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Die verflixten Vierziger

Stil

Die verflixten Vierziger

  • Interview: Helene AecherliIllustration: Pietari Posti

Zwischen 40 und 50 erlebt eine Frau die schlimmsten Jahre in ihrem Leben, hört man immer wieder. Stimmt nicht, sagt die Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello. Die Zeit sei zwar alles andere als einfach. Dennoch: Nie waren Frauen in diesem Alter so jung, fit und gebildet wie heute. Entsprechend beflügelnd kann diese Dekade werden.

annabelle: Pasqualina Perrig-Chiello, Frauen mit 40 gelten als die neuen 30-Jährigen, jene mit 50 als die neuen 40-Jährigen. Sind Frauen heute wirklich jünger?
Pasqualina Perrig-Chiello: Wir reden tatsächlich von einer Verjüngung des Alters. Schauen Sie sich Fotos aus der Zeit um 1960 an: Damals waren Frauen dieser Altersgruppe alt, oft ausgemergelt von vielen Geburten und harter körperlicher Arbeit. Heute leben Frauen länger, sind gesünder und besser ausgebildet. Sie haben sich von starren Rollenmustern befreit, sind finanziell unabhängiger, was ihnen mehr Möglichkeiten eröffnet. Heute ist es normal, dass eine 50-jährige Frau super aussieht, fit und gut gekleidet ist.

Trotzdem verändert sich etwas in diesem Alter: Man muss plötzlich die Brille ablegen, um lesen zu können, graue Haare werden sichtbar, die Fruchtbarkeit versiegt.

Ab 40 verändert sich – auch bei Männern – der Hormonhaushalt, und damit auch das Aussehen. Das Östrogen geht zurück, bei Männern ist es das Testosteron. Die Knochendichte nimmt ab, die Haut ist weniger gut durchfeuchtet, die Periode wird unregelmässig. Man ist zwar noch nicht alt, aber doch gezwungen, Abschied zu nehmen von der jungen Frau, die man einst war, und die noch alle Möglichkeiten vor sich hatte.

Das klingt traurig.

Kommt drauf an: Frauen und Männer, die sich vorwiegend über ihre Geschlechterrolle und Äusserlichkeiten definieren, haben Mühe mit diesem Abschied. Natürlich ist das Äussere wichtig, aber es gilt, sich nicht nur als Frau, die gefällt, zu sehen. Sondern als Frau, die auch kompetent ist und dies und jenes kann. Diese vielfältigen Rollen helfen über den Abschied hinweg, und gerade sie sollen in der neuen Lebensphase besonders herausgearbeitet werden. Nicht umsonst wird in der Psychologie diese Phase gern auch als dritter Gestaltwandel bezeichnet.


Dritter Gestaltwandel?
Nach Kindheit und Pubertät markieren die Wechseljahre den dritten einschneidenden biografischen Übergang, in dem neben verschiedenen sozialen Rollen die körperliche Identität neu definiert wird. Es ist eine Umbruchzeit, ähnlich wie die Pubertät. Im Gegensatz zu dieser ist die Phase zwischen 40 und 50 aber noch ein junger Forschungszweig und wissenschaftlich erst ansatzweise erforscht.

Warum?

Weil es noch bis vor hundert Jahren das mittlere Lebensalter als eigene Lebensphase gar nicht gab. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei Mitte 40. Erst mit der stark gestiegenen Lebenserwartung erlangte das mittlere Lebensalter besondere Bedeutung. Während aber die Zielvorstellungen, Bedürfnisse und Ressourcen von jungen und alten Menschen ausgiebig untersucht wurden, war von den 40-, 50- und 60-Jährigen – ausser der Menopause der Frau – wenig bekannt. Sie waren uninteressant, weil, so die Annahme, in dieser Lebensphase nicht viel passiert, der Mensch sein Leben aufgegleist hat und in seinem Räderwerk funktioniert. Erst unter dem Druck der Babyboomer – der ersten Generation, die Fragen und Forderungen gestellt hat – haben die Sozialwissenschaften und Medien angefangen, Wünsche und Lebensstile von Menschen im mittleren Lebensalter zu identifizieren.

Wer sind sie denn, die Frauen zwischen 40 und 50?

Die meisten befinden sich in einer Partnerschaft und haben Kinder, die am Ausziehen sind. Das Durchschnittsalter von Frauen, die zum ersten Mal Grossmutter werden, liegt heute bei 51.5 Jahren. Anderseits war die Gruppe der 40- bis 50-Jährigen noch nie so heterogen wie heute. Viele steigen aus dem Berufsleben aus, andere steigen wieder ein; die einen werden Grossmutter, die anderen zum ersten Mal Mutter; die einen lassen sich nach zwanzig Ehejahren scheiden, andere heiraten zum dritten Mal oder haben einen jüngeren Liebhaber. Zudem beginnt in dieser Phase die Auseinandersetzung mit dem Älterwerden und der zunehmenden Hilfsbedürftigkeit der Eltern. Viele Frauen befinden sich in einer Sandwichposition zwischen Kinder- und Elternbetreuung.

Diese Dekade ist also eine Lebensphase, in der die Karten fast zwangsweise neu gemischt werden?
Irgendwie schon. Ich bezeichne sie auch gern als Phase der Bilanzierung. Es beginnt eine neue Zeitrechnung: partnerschaftlich und beruflich steht uns nicht mehr die ganze Palette zur Verfügung, die Jüngeren rücken nach, und das Leben dauert nicht mehr unendlich lang. Unter der veränderten Perspektive fragen sich viele: Ist es das nun gewesen?

… und vergleichen sich mit anderen: Die ist mit 45 Chirurgin oder Bundesrätin, die hat drei Bücher geschrieben und nebenbei noch vier Kinder grossgezogen …

… und denken dabei: Eigentlich sollte mein Leben jetzt auch so richtig beginnen. Stattdessen ist es halbwegs gelaufen.Eigentlich grausam …
Aber es ist die Realität. Doch statt sich bei der Bilanzierung des eigenen Lebens mit andern zu vergleichen, was ohnehin nie aufgeht, sollte man sich auf die eigenen Ressourcen besinnen und sich fragen: Was steckt in mir? Was hatte ich als Mädchen für Lebensträume? Was habe ich alles vergraben? Eigentlich wollte ich Sängerin werden, zum Theater gehen oder Ärztin werden. Wir Frauen kehren früh im Leben vieles unter den Teppich, weil wir Aufbauarbeit machen wollen und schnell bereit sind, der Partnerschaft, den Kindern und Eltern zuliebe Kompromisse einzugehen. Meine Forschungsarbeiten zeigen: Je mehr jemand den Kindheitstraum verdrängt hat, desto stärker kommt dieser zurück. Die Phase zwischen 40 und 50 eignet sich ausgezeichnet dafür, die Chance zu nutzen und aus dem zum Teil selber auferlegten Korsett auszubrechen.

Man entdeckt die alten Träume wieder?
Ja. Sie zeigen sich aber nicht immer direkt, sondern über Umwege: manchmal über einen Bandscheibenvorfall, eine schwere Grippe, eine Amour fou oder eine Ehekrise. Es sind meist äussere Anlässe, die das Fass zum Überlaufen bringen. Eine meiner Klientinnen ist eine Hausfrau, die wegen ihres Mannes den Beruf aufgegeben hat. Sie kam zu mir in die Beratung, weil sie spürte, dass sie krank würde, wenn sie in ihrem Leben nichts ändert. Sie hat ihren Mann schliesslich vor die Alternative gestellt: «Entweder du willigst in meine Berufsausbildung ein, oder ich trenne mich von dir.» Sie hat dann mit 50 Jahren ihren lang gehegten Traum umgesetzt, ist Floristin geworden und gehört heute zu den begehrtesten Floristinnen des Landes. Übrigens: Sie und ihr Mann sind immer noch zusammen.

Das mittlere Lebensalter kann ein Sprungbrett sein?

Ja, es ist die Phase der noch guten Chancen. Mit 40 arbeitet man noch 25 Jahre, ist voll im Saft – gerade noch der richtige Zeitpunkt, sich beruflich und partnerschaftlich neu auszurichten. Es gibt nicht mehr Chancen als früher, aber es gibt sie.

Zu wissen, dass es die Phase der noch guten Chancen ist, kann auch Druck erzeugen und lähmend wirken.
Das Bewusstwerden der ablaufenden Zeit und der körperlichen und psychischen Veränderungen erzeugt bei vielen Druck. Die besten Karten für die Neuausrichtung haben Frauen, die offen für Veränderungen sind, und nicht jene, die stets gewissenhaft und ängstlich Kompromisse gemacht haben. Die erleben diese Zeit eher als Krise. Dann reagieren alle erstaunt: Was, die? Die war doch immer so nett und unauffällig.

Studien zeigen, dass Menschen in der Lebensmitte am stärksten unter Depressionen leiden. Liegt das an den biografischen Umbrüchen?
Ja, unter anderem. Oft besteht eine riesige Diskrepanz zwischen äusserem und innerem Leben. Denn wie gesagt, fällt die Veränderung der Zeitperspektive ausgerechnet in eine Phase, in der wir stark beansprucht sind: Die meisten von uns haben dann die grösste Verantwortung für Kinder, Eltern und Ehepartner, sind beruflich und gesellschaftlich auf dem Zenit und zeitlich chronisch überlastet. Das halten viele nicht aus.Zeit wird zum neuen Luxusgut?
Das ist so. Ich wünsche mir daher eine Entstressung der mittleren Lebensphase: Die klassische Dreiteilung der Biografie in Ausbildung, Beruf und Ruhestand soll nicht mehr nur sukzessiv, sondern parallel geschehen. Auch plädiere ich für Auszeiten, für Weiterbildungsmöglichkeiten während eines unbezahlten Urlaubs und für Gutschriften, wenn jemand sein Arbeitspensum reduziert, um die betagten Eltern zu pflegen.

Wie findet man aus der Midlife Crisis wieder heraus?

Zur Beruhigung: Es haben nicht alle Menschen zwischen 40 und 50 Depressionen. Und: Die meisten wachsen an den Veränderungen. Denn Veränderungen geschehen, ob wir wollen oder nicht. Ein chinesisches Sprichwort lautet: «Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen.» Das heisst, wer Windmühlen baut, kann mit der Energie der Veränderung auch etwas Neues machen.

Eine Herkulesaufgabe.
Natürlich. Ohne Anstrengung geht leider selten was. Wichtig sind dabei vor allem zwei Dinge. Erstens: Die Probleme beim Namen nennen, aussprechen, dass ich unter meiner Scheidung leide, dass es mich stört, dass ich Falten habe, meine Periode nicht mehr kommt, mich die Männer nicht mehr ansehen. Das Benennen nimmt viel vom Schrecken, und wenn die Probleme objektiviert sind, kann man sie besser angehen. Das Zweite ist, sich zu fragen: Wo sehe ich mich in den nächsten fünf bis zehn Jahren? Wie komme ich dahin? Perspektiven und neue Lebensentwürfe gehören zum Motor eines Menschen. Selbst 90-Jährige haben Ziele, auf die sie hinleben können.

Inwiefern beeinflusst die Art und Weise, wie ich mein Leben zwischen 40 und 50 gestalte, mein späteres Alter?

Die Forschung zeigt, dass diese Phase einen grossen Einfluss auf das Leben im Alter hat. Der Lebensstil der 40- bis 50-Jährigen und somit auch Essgewohnheiten und Gewicht bestimmen ihre spätere Befindlichkeit. Wenn Sie sich mit 45 Jahren vernünftig ernähren, werden Sie es wahrscheinlich auch 20 Jahre später noch tun. Wenn Sie mit 48 chronisch unzufrieden sind, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass Sie es auch mit 70 sind. Am Lebensstil lässt sich nur sehr schwer rütteln. Doch es ist schwieriger, mit 60 festgefahrene Muster zu durchbrechen, als mit 40. Daher gilt es zu handeln und die Dinge nicht mehr hinauszuzögern. Sagen Sie sich: Why wait? – wieso länger warten?

Wie reagiert die Gesellschaft auf die heutige Generation der 40- bis 50-jährigen Frauen?
Sie erkennt langsam, dass diese Frauen eine unglaubliche Machtposition haben, dass sie weit gehend entscheiden, was Kinder, Partner und sogar die ältere Generation beziehungsweise die Eltern konsumieren. Die 40- bis 50-jährigen Frauen sind denn auch die Hauptzielgruppe für die Kosmetik-, Mode- und Wellnessindustrie, vermehrt auch für die Auto- und Tourismusbranche. Und sie werden für die Kirchen interessant, die sich wegen des Mitgliederschwunds sehr um diese neue Klientel bemühen.Wie ist es mit den Männern? Ein 45-jähriger Mann wirkt noch immer jünger als eine 45-jährige Frau, oder?
Männer haben es in dem Sinn einfacher, als dass sie nicht nach ihrem Äusseren, sondern nach ihrer Funktion beurteilt werden. Aber ich stelle fest, dass Männer ab 50 genauso an den hormonellen Veränderungen, der Andropause, leiden wie Frauen an den Wechseljahren. Der Testosteronspiegel sinkt zwar langsamer als der Östrogenspiegel der Frauen. Aber er sinkt. Männer spüren, dass ihre Kräfte weniger werden. Umgekehrt sind sie sich auch des gesellschaftlichen Drucks bewusst, wenn sie mal nicht mehr mögen. Da heisst es schnell: Du bist nichts mehr wert. Zudem drücken sich Männer eher vor der Auseinandersetzung mit sich selbst und tauschen sich kaum aus. Daher macht sich die Midlife Crisis bei Männern nicht selten viel radikaler bemerkbar als bei Frauen: Sie gehen ins Kloster, rennen auf den Kilimandscharo oder brennen mit einer 25-Jährigen durch.

Wie reagieren denn Männer auf die veränderten 40- bis 50-jährigen Frauen?
Es spricht vieles dafür, dass ihnen die Autonomie der Frauen zu schaffen macht. Scheidungen nach einer langjährigen Ehe nehmen zu, die Initiative geht zunehmend von Frauen aus. Aber: Frauen ab 50 leben öfter allein, Männer hingegen bleiben nicht lange Single. Sie sind viel partnerbezogener als Frauen. Auch sind sie als allein Stehende, etwa als Witwer, sozial weniger gut abgestützt. Dies ist mit ein Grund, warum die Suizidrate bei Männern ab 70 sprunghaft ansteigt.

Zurzeit sind Cougars in aller Munde, Frauen wie Madonna oder Demi Moore, die einen viel jüngeren Partner haben. Ist dies der definitive Beweis für den jugendlichen Status der Frau über 40?

Schön wärs. Aber tolle reife Frauen mit einem jüngeren Mann gab es schon immer. In den literarischen Salons des 18. Jahrhunderts etwa hatten die Damen oft ihren jungen Geliebten dabei. Eine der Bekanntesten war die Salonnière Ninon de l’Enclos. Sie war hoch gebildet und stets von blutjungen, aristokratischen Liebhabern umgeben. Die heutigen Damen sprechen nun einfach über die Beziehung mit ihren jungen Männern und leben sie offen aus.

Pasqualina Perrig-Chiello ist Honorarprofessorin an der Universität Bern. Die Entwicklungspsychologin mit Spezialgebiet zweite Lebenshälfte sowie Gesundheit und Wohlbefinden im Alter erforscht mit Professor François Höpflinger von der Uni Zürich pflegende Angehörige von älteren Menschen in der Schweiz (Swiss Age Care). Sie hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Mann in Basel.

Pasqualina Perrig-Chiello: In der Lebensmitte. Entdeckung des mittleren Lebensalters. Verlag NZZ Libro, 48 Franken

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Pasqualina Perrig-Chiello