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Als Unschuldige im Gefängnis

Leben

Als Unschuldige im Gefängnis

  • Text: Jennifer Bosshard; Foto: iStockPhoto.com / Manuel Faba Ortega

Erna Eugster hat das Buch «Dreckloch» geschrieben. Uns erzählt die 64-Jährige von ihrer Zeit als administrativ Versorgte, die sie jahrelang im Gefängnis absass – unschuldig. Und wie sich eine Bundesrätin bei ihr dafür entschuldigte.

Wir sassen in der Aula des Frauengefängnisses Hindelbank, als Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf sich im September 2010 bei uns entschuldigte. Dafür, dass man uns weggesperrt hatte wie Kriminelle. Dafür, dass man uns unsere Stimme nahm, dass man uns einfach aufgab.

Danach wurden Hände geschüttelt. Ein Journalist fragte mich, welcher Betrag wohl angebracht wäre für eine finanzielle Wiedergutmachung. Da fragte ich ihn, was er denn denke, was so ein Menschenleben wert sei. Was ist mit all den Menschen, die sich zu Tode gesoffen haben, die in die Drogen abgerutscht sind und die sich erhängt haben, was sind die denn wert? Und was sind wir Lebenden noch wert? Wir, die administrativ Versorgten? Darauf wusste er auch keine Antwort. Man kann es ihm nicht verübeln.

Als ich noch ein Kind war, nannte mich meine Mutter Dreckloch, Lumpenhure oder Saumensch. Prügel waren an der Tagesordnung. Mein Vater interessierte sich nicht für mich. Dass mein Familienleben nicht normal war, wusste ich nur dank einer Nachbarsfamilie, die mich einmal für ein paar Tage zu sich holte, als bei uns mal wieder der blanke Terror herrschte. Als ich zwölf war, wurden die Behörden auf meine Situation aufmerksam, und man steckte mich ins Heim. Besser als zuhause erging es mir dort nicht. Als ich deshalb davonlief, wurde ich dann sogenannt administrativ versorgt. Weggesperrt unter dem Deckmantel der fürsorglichen Zwangsmassnahme. Für die Behörden gehörte ich zu den verhaltensauffälligen Kindern, die «nicht recht taten» und «liederlich» waren. Vom Heim wanderte ich in die psychiatrische Klinik, von dort ins Bezirksgefängnis Bern. Nicht weil ich etwas verbrochen hätte, sondern weil es keinen anderen Platz für Fälle wie mich gab. Der Prozess wurde mir nie gemacht. Wofür auch?

Nach meiner Entlassung Jahre später schlug ich mich als Putzfrau und Servicekraft durch und verfiel dem Alkohol. Ich schämte mich für mein Leben, hatte immer das Gefühl, man sehe mir meine Vergangenheit an. Mein verinnerlichtes Minderwertigkeitsgefühl äusserte sich auch in meiner geduckten Haltung. Um mein Buckeli zu verdecken, liess ich mir damals die Haare wachsen. Ich bin noch nicht so weit, sie abzuschneiden. Aber vielleicht irgendwann.

Mein zweites Leben begann erst mit knapp vierzig. Ich wies mich selbst in eine Entzugsanstalt ein. Zum ersten Mal hatte ich Betreuer, die an mich glaubten und mir einen Boden gaben, auf dem ich wieder laufen lernte. Mittlerweile bin ich seit 25 Jahren trocken.

Es war dringend notwendig, dass das Thema der administrativen Versorgung endlich mediale Aufmerksamkeit erhielt. Aber es reicht nicht. Die Schweiz muss sich als Nation zu den Geschehnissen bekennen und das Thema aufarbeiten – es gehört in die Geschichtsbücher. Die Entschuldigung des Bundesrats hat mir persönlich nichts gebracht. Ich spüre keine Genugtuung. Aber immerhin wird das Schicksal der administrativ Versorgten auf Bundesebene nicht länger totgeschwiegen. 300 Millionen will man uns jetzt geben. Klingt nach einer Menge. Bei 20 000 Betroffenen wären das allerdings noch 15 000 pro Person. Das Geld ist mir aber egal, ich bin mein Leben lang mit wenig zurechtgekommen. Viel wichtiger ist: Uns wurde Unrecht angetan, und jetzt gilt es, dafür zu sorgen, dass wir Frieden finden.

Mir wird es wohl nie möglich sein, alles zu verarbeiten. Das wurde mir klar, als ich mich überwand, meine Geschichte in einem Buch niederzuschreiben. Während des Schreibprozesses wurde ich immer wieder krank. Mein schwaches Herz machte mir zu schaffen. Die unterdrückte Wut kochte auf, die alte Angst nahm von mir Besitz. Ich versuche zu verzeihen, aber die Kraft, mit der mich meine Emotionen übermannten, zeigte mir, dass es noch ein langer Weg ist. Eines aber hat sich geändert: Ich schäme mich nicht mehr für mein Leben. Heute weiss ich, dass es die anderen sind, die sich schämen sollten.