zurück und sagt: «Gäll, ich war schnell?»

Aktuell ihr grösster Wunsch: einen Job finden. Aber das ist fast unmöglich. Auch finanziell lohnt es sich kaum. Würde sie Geld verdienen, bekäme sie weniger IV-Rente. Egal. «Hauptsache, ich kann irgendwas machen. Ohne richtige Aufgabe drehe ich noch durch.» Sie würde auch unentgeltlich arbeiten. Die Krankenkasse bezahlt die Therapien – sie geht dreimal pro Woche in die Balgrist-Klinik –, das Sozialamt die Wohnung und 200 Franken Sackgeld pro Monat. Die braucht sie für Taxifahrten, Pflegeprodukte, Essen und den sauren Most, den sie oft in ihrer Stammbeiz beim Bahnhof Tiefenbrunnen trinkt.

Chantra wohnt an bester Lage im Zürcher Seefeld. Und hasst es. Nicht das Quartier, aber dass sie keine eigenen vier Wände hat. Dass alles beobachtet, kontrolliert wird, was sie macht. Eine eigene Wohnung. Das will sie. Ein wenig Normalität zurück. Ihr Zuhause ist ein Zimmer in einer Wohnung für Behinderte. Es ist aufgeräumt. Ausgestattet mit einem grossen Flachbildschirm, einer Kaffeemaschine und einer Büroecke mit Computer. Über ihrem Bett hängt ein riesiges Bild. Eine Darstellung des Abendmahls von Nicolas Poussin. Religiös sei sie aber nicht. Nein, überhaupt nicht. Ihre Mutter – eine Thailänderin – ist strenge Buddhistin.

«Die sagt, ich sei selbst schuld, dass ich nicht gesund werde. Ich müsse halt die buddhistischen Götter anbeten. Wenn sie solchen Stuss rauslässt, tut das schon sehr weh». Ihr Vater sitzt auch im Rollstuhl. Multiple Sklerose. Seit sie gelähmt ist, kann sie ihn besser motivieren. Sie gibt ihm neuen Lebensmut. «Wir sind nun Verbündete.» Ihre Eltern leben getrennt. Schon als 16-Jährige zog Chantra zuhause aus. Sie hat nach der Sek eine Lehre als Köchin gemacht, dann die Berufsmatur. Nach der Diplomreise wollte sie mit einer Ausbildung zur Kochlehrerin beginnen.
 

«Wenn ich mich nackt im Spiegel sehe, bin ich traurig. Denke, Scheisse, das bin ich»

Kochen ist immer noch ihr liebstes Hobby. Essen darf sie aber nicht mehr ausgiebig. Nach dem Unfall habe sie – wie es vielen Tetras passiere – zehn Kilo zugenommen. Ihr Gewicht ist wieder gesunken. Sie hat zierliche Arme, dünne Beine und wegen der fehlenden Muskulatur einen – wie sie es nennt – Ballonbauch. «Wenn ich mich nackt im Spiegel sehe, bin ich traurig. Denke, Scheisse, das bin ich.» Aber Sport ist kaum möglich. «Für uns Tetras gibts nur Rugby.» Mit dem Ball auf dem Schoss versuchen die Rollstuhlfahrer, über die Torlinie zu kommen. «Aber das ist doch nicht lustig. Die knallen immer ineinander rein. Mir täte das weh. Aber denen ist das egal. Die spüren ja nichts mehr.» Chantra kann noch Schmerz empfinden. Ihre Empfindungen sind einfach anders. Ausser dem Kopf und den Unterarmen ist praktisch alles taub.

«Wie eingeschlafen.» Kann sich das wieder ändern? Nein, «normal» werde sie nie mehr. Einige Nerven sind komplett gerissen, die können nicht mehr zusammenwachsen. Chantra trinkt den Mojito, isst das Rindssteak und sogar die ganze Portion Pommes frites. Als wolle sie vermitteln, dass alles halb so tragisch ist, reisst sie Witze und macht derbe Sprüche.

Plötzlich stösst sie sich mit dem Rollstuhl vom Tisch ab. Kippt nach vorne. Röchelt und keucht. Ich will aufspringen. Ihr helfen. Doch das will sie ja nicht. «Gehts? Chantra, gehts?» Ohne mich anzusehen, streckt sie den Daumen hoch. Alles okay. Nach drei Minuten sitzt sie wieder am Tisch. Sie habe husten müssen. Aber husten könne sie nicht mehr. «Bauchmuskeln fehlen bei uns Tetras komplett.» Sie muss darum vornüberkippen und mit den Armen den Bauch reindrücken. Chantra hat Tränen in den Augen. Vermutlich vom Hustversuch. Sie sagt: «Schon verrückt, was alles nicht mehr richtig funktioniert.»

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1.

Chantra ist mit 16 Jahren von zu Hause ausgezogen. Heute lebt sie in einer betreuten Wohnung. Sie hasst das

2.

Chantras offene, direkte Art kommt gut an. Aber oft geht sie nicht mehr unter die Leute