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Männerkolumne: Thomas Wernli über den Schwulenradar

Leben

Männerkolumne: Thomas Wernli über den Schwulenradar

  • Text: Thomas Wernli; Illustration: Ping Zhu

Thomas Wernli ist Produktionsleiter bei annabelle. Er schreibt abwechselnd mit Sven Broder und Frank Heer übers Mannsein bei einer Frauenzeitschrift und andere Extremsituationen.

«Duu, sag mal …» Seit drei Tagen ist der Neue in der Redaktion. Blaue Augen, um sich darin zu verlieren. Volle Lippen, um daran hängen zu bleiben. Ein Lächeln, um sich zu verlieben. Alles perfekt arrangiert, ein schönes Gesicht, wirklich, auf einem durchtrainierten Körper, den die gut sitzenden Jeans und der enge Rollkragenpullover formvollendet betonen. Alles topmodisch, vom Haarschnitt über den Gürtel bis zu den Schuhen, sorgfältig ausgesucht, gekonnt kombiniert.

Also ganz klar schwul. Weil zu schön, um wahr, ähm, hetero zu sein. «Duu, sag mal, der Neue …», flüstert eine Arbeitskollegin, zurzeit Single, in mein Ohr. Ich weiss, was jetzt kommt. Die Stimmlage wird gleich vom Vertraulichen ins Anzügliche gleiten. «Ist er, oder ist er nicht? Du musst das doch spüren.» Sie will, dass ich meinen Radar aktiviere.

Tatsächlich gibt es so etwas wie einen Radar, der den Homosexuellen wahrscheinlich angeboren ist, ebenso wie ihre Sexualität. Orientierungshilfreich im dicht bewachsenen Dschungel der Beziehungen, wichtig während der Paarungszeit (Radar empfängt Signale), überlebenswichtig bei der Konfrontation mit unbekannten, allenfalls aggressiven Spezies (Radar empfängt keine Signale).

Nun, ich würde meiner Kollegin ja gern helfen. Doch ich bin nicht sicher, ob mein Radar noch funktioniert. Vieles ist anders als damals in meinen Jugendjahren, als ich noch auf freier Wildbahn unterwegs war. Und dann: das 21. Jahrhundert! Die Grenzen zwischen den Geschlechtern und den Kulturen sind aufgeweicht, aufgebrochen, aufgehoben. Der neue Mann ist längst nicht mehr neu, und die Attribute, die man früher Schwulen zugeordnet hat, wie Empfindsamkeit, Verständnis (für die Anliegen der Frauen), Sinn für Ästhetik, künstlerische Kreativität, modischer Geschmack und so weiter, treffen inzwischen auch auf viele Heteros zu.

Seit sie ausserdem die Vorzüge der Pflege des Körpers und den Sinn einer attraktiven Verpackung dessen entdeckt haben (Frauen lieben es!), gibts kaum mehr Merkmale, welche die sexuelle Ausrichtung offensichtlich machen. David Beckham, Prototyp des Metrosexuellen, früher Fussballgott, heute Stilgott, wurde soeben vom US-Magazin «People» zum Sexiest Man Alive 2015 erkoren. Und die Schwulen? Die stylen sich gerade sehr, sehr männlich, mit Bart und Holzfällerhemd und sonst so Zeugs, das bis vor kurzem noch dem klassischen Hetero zugeordnet wurde.

Dann die Mischung der Kulturen: Treffen sich arabische oder türkische Männer, gibts Küsschen zur Begrüssung. Oder junge Männer aus dem Süden Europas: Auf Sizilien war ich erstaunt, wie viele Männerpaare Händchen haltend in die Disco spazierten. Ebenso wenig schwul wie diejenigen, die hemmungslos den Look von Dolce & Gabbana trugen! Super eng, super sexy. «So wäre ich niemals rumgelaufen, als ich noch jung war. Viel zu schwul», hat ein Freund kürzlich das Phänomen kommentiert. Er ist schwul.

Hilft der Radar nichts, bleibt noch: direkt fragen. Das getraut sich aber kaum jemand. Also dann das Objekt des Interesses in ein Gespräch über unverdächtige Themen wie Zivil- oder Familienstand verwickeln? Leider sind Aussagen wie «Ich bin verheiratet» oder «Ich habe zwei Kinder» nicht besonders hilfreich. Ein Ex-Freund von mir war vor unserer Beziehung jahrelang verheiratet. Und mein Mann hat einen Sohn in unsere Ehe eingebracht.

Manchmal beantworten sich Fragen von allein. An unserer Weihnachtsparty sind die blauen Augen plötzlich verschwunden. Mit der Kellnerin! Meine Kollegin und ich waren uns sofort einig: Soo schön war er nun auch wieder nicht.

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