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Mehr, mehr, mehr

Leben

Mehr, mehr, mehr

  • Text: Silvia Binggeli; Foto: Flavio Leone

annabelle-Chefredaktorin Silvia Binggeli über das Leben in einer Gesellschaft getrieben vom Mehr-wollen.

«Was Menschen unglücklich macht», sagt Lauren Greenfield, «ist dieses besessene Streben nach Geld, das einen immer etwas anderes wünschen lässt als das, was man ist und hat.» Die 50-jährige US-Fotografin hat ihr halbes Leben lang in Los Angeles und anderswo auf der Welt Menschen fotografiert, die den Wohlstand zum ultimativen Lebensziel erklärt haben. Eben ist ihr Bildband «Generation Wealth» erschienen.

Als wir vorab in der Redaktion ihre Bilder sahen, waren wir gleichermassen fasziniert wie abgestossen, von den vielen extrem aufgespritzten Lippen, den mit Diamanten besetzten Zähnen, den an Partys bündelweise in die Luft geworfenen Dollarnoten. Es fällt nicht schwer, sich von so viel offensiv zur Schau gestelltem Reichtum zu distanzieren. Immerhin geben wir uns hierzulande bezüglich Vermögen gern zurückhaltend. Doch sind wir in der Haltung dazu wirklich so weit entfernt von Greenfields Protagonisten?

Die Antwort junger Frauen auf die Frage nach ihrem Lebensziel, sagt die Fotografin, laute weltweit: berühmt und reich sein. Nach dem Vorbild der Reality-Fernseh-Queen Kim Kardashian posten diese jungen Frauen perfekt inszenierte Selfies in den vermeintlich teuersten Outfits und in scheinbar exklusivster Gesellschaft.

Mit fortschreitendem Alter mögen wir uns eher auf den inneren Reichtum konzentrieren. Den virtuellen Freunden präsentieren wir uns dann, dem Zeitgeist entsprechend, in perfekter Yogapose oder naturverbunden vor dem perfekten Sonnenuntergang – im strahlenden Gesicht dazu steht aber doch auch gern geschrieben: Mehr, mehr, mehr davon!

Ich habe nicht vor, meinen Besitz zu verteufeln. Aber die Fotos von Lauren Greenfield regen mich dazu an, mal wieder genauer hinzuschauen, was ich eigentlich schon alles besitze: in meinem Kleiderschrank, meinem Weinkeller, meinem Bücherregal, im Schrank mit den Vasen, dem Geschirr.

Passend zu dieser Einsicht freue ich mich über eine weitere Geschichte in dieser Ausgabe: Meine Kollegin Stephanie Hess ist nach Neapel geflogen, inspiriert von den Bestsellern der italienischen Autorin Elena Ferrante über eine Frauenfreundschaft. Auf diese Reise mitgenommen hat sie ihre beste Freundin, um mit ihr an den Schauplätzen der Romane über ihre eigene langjährige wertvolle Freundschaft zu sinnieren.

Ich lese ihre Zeilen genüsslich, kuschle mich dabei auf dem Sofa in meine vielen heiss geliebten Kissen, in die flauschige Decke. Und denke: Shoppen ist grad kein Thema.

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