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Lieber nicht zu ehrgeizig

Leben

Lieber nicht zu ehrgeizig

  • Text: Frank Heer; Illustration: Ping Zhu

Es lohnt sich nicht, sich anzustrengen. Im Gegenteil: Es kann sogar richtig teuer werden. Eine Kolumne von Frank Heer über Naturgesetze. 

Übertriebener Ehrgeiz ist sträflich, und das ist gut so. Ein Naturgesetz. Man vergisst es nur ständig, denn der Mensch will sich messen, vor allem der Mann: im Sport, im Beruf, in der Politik, im Verkehr. Ein Beispiel: Kürzlich verliess ich die Redaktion, gut gelaunt, um 18.19 Uhr, also zeitig, um zuhause das Abendessen für Frau und Kinder zuzubereiten, ein Heilbutt-Saltimbocca mit Thymiankartoffeln und ostpreussischem Gurkensalat. Weil es regnete, liess ich mein Klappervelo stehen. Ich weiss nicht, welcher Teufel mich ritt, dass ich mich entschied, das Tram zu erwischen, das gerade angerollt kam. Ich nahm die Beine unter den Arm und rannte. Und während ich rannte, ging mir alles Mögliche durch den Kopf. Dass das Leben in Ordnung ist, ich nicht wusste, wie Heilbutt-Saltimbocca geht, und «Have Fun with God», die Dub-Version von Bill Callahans Album «Dream River» (erwähnt in meiner Uzwil-Kolumne), beim Plattenhändler meines Vertrauens abholbereit ist; der Laden schliesst um sieben und liegt am Weg, ich könnte noch kurz … Doch weil ich mich im Wettstreit mit einer Maschine befand, beschloss ich, Bill Callahan warten zu lassen, zumal mich das verflixte Tram gerade überholte. Zu meinem Vorteil schaltete das Lichtsignal der ersten Kreuzung auf Rot, woran sich öffentliche Verkehrsmittel halten müssen. Ich ignorierte das Signal und wurde ums Haar von einem Velokurier überradelt. Fahrlässig, könnte man einwenden, doch Männer blühen auf, wenn ihnen die Gefahr im Nacken sitzt. Natürlich holte mich das Tram sofort wieder ein. Ich hätte gelenkschonende Laufschuhe anziehen sollen, dachte ich, während ich an einem Sportgeschäft vorbeischnaufte. Ich bemerkte ein Stechen in der Hüfte, dann in den Knien und im Rücken. In einem Interview mit einem Sportpsychologen hatte ich gelesen, es helfe, sich beim Rennen den Siegerpokal vorzustellen. Ich dachte an ein frisch gezapftes Amber im beschlagenen Glas und holte zu übermenschlichen Sätzen aus. Ich schlug Räder um streunende Pudel, hechtrollte über Kinderwagen und verschaffte mir mit spitzen Schreien freie Bahn bis zur Haltestelle. Die letzten Passagiere hatten sich bereits ins Tram gedrückt, die Blinker signalisierten Weiterfahrt, doch ein Herr mit sportlicher Jacke stellte seinen Schnürstiefel aufs Trittbrett, um das Schliessen der Türen zu verhindern. Es gibt noch hilfsbereite Menschen, dachte ich, als ich einstieg, mit letzter Kraft. Niemand applaudierte. Von der Anstrengung war mir schlecht geworden. Ich sah aus dem Fenster, mein Puls raste, die Lichter der Autos zerflossen am regennassen Fenster. Ich überlegte, die Notbremse zu ziehen, um mich draussen in einem Pärkchen zu übergeben, als sich der Mann mit dem entschlossenen Schnürschuh räusperte. Ich erwartete, er würde mir das frisch gezapfte Amber überreichen, stattdessen sagte er: «Fahrausweiskontrolle!» Ich hatte nach meinem Rennen ausser Acht gelassen, den Billettautomaten für den Shuttle zurück ins Olympiadorf zu konsultieren. Für den Bruchteil einer Sekunde erwog ich, eine Herzattacke zu simulieren oder etwas auf Arabisch zu schreien, entschloss mich aber zur Kooperation. «Bar oder Karte?», fragte mich der Undercoverbeamte, als wir an der nächsten Haltestelle ausstiegen. Ich lächelte und zahlte, hundert Franken in bar, man gönnt sich ja sonst nichts. Der Beamte reichte mir die Quittung: «Damit können Sie noch eine Stunde gratis fahren.» Das ist lieb, nickte ich, leider wohne ich hier um die Ecke. Er zuckte mit den Schultern und liess mich im Regen stehen. Es lohnt sich nicht, sich anzustrengen. Ein Naturgesetz. Dafür kriegt man nichts geschenkt. Ich kaufte eine Kiste Bier und balancierte sie auf dem Kopf nachhause. Jemand hatte FUCK an eine Wand gesprayt. Ich las das Wort und trat in eine Pfütze.

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