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Lesen, bis es wehtut

Leben

Lesen, bis es wehtut

  • Text: Silvia Binggeli; Foto: Flavio Leone

annabelle-Chefredaktorin Silvia Binggeli über Geschichten, die uns beim Lesen an die Schmerzgrenze treiben. 

Es gibt Geschichten, die begeistern mich, obwohl oder gerade weil sie mich beim Lesen an eine Schmerzgrenze treiben, die ich lieber umgehen würde. Meine Kollegin Claudia Senn hat für diese Ausgabe eine solche Geschichte aufgeschrieben: Sie hat zwei Menschen getroffen, die einer der schrecklichsten Momente verbindet: eine Vergewaltigung.

Die Geschichte der Isländerin Thordis Elva und des Australiers Tom Stranger begann als zarte Romanze zwischen zwei Teenagern und endete in brutalster Gewalt. Jahrelang blieb die Tat unausgesprochen, beide versuchten erfolglos, das Trauma zu verdrängen, den Schmerz in Alkohol zu ertränken, mit Selbstverletzung zu kontrollieren.

Bis Thordis Elva beschloss, ihren Peiniger zu kontaktieren. Sie schrieben sich Hunderte von E-Mails, trafen sich zu einer Aussprache. Und schliesslich teilten sie ihre Erfahrung mit der Öffentlichkeit, an einem Ted-Talk, der bis heute dreieinhalb Millionen Mal angeklickt wurde. Ein unkonventioneller, ein provokativer, auch ein umstrittener Umgang mit einer unfassbaren Tat.

Unsere Autorin wollte im Gespräch mit den beiden wissen, inwiefern diese Art der Aufarbeitung ihnen wirklich geholfen hat, welches ihre Beweggründe sind. Feministische Aktivistinnen warfen den beiden bei einem gemeinsamen Auftritt in London vor, sexuelle Gewalt durch ihr Verhalten zu banalisieren. Eine verständliche Reaktion. Für Vergewaltigung, für Gewalt gibt es keine, absolut keine Entschuldigung, nie!

Trotzdem ist die Geschichte von Thordis Elva und Tom Stranger erzählens- und lesenswert; weil sie uns zwingt, uns Fragen zu einer harten Realität zu stellen, die immer noch viel zu viele betrifft und die nicht durch Ignoranz, sondern allerhöchstens durch Konfrontation aus der Welt zu schaffen ist.

Übrigens: Meine Kollegin Claudia Senn ist eine Meisterin im Erzählen von kontroversen, aufwühlenden und berührenden Lebensgeschichten. Eben wurde ihr Artikel «Sie nahm das Kind einfach mit» ausgezeichnet. Für die Geschichte von 2016 über eine Schweizer Akademikerin, die in Osteuropa ein vernachlässigtes Roma-Baby entführte und dafür eine Gefängnisstrafe kassierte, bekam Claudia den renommierten Zürcher Journalistenpreis verliehen. Ich bin stolz, gratuliere herzlich. Und freue mich auf viele weitere wertvolle Geschichten – insbesondere auch auf die, die zu Recht schmerzen.