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«Ruanda ist wie ein Labor»

Leben

«Ruanda ist wie ein Labor»

  • Interview: Claudia Senn, Foto: Alice Kayibanda 

In Ruanda wird die Klitoris verehrt und im Parlament sitzen zwei Drittel Frauen. Ein Buch von annabelle-Redaktorin Barbara Achermann blickt hinter die Kulissen dieses erstaunlich emanzipierten Landes.

annabelle: Barbara – als Redaktionskolleginnen duzen wir uns –, über Ruanda wissen die meisten Leute nur, dass dort ein schrecklicher Völkermord verübt worden ist. Auf deiner zweimonatigen Reise hast du das Land jedoch auch von einer ganz anderen Seite kennen-gelernt. Was hat dich am meisten überrascht?
Barbara Achermann: Ich hätte niemals erwartet, dass wir Europäer in punkto Sexualität von den Ruandern lernen können. Anders als etwa in Somalia oder Äthiopien, wo es brutale Genitalverstümmelungen gibt, wird hier die Klitoris gefeiert. Der Orgasmus der Frau ist heilig. Kommt sie nicht zum Höhepunkt, ist das eine Katastrophe – für beide Partner.

Du warst mit dem Orgasmus-Coach Vestine Dusabe unterwegs. Wie muss man sich diese ruandische Ruth Westheimer vorstellen?
Vestine hat eine Radioshow, die 85 Prozent der Ruander kennen. Es ist die beliebteste Sendung überhaupt. Vestine gibt dort praktische Sextipps und beantwortet Fragen, die ihr die Hörer per SMS stellen. Vor allem aber erklärt sie Kunyaza, eine Art afrikanisches Kamasutra. Im Wesentlichen geht es darum, dass der Mann mit seinem Penis die Klitoris stimuliert, wofür es diverse Techniken und Stellungen gibt. Kunyaza existiert seit Jahrhunderten, doch als um 1900 die katholischen Missionare ins Land kamen, passten ihnen diese lustfreundlichen Praktiken natürlich nicht in den Kram.

Sind die Ruander unverklemmter als wir?
Das würde ich so nicht sagen. Es ist hier nicht wie in Lateinamerika, wo ein ständiges Geflirte und Geschäkere herrscht. Sexualität findet in Ruanda im Privaten statt, in der Öffentlichkeit ist sogar Händchenhalten verpönt. Trotzdem hat Sex einen enormen gesellschaftlichen Stellenwert. Man möchte unbedingt, dass es klappt. Bei der Landbevölkerung ist Kunyaza allerdings etwas in Vergessenheit geraten. Ich habe Vestine zu einem ihrer Workshops auf dem Land begleitet. Dort erkundigte sich ein Mann sogar danach, wie Küssen geht. Doch auch auf diese Frage antwortete Vestine so charmant wie immer: «Nehmt ein Bonbon und schiebt es sanft zwischen euren Mündern hin und her. Schon habt ihr einen Zungenkuss.» Vestine in Aktion zu erleben war für mich ein überraschender Kontrast zu den tragischen Schicksalen, die einem in Ruanda auch begegnen.

Der Genozid, bei dem innert drei Monaten fast eine Million Menschen ums Leben kam, ist nun 24 Jahre her. Was spürt man davon noch, wenn man durch das Land reist?
Heute ist es verboten, von Hutu und Tutsi zu sprechen. Wir Ruander sind ein Volk, heisst es. Trotzdem hat natürlich jeder seine Geschichte, als Hutu oder als Tutsi. Wie schwer es sein kann, mit dieser Geschichte fertig zu werden, hat mir Jane Nyirabenda aufgezeigt, eine Tutsi-Frau Mitte dreissig, die mitansehen musste, wie ihre Brüder auf brutalste Art und Weise umgebracht wurden. Die Täter zwangen Jane zu lachen, während sie ihre Brüder mit Macheten zerstückelten. Als sie fliehen konnte, wurde sie vom Vater ihrer besten Freundin an die Mörderbanden verraten. Trotzdem überlebte sie als eine von wenigen Tutsi in ihrem Dorf. Doch der Hass, der fortan die Beziehung zu ihrer Freundin vergiftete, zerstörte beinahe Janes Leben. Erst als es ihr gelang, der Freundin zu verzeihen, dass ihr Vater sie verraten hatte, konnte sie wieder Freude empfinden.

Wie war es für dich, solche Geschichten zu hören, die über jedes vorstellbare Mass an Grausamkeit hinausgehen?
Als Journalistin ist man es gewohnt nachzuhaken, nach Details zu fragen, um mehr zu erfahren. Doch diese Rolle musste ich ablegen. Wenn mir Menschen wie Jane von ihrem Leid erzählten, habe ich häufig nur zugehört und kaum Fragen gestellt. Alles andere wäre mir respektlos vorgekommen.

Welche Begegnung hat dich am meisten beeindruckt?
Diejenige mit Zula Karuhimbi, einer fast hundertjährigen traditionellen Heilerin, die ich in ihrem Heim auf dem Land besucht habe. Zula ist der Oskar Schindler Ruandas, sie hat während des Völkermords über hundert Menschen das Leben gerettet, indem sie sie auf ihrem Grundstück versteckte. Gelungen ist ihr dieses Kunststück, weil sie sich als böse Hexe inszenierte und damit die Interahamwe – die Hutu-Mörderbanden, die marodierend durchs Land zogen – in die Flucht schlug. In Ruanda ist die Angst vor schwarzer Magie noch immer sehr gross. Zula machte mit Pfannendeckeln einen Höllenkrach, kreischte infernalisch und rieb sich mit einer Art Brennnesselsaft ein, der die Männer brannte, als sie sie anfassen wollten. Ich staunte über ihre Chuzpe und ihr Showtalent.

Im Global Gender Gap Report, der alljährlich die Gleichstellung der Geschlechter analysiert, steht Ruanda auf Platz 4, während die Schweiz weit abgeschlagen auf dem 21. Rang landet. Warum sind die Ruander so viel emanzipierter als wir?
Das hängt ganz direkt mit dem Völkermord zusammen. Vor dem Genozid hatten die Frauen kaum Rechte. Sie durften kein Land pachten, weder erben noch öffentlich sprechen. Nach dem Völkermord waren sehr viele Männer tot, ausser Landes geflohen oder im Gefängnis. Man schätzt, dass unmittelbar nach dem Genozid 70 Prozent der Bevölkerung Frauen waren. Das Land galt als «failed state»: Die Staatskasse war geplündert. In ganz Ruanda soll es bloss noch zwanzig Ärzte gegeben haben. Und als die neue Regierung übernahm, beschwerte sie sich, dass es in der gesamten Verwaltung keinen Stift mehr gebe, kein einziges Blatt Papier. Die Frauen mussten sich emanzipieren und das Ruder übernehmen, innerhalb der Familie, aber auch in der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, sie hatten gar keine andere Wahl. Mithilfe von Quoten sorgte die Regierung dafür, dass sie auf jeder Ebene der Gesellschaft Schlüsselpositionen einnehmen konnten, und als das Land eine neue Verfassung bekam, haben sie diese entscheidend mitgeprägt. Heute sitzen im ruandischen Parlament 64 Prozent Frauen. Das ist weltweit einzigartig.

Kann die Schweizer Politik von Ruanda lernen?
Sie könnte von der sogenannten «Gender-Maschinerie» lernen, einem ausgeklügelten System, das mit Hunderten von Massnahmen dafür sorgt, dass Frauen nicht benachteiligt werden und das Staatsbudget unter beiden Geschlechtern gerecht verteilt wird. Doch Ruandas Frauenwunder hat auch eine Kehrseite: Präsident Paul Kagame ist ein autoritärer Führer, der seine Gegner ohne Zögern aus dem Verkehr ziehen lässt, wenn sie ihm widersprechen. Meinungsfreiheit existiert hier ebenso wenig wie politische Opposition. Ruanda hat ganz klar ein Demokratiedefizit. 

Trotzdem schilderst du das Land als Eldorado für ausländische Unternehmen, die hier ideale Bedingungen vorfinden.
Ja, denn Ruanda gehört zu den sichersten Ländern Afrikas und ist mit seinen verwunschenen Urwäldern und traumhaften Savannenlandschaften noch dazu atemberaubend schön. Die Korruption ist geringer als in manchen europäischen Ländern, die Infrastruktur gut ausgebaut. Das Land ist wie ein Labor, in dem vieles möglich gemacht und ausprobiert wird, mit weniger bürokratischen Hürden als anderswo. Seit neustem steht hier sogar der erste Drohnenflughafen der Welt, auf dem Google- und NASA-Leute mit Ruandern zusammenarbeiten. Vorangetrieben hat auch dieses Projekt eine Frau: die ehemalige Gesundheitsministerin Agnes Binagwaho, die nicht mehr mitansehen wollte, dass zahlreiche Ruanderinnen bei der Geburt sterben, weil die benötigten Blutkonserven nicht rechtzeitig bei ihnen ankommen. Nun retten modernste Lastdrohnen täglich Leben – eine der vielen Erfolgsgeschichten in diesem überraschenden Land.

 

Lesen Sie hier die preisgekrönte Reportage «Frauenwunderland» von Barbara Achermann, aus der dieses Buch entstanden ist.

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1.

Barbara Achermann stellt ihr Buch «Frauenwunderland» am 17. April im Kaufleuten in Zürich vor.