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Meine Meinung: Attacke der Besserwissermütter

Leben

Meine Meinung: Attacke der Besserwissermütter

  • Text: Frank Heer, Illustration: Grafilu

Autor Frank Heer über Besserwissermütter und unerwünschte Ratschläge.

Da hat man ein Kind gezeugt, schiebt es stolz durch den Sommer, und schon kommen sie wie die Fruchtfliegen: Die Besserwissermütter. Nie gehört? Dann haben Sie keine Kinder, sonst wüssten Sie: Besserwissermütter sind Frauen, die sich genötigt fühlen, sich in fremde Familienangelegenheiten einzumischen, vorzugsweise im Tram, im Zug, auf dem Spielplatz oder auf offener Strasse. Kaum quengelt irgendwo ein Säugling, stehen sie dem Sorgerechtsinhaber auf der Matte. Sie beugen sich ungefragt über den Kinderwagen und sagen Sätze wie: «Sicher hat es Hunger.» Oder: «Ist dem Baby nicht kalt?»

Vor Jahren durfte ich Folgendes aus nächster Nähe beobachten, damals noch als kinderloser (und somit unvoreingenommener) Trampassagier: Rüstige Rentnerin zu entnervter Mutter mit plärrendem Spross: «Vielleicht möchte er lieber auf dem Bauch liegen.» Entnervte Mutter mit plärrendem Spross zu rüstiger Rentnerin: «Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram!» Damals dachte ich noch: «Ui, wie bissig.» Heute weiss ich: Ist doch wahr! Fremde Köpfe haben über fremden Buggys nicht nur nichts verloren, sie haben vor allem auch keine ollen Ratschläge zu erteilen. Kleinkinder gehören nicht der Allgemeinheit, und Mütter/Väter mit Kinderwagen sind keine öffentlichen Personen.

Interessanterweise gibt es ja kaum Fälle von Besserwisservätern. Männer mögen dazu neigen, sich selbst zu überschätzen, aber nie würden Väter fremden Vätern väterliche Ratschläge erteilen (es sei denn, sie werden darum gebeten, vertraulich, vielleicht bei einem Bier oder beim Grillieren). Das hat einen einfachen Grund: Männer interessiert nur der eigene Nachwuchs. Sie können sich kaum die Namen der Kinder ihrer besten Freunde merken. Frauen dagegen interessieren sich nicht nur brennend für die Babys ihrer Freundinnen, sondern auch für Babys in fremden Kinderwagen. Verstörend wird es dann, wenn die Mutterinstinkte durchbrennen. Meine Frau hat das kürzlich während eines Wolkenbruchs an der Tramhaltestelle am eigenen Leib erfahren. Es schüttete wie aus Kübeln, der Angriff aber kam wie aus heiterem Himmel geschossen. «Raaaaaaabenmutter!!! Schämen Sie sich!!!», keifte eine Passantin, Anfang dreissig, unscheinbar. «Nehmen Sie Ihr Kind in den Arm!!! Man sollte es Ihnen wegnehmen. Was sind Sie für eine Mutter!?» Noch Tage später leckte sich meine Frau die Wunden.

Was war geschehen? Unser Bub, acht Wochen alt, öfter mal von Blähungen geplagt, hatte sich die Haltestelle für eine besonders fiese Brüllattacke ausgesucht. Warum ihn meine Frau nicht in den Arm genommen hatte? WEIL ES REGNETE. Doch das ist nur eine von vielen möglichen Antworten, die niemanden etwas angehen. Es könnte statt des Regens auch ein angebrochener Halswirbel gewesen sein. Nasenbluten, Sehnenscheidenentzündung, Bandscheibenvorfall, Gürtelrose. Armprothese, Nervenzucken, postnatales Krisenschieben. Doch soweit denkt die Besserwissermutter nicht. Schreiende Babys und quengelnde Kinder bestätigen nur ihren Verdacht auf eine unsachgemässe Handhabung des Wageninhalts. Sie fühlt sich zum Eingriff berufen und verwechselt Zivilcourage mit Impertinenz. Um es mit den Worten der «entnervten Mutter mit plärrendem Spross» zu sagen: Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram!

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