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Der Beginenhof

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Der Beginenhof

  • Text: Isa HoffingerFotos: David Maupilé

Im Mittelalter lebten Frauen in Beginenhöfen zusammen, heute in modernen Häusern.

«Froh zu sein bedarf es wenig, werd Begine und bleib ledig!», singt eine. alle Kichern. Beginen lebten im Mittelalter in kloster- ähnlichen Gemeinschaften und bildeten damit eine frühe Form der Frauen-WG. Ein Besuch bei ihren Nachfolgerinnen.


Anneliese ist tot. Sie war eine Kämpferin, sagen die Leute. Eine, die nie aufgegeben hat. Ehrlich war sie und hilfsbereit. Anneliese wusste, dass sie sterben würde, als sie beschloss, Begine zu werden. Sie konnte nur nicht genau sagen, wann es so weit sein würde. Nur zehn Monate lang wohnte sie im Beginenhof in Unna. Dann siegte der Krebs.

Unna ist eine kleine, beschauliche Stadt im Ruhrgebiet. In den liebevoll sanierten Fachwerkhäuschen in der City gibt es nur wenige Restaurants und ein paar Boutiquen. Das Zuhause der Beginen ist ein hellgrau gestrichener Neubau mit drei Stockwerken, er liegt in der Nähe des Hauptbahnhofs, in einem ruhigen Wohngebiet. Vor dem Haus gibt es einen hübschen Garten mit Blumenbeeten und einem Sandkasten.

Der Beginenhof ist kein Hospiz. Er ist auch kein Pflegeheim, in dem Seniorinnen betreut werden, sondern ein ganz normales Mietshaus mit 19 Wohnungen. Die Appartements sind zwischen fünfzig und achtzig Quadratmeter gross und über Laubengänge miteinander verbunden. Alle haben einen Balkon oder eine Terrasse.

Das Besondere an diesem Haus ist, dass nur Frauen einziehen dürfen, die zwar in ihren eigenen vier Wänden wohnen wollen, aber trotzdem Anschluss an eine Gemeinschaft suchen. Alle Bewohnerinnen duzen sich. Sie feiern Geburtstage zusammen, leihen sich ihre Autos aus oder helfen sich beim Einkaufen, wenn eine von ihnen krank ist. Im Notfall darf jede bei der anderen klingeln.

Beginenhöfe sind generationenübergreifende Wohnprojekte. Sie liegen im Trend, denn es gibt immer mehr alleinstehende Frauen. Ledige Mütter wohnen hier zusammen mit verwitweten Damen. Behinderte oder Schwerkranke sind willkommen, müssen sich aber selbst professionelle Hilfe organisieren. «Wir achten sehr aufeinander, aber wir können niemanden medizinisch betreuen, jede Frau muss sich selbst versorgen können», sagt Sabine Schulze-Eyssing. Anneliese konnte das, trotz ihrer Krebserkrankung.

Sabine Schulze-Eyssing ist 46 Jahre alt. Sie war nie verheiratet. Eigentlich wollte sie Sport studieren, aber mit zwanzig Jahren hatte sie einen Schlaganfall, die Ärzte entdeckten einen Herzfehler. «Der Traum vom Sportstudium ist damals geplatzt», sagt sie, «ich musste umsatteln auf Betriebswirtschaft.» Fast zwanzig Jahre lang war sie selbstständig im Vertrieb tätig, machte Karriere. «Für einen Partner habe ich mir nie Zeit genommen. Ich habe das auch nicht bereut, aber irgendwann kam der Punkt, an dem ich nicht mehr alles allein machen wollte», sagt sie. Früher schaute sie abends oft Filme oder las. «Jetzt komme ich nach der Arbeit in ein volles Haus, in dem viele Frauen auf mich warten, die ich mag.»

Der Beginenhof in Unna wird mit Zuschüssen vom Staat gefördert, darum sind die Wohnungen günstig. Die Miete für den Gemeinschaftsraum im Parterre und eine Gemeinschaftsterrasse müssen die Frauen aber selbst erwirtschaften, deshalb organisieren sie Flohmärkte, auf denen sie Sachspenden verkaufen, Bücher oder Secondhandkleider zum Beispiel. Manchmal machen sie auch Konfitüre, bringen sie Nachbarn oder Bekannten und bekommen dafür ein paar Euro.

In den Räumen, die gemeinsam benutzt werden, treffen sich die Frauen, wenn sie Gesellschaft brauchen. Zum Zeichen, dass jemand da ist, wird ein gelb-braun gestreiftes Seidentuch ans Geländer im Innenhof geknotet. Jede kann es von ihrer Wohnung aus sehen. «Wer kommen will, der kommt, wer keine Lust hat, muss nicht dabei sein», erklärt Sabine.
Heute Morgen findet ein Sonntagsfrühstück statt. Jede Begine steuert etwas dazu bei: Milch, Käse, Wurst – was der Kühlschrank gerade hergibt. Sabine hat einer Frau vor dem Essen noch schnell geholfen, Rühreier zu braten. Sie heisst Marlies Goldschmidt-Tölle, ist Witwe und mit 80 Jahren die älteste Begine in Unna. Vor ein paar Wochen brach sich Marlies das Handgelenk. Jetzt kann sie den Kochlöffel nicht mehr halten und nicht putzen. Aber zum Glück ist Sabine da.

Am Frühstückstisch im Gemeinschaftszimmer ist die Stimmung ausgelassen, es wird gescherzt und gelacht. Auch Männerwitze machen die Runde. «Froh zu sein bedarf es wenig, werd Begine und bleib ledig!», singt eine. Alle kichern. «Es ist nicht so, dass wir frustrierte Zicken sind», sagt Sabine, «obwohl das manche Menschen denken, wenn sie hören, dass hier nur Frauen wohnen. Einige von uns finden es einfach angenehmer, ohne einen Mann zu leben. Andere waren bisher nur für ihre Familie da. Erst nachdem sie verlassen wurden, die Kinder aus dem Haus waren oder der Mann gestorben war, fingen sie an, an sich selbst zu denken.»

Verlieben dürfen sich die Beginen natürlich trotzdem. Männer können jederzeit zu Besuch kommen, der Freund von Marlies zum Beispiel ist oft da. Er heisst Werner, ist ein Jahr älter als sie und war früher Bergmann. Marlies und Werner sind seit sechs Jahren ein Paar, sie lernten sich bei einem Tanztee für Senioren kennen. In Werners Haus, in dem er und seine verstorbene Frau fast vierzig Jahre lang zusammen gewohnt und sechs Kinder grossgezogen hatten, wollte Marlies nicht einziehen. «Ich bin glücklich hier», sagt sie.

Seit einigen Jahren gibt es immer mehr Beginenhöfe und -projekte, auch in Österreich, Schweden, Italien und der Schweiz. Allein in Deutschland sind es schon über dreissig. Der Weg vom gegenseitigen Kennenlernen bis zum Einzug in ein fertiges Haus verläuft überall ähnlich: Am Anfang wird ein Verein gegründet, die Frauen treffen sich, beschnuppern sich und freunden sich an. Dann wählen sie einen Vorstand, der das Zepter in die Hand nimmt und die Stossrichtung vorgibt. Jede Gemeinschaft hat nämlich eine andere Philosophie. Es gibt spirituelle, christliche, feministische, künstlerische oder ganz pragmatische Beginengemeinschaften.

Die Idee vom gemeinschaftlichen Leben unter einem Dach ist alt. Beginen gab es bereits im 13. Jahrhundert. Damals konnten es sich nur reiche Frauen leisten, ins Kloster zu gehen. Es gab aber auch viele ärmere Ledige und Witwen, die nach christlichen Werten leben wollten. Sie schlossen sich zusammen und wählten eine Meisterin. Mit Hilfe von Stiftern errichteten sie Siedlungen aus Häusern, die sich um einen Hof gruppierten. Von diesen alten Beginenhöfen gehören heute 13 zum Weltkulturerbe, unter anderem die Gebäude in Gent und Brügge.

Alle Frauen legten ein Versprechen ab. Sie gelobten, füreinander zu sorgen und sozial Schwachen zu helfen. Jedes Jahr durften sie neu entscheiden, ob sie Begine bleiben oder lieber heiraten wollten. Ihren Lebensunterhalt verdienten die Frauen als Spinnerinnen, Lehrerinnen oder Gärtnerinnen. Ausserdem begleiteten sie Sterbende gegen ein kleines Entgelt. Um den Tod eines Menschen zu verkünden, zogen manche Beginen mit Trommeln durch die Strassen, deshalb nannte man sie auch Polternonnen.

Den Kirchenvätern waren die Frauen suspekt, weil sie sich nicht unterordnen wollten. Viele Beginen waren heilkundig. Sie nutzten die Kraft der Pflanzen, um Kranke zu behandeln. Einige wurden deshalb als Hexen verfolgt und landeten auf dem Scheiterhaufen.

Die Herkunft des Worts Begine ist ungeklärt. Ein paar Forscher glauben, der Name erinnere an die Heilige Begga. Andere Wissenschafter vermuten, dass der Begriff vom englischen to beg – bitten – abgeleitet sei. Diese Erklärung ist ziemlich einleuchtend, denn es gab früher auch Einzelbeginen, die übers Land zogen und vom Betteln lebten.
Reiche Beginen gibt es ausgerechnet in Berlin, einem der ärmsten Bundesländer Deutschlands. Im Beginenhof in Berlin-Kreuzberg leben nur wohlhabende Frauen. Das war keine Bedingung, es hat sich so ergeben. Die Appartements sind Eigentumswohnungen, den Kauf konnte sich nicht jede Frau leisten. Trotzdem war gerade in der deutschen Hauptstadt, wo rund 600 000 weibliche Singles leben, der Run auf die schicken Appartements besonders gross. Manche Frauen kamen sogar extra aus New York oder China angereist, um die Wohnungen im imposanten Gebäude mit der bunten Glasfassade zu besichtigen. Der Standard der Ausstattung ist höher als in Unna. Das Highlight ist eine riesige Terrasse im obersten Stock mit einem Traumblick ins Grüne. Rote Hängematten laden zum Verweilen ein.

Die Gründerin des Berliner Beginenwerks hat am Anfang mit allen Bewerberinnen gesprochen und dann entschieden, wer am besten ins Konzept passt. Doch leider ist das Zusammenleben zurzeit alles andere als harmonisch. Zwischen den Damen gibt es oft Zwist. Die eine will ihre Wäsche auf dem Balkon trocknen, die andere fühlt sich davon gestört. Junge Frauen mit WG-Erfahrung hätten damit wohl kein Problem und würden sich schnell einigen. Aber in Berlin sind alle Beginen über fünfzig. Den Älteren, die es gewohnt waren, jahrzehntelang die Chefin in ihrer Familie zu sein, fällt es schwer, Kompromisse zu schliessen. Damit wieder Frieden einkehrt, haben die Frauen nun eine Mediatorin engagiert.

In Unna dagegen läuft das Zusammenleben erstaunlich harmonisch ab. «Wir haben hier überhaupt keine Hausordnung», sagt Sabine Schulze-Eyssing, «vielleicht klappt es bei uns gerade deshalb so gut.» Streit gibt es höchstens, wenn eine Begine der anderen einen der wenigen Parkplätze vor dem Haus wegschnappt.

Am Abend sitzen die Frauen in Unna zusammen und trinken Rotwein. Im Gemeinschaftsraum ist es warm und gemütlich. Kerzen brennen. Mittags hat es einen Flohmarkt gegeben. Leider haben die Frauen nicht so viel eingenommen wie erhofft. «Bloss ein einziges Buch habe ich verkauft», klagt Antje. Dann bricht sie in schallendes Gelächter aus. Janine, die 15-jährige Tochter von Claudia, stakst plötzlich in Stöckelschuhen durchs Zimmer. Auf dem Kopf trägt sie einen Hut, der ihr mindestens drei Nummern zu gross ist.

Janine spielt feine Dame. Sie hat das Downsyndrom. Manchmal kann sie ziemlich trotzig sein. Oft streitet sie sich mit ihrem jüngeren Bruder Leon. Die Frauen aus dem Beginenhof gehen locker mit ihrer Behinderung um. Janine ist liebenswert, sagen sie. Ein sensibles Mädchen, das gern Witze macht. Wer in einem Beginenhof wohnt, der muss eben nicht wie alle anderen sein, um dazuzugehören.

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«Nach der Arbeit komme ich heim in ein volles Haus, in dem Frauen auf mich warten, die ich mag», Betriebswirtschafterin Sabine Schulze-Eyssing

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Beginenhöfe sind im Trend, denn es gibt immer mehr alleinstehende Frauen

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Janine (l.) hat das Downsyndrom und lebt mit ihrer Mutter Claudia in Unna

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Beginenhöfe sind im Trend, denn es gibt immer mehr alleinstehende Frauen: Die Miete für den Gemeinschaftsraum muss erwirtschaftet werden: Flohmärkte und Konfi-Verkäufe bringen einen Zustupf