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Poor Working

Leben

Poor Working

  • Interview: Helene Aecherli; Fotos: GettyImages (1), Martha Chen (1)

Millionen von Frauen verdienen ihren Lebensunterhalt mit informeller Arbeit: Ihre Jobs als Taglöhnerinnen, Heim- oder Gelegenheitsarbeiterinnen fallen durch die Maschen des Arbeitsgesetzes. Martha Chen, Politikwissenschafterin an der Harvard University, will das ändern.

annabelle: Martha Chen, der sogenannte informelle Arbeitssektor ist Ihr Spezialgebiet. Nun tönt dieses Thema leider nicht sehr spannend. Warum lohnt es sich, an dieser Stelle trotzdem weiterzulesen?
Martha Chen: Schon allein deshalb, weil die informelle Arbeit einer der Motoren der Weltwirtschaft ist! Gut sechzig Prozent aller Arbeitnehmenden weltweit gehören dem informellen Sektor an. Sie tragen zwischen zwanzig und vierzig Prozent zum Bruttinlandprodukt des jeweiligen Landes bei. Und die Palette der informellen Berufe ist riesig: In städtischen Gebieten sind es Hausangestellte, Bauarbeiter, Strassenhändlerinnen, Abfallsammler oder Transportunternehmer. In ländlichen Gebieten Bauern, Fischer, Schäfer oder Holzverkäufer. Aber auch Fabrikarbeiter gehören dazu. Häufig verrichten in derselben Fabrik auf demselben Stockwerk informelle Mitarbeiter dieselben Aufgaben wie Festangestellte.

Oft wird die informelle Arbeit mit Schattenwirtschaft assoziiert. Zu Recht?
Ich wehre mich dagegen, da Schatten impliziert, dass die Menschen ihre Tätigkeiten vor der Regierung verbergen wollen. Doch das stimmt nicht. Die allermeisten versuchen, sich ihren Lebensunterhalt ehrlich zu verdienen. Nur ist die informelle Arbeit staatlich nicht reguliert, folglich sind die Arbeiterinnen und Arbeiter weder arbeits- noch sozialrechtlich geschützt, auch wenn sie meist Steuern und Abgaben bezahlen. Zudem kommen sie meist aus benachteiligten Regionen oder marginalisierten Gruppen. Die breite Öffentlichkeit sowie manche Ökonomen blicken auf sie herab, oft werden sie gar für Kriminelle gehalten.

Wie ist denn das Geschlechterverhältnis auf dem informellen Arbeitsmarkt? Man könnte davon ausgehen, dass Frauen übervertreten sind.
Überraschenderweise ist es ziemlich ausgewogen. Es gibt jedoch Regionen, in denen Frauen massiv untervertreten sind, wie der Nahe Osten, Nordindien und Nordpakistan. Dort ist es Frauen oft nicht erlaubt, nebst der Betreuung der Kinder und den Haushaltspflichten anderen Tätigkeiten nachzugehen, oder es ziemt sich nicht, ausserhalb des Hauses zu arbeiten, weil sie dann mit fremden Menschen in Kontakt kommen könnten.

Eine besonders grosse Anzahl Frauen sind Selbstständigerwerbende, die von ihrem Zuhause aus arbeiten. In Indien ist jede dritte Arbeiterin eine sogenannte Home-based Producer, in Pakistan und Nepal soll es fast jede zweite sein.
Das ist richtig. Um Kosten zu senken und Profite zu maximieren, lagern viele lokale, aber auch internationale Unternehmen Arbeiten an Home-based Producer aus. Diese Frauen setzen etwa elektronische Geräte zusammen, verpacken Medikamente, stellen Autoteile her, produzieren Räucherstäbchen, Fussbälle oder Sitzkissen für Airlines oder sind in der Lebensmittel- oder Textilverarbeitung tätig. Die Auftragslage ist jedoch unübersichtlich. Oft wissen die Arbeiterinnen nicht einmal, für welchen Konzern sie produzieren.

Wie stark sind internationale Textilproduzenten unter diesen externen Auftraggebern vertreten?
Wir gehen davon aus, dass in Thailand, Indien und Pakistan ungefähr vierzig bis sechzig Prozent der Arbeitskräfte, die für den Export bestimmte Textilen verarbeiten, Home-based Producer sind. In der globalsierten Textil-Industrie werden vor allem Feinschliffarbeiten ausgelagert. Darunter fallen Dekostickereien, das Waschen und Bügeln der Kleidungsstücke, bevor sie verpackt und verschifft werden, oder das Nähen von Knopflöchern.

Für Ihre Organisation Wiego, welche die Situation von Frauen im informellen Arbeitssektor analysiert, haben Sie Untersuchungen unter anderem in der indischen Stadt Ahmedabad durchgeführt. Unter welchen Umständen arbeiten Frauen dort?
Die meisten sind, wie gesagt, von ihrem Zuhause aus tätig, und das liegt oft innerhalb der Slums. Ein Haus umfasst ein bis zwei Zimmer, hat eine kleine Veranda, santiäre Einrichtungen sind selten, Pachtverträge gibt es nicht. Zudem ist das Haus oft vollgestopft, da der Mann meist Strassenhändler oder Abfallsammler ist und seine Waren in den eigenen vier Wänden lagert. Die Frauen hocken beim Nähen auf dem Boden, nur wenige haben Stuhl und Tisch. Während des Monsuns wird der Erdboden häufig aufgeweicht und das Dach leckt, was wiederum den Textilien schaden kann, die auch die Näherin bei sich aufbewahren muss.

Wie bringt sie Arbeit und Familie unter einen Hut?
Es ist eine Parforcetour, denn sie wird bei ihrer Arbeit immer wieder unterbrochen: Die Kinder kommen von der Schule, der Mann von seiner Arbeit, oder Nachbarn schauen spontan vorbei. Oft muss sie mit Nähen pausieren, weil das Rattern der Maschine die Kinder bei den Hausaufgaben oder beim Einschlafen stört. Viele Frauen arbeiten deshalb nachts, wenn die Kinder schlafen – falls sie Elektrizität haben. Denn stundenlange Stromunterbrüche gehören zum Alltag.

Informelle Arbeiterinnen verdienen im Schnitt weniger als einen Dollar pro Tag. Was muss dieser Dollar alles abdecken?
Mit ihrem Einkommen trägt die Arbeiterin natürlich zum Familieneinkommen bei: für Nahrungsmittel, Schulgeld, Elektrizität. Zudem finanziert sie damit ihre Ausrüstung, in unserem Beispiel also die Nähmaschine. Darüber hinaus ist sie verpflichtet, die fertige Ware zum Auftraggeber zu transportieren und das Rohmaterial in der Fabrik abzuholen. Diese Transportkosten verschlingen gut einen Drittel des Einkommens.

Wie kommen diese Menschen zu ihren Aufträgen?
Ein System gibt es nicht. Manche ergattern sich einen Auftrag via Mund-zu-Mund-Propaganda. Häufig bestimmt eine Gruppe von Frauen auch eine Abgeordnete, die zur Fabrik geht und Arbeit beschafft. Oft dient auch ein pensionierter männlicher Arbeiter als Auftragsvermittler, oder die Näherin kennt jemanden in der Fabrik, der ihr Aufträge beschafft.

Kommt es vor, dass sich Frauen prostituieren müssen, um sich einen Job zu ergattern?
Sehen Sie, sexuelle Ausbeutung ist überall Teil der Realität, leider. Sie ist aber nicht zwingend mit der Arbeitsbeschaffung per se verbunden, sondern vielmehr mit der Arbeitserhaltung. Letztes Jahr war ich etwa in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi und besuchte die Baracken, in denen Abfallsammlerinnen den Abfall sortieren. Dabei sah ich mir auch die Zimmer an, in denen sie leben. In der Mitte eines dieser fensterlosen Räume war ein grosses, mit Matten bedecktes Bett, wohl die Schlafstätte für vier Frauen. Als wir die Unterkünfte betraten, sahen wir einen jungen Mann, der in Unterhosen den Korridor rauf- und runterlief. Ich achtete nicht auf ihn, aber meine vietnamesischen Begleiter waren peinlich berührt. Denn der junge Mann war der Sohn des Landbesitzers. Er hielt Ausschau nach einer Frau, die gerade allein war.

Erzählten Ihnen die Frauen von den Übergriffen?
Nein. Sie redeten nur übers Recycling. Was hätten sie auch sagen sollen? Doch selbst wenn alle schweigen – das Thema schwingt immer mit. Dies lässt den Umfang eines ausbeuterischen Systems erahnen, das Menschen dort trifft, wo sie am verletztlichsten sind: «Tust du mir keinen Gefallen, verlierst du deinen Job.»

Sie schreiben in einer Studie, dass Frauen gegenüber Männern auch deshalb benachteiligt sind, weil ihre informelle Arbeit häufig auf sehr spezifische Bereiche beschränkt ist. Können Sie das näher erklären?
In Indien gibt es Kasten, die sich auf Keramikarbeiten spezialisiert haben, in denen es aber für Frauen verboten ist, die Töpferscheibe zu benutzen. Analog dazu dürfen Frauen in einer Kaste von Webern nur das Spinnrad betätigen. Andere Formen von Beschränkungen finden sich im Recycling-Business: Hier sind Frauen und Kinder traditionell eher als Abfallsammler tätig, diejenigen, die mit dem Abfall Geschäfte machen, sind meist Männer. Oder nehmen wir den Strassenhandel: Männer verkaufen meist unverderbliche Konsumgüter, Frauen handeln mit Früchten oder Gemüse. Und das ist sehr viel fragiler: Denn Tomaten, die einen Tag an der Sonne gelegen haben, lassen sich kaum mehr verkaufen, T-Shirts hingegen schon. Zudem geschieht es nicht selten, dass ein Polizist einer Strassenhändlerin sagt: «Gib mir drei Bananen, dann lass ich dich und deinen Stand in Ruhe.»

Mikrokredite gelten noch immer als eine der bahnbrechendsten Methoden, um Frauen wirtschaftlich zu ermächtigen. Wie ist Ihre Haltung dazu?
Mikrokredite können tatsächlich eine enorme Wirkung entfalten. Doch fokussieren die Institutionen, die Mikrokredite vergeben, oft nur auf die finanziellen Bedürfnisse ihrer Klientinnen, ohne eine Ahnung von den wirtschaftlichen und institutionellen Umständen zu haben, in denen diese Frauen leben.

Das heisst?
Ich gebe Ihnen einige Beispiele: Was für uns im Westen gläserne Decken sind, die Frauen am Weiterkommen hindern, sind im globalen Süden sticky floors, klebrige Böden. Im Gegensatz zur gläsernen Decke sind die klebrigen Böden jedoch wörtlich zu verstehen. Eine Firma, die etwa Nahrungsmittel verarbeitet, wird keine Frauen beschäftigen, die auf Lehmböden wohnen, da dann das Risiko zu hoch ist, dass die Lebensmittel verderben. Viele Frauen setzen deshalb alles daran, ihre Böden zu zementieren, um aufsteigen zu können. Oder: Für eine Strassenhändlerin ist es überlebenswichtig, ihren Stand und ihre Ausrüstung so klein und unauffällig wie möglich zu halten. Warum? Weil sie keinen Lagerplatz hat und ihre Waren abends mit nach Hause nimmt. Zudem muss sie ihren Stand schnell zusammenpacken können, wenn die Polizei das Gebiet kontrolliert. Da Strassenhändler kaum Sicherheiten haben, werden ihre Waren häufig konfisziert. Eine Strassenhändlerin wird sich also hüten, einen Kredit aufzunehmen, um sich eine digitale Waage oder eine schöne Warenauslage zu kaufen. Denn damit riskiert sie, die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen. Diese Zusammenhänge muss man verstehen, bevor man Kredite vergibt.

Was muss getan werden, um diese Arbeiterinnen und Arbeiter wirtschaftlich zu ermächtigen?
Sich erst die Frage stellen: Was brauchen diese Arbeiter? Sind Sie eine Strassenhändlerin, wünschen Sie sich einen sicheren Arbeitsplatz und die Möglichkeit, den Stand zu registrieren. Sind Sie eine Heimarbeiterin, wollen Sie einen Pachtvertrag für Ihr Haus, sanitäre Anlagen, Wasser, Elektrizität, regelmässige Aufträge und ein fixes Entgelt. Sind Sie ein Abfallsammler, streben Sie nach Zugang zum Abfallmanagement. In diese Ansätze muss investiert werden.

Weltweit versprechen Wirtschaftsführer, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Der IT-Boom in Indien wird als Paradebeispiel hierfür herangezogen. Werden dabei die Bedürfnisse von informellen Arbeitenden übergangen?
Neue Arbeitplätze zu schaffen ist wichtig, besonders angesichts der steigenden Anzahl junger Menschen in Schwellenländern. Doch vom IT-Boom Indiens profitieren vor allem gebildete Menschen. Jene, die kaum mehr als die Grundschule besucht haben, sind davon ausgeschlossen. Denn nur schon für einen Callcenter-Job braucht es Highschool-Englischkenntisse. Deshalb haben viele gar keine andere Möglichkeit, als mit traditionellen Handwerksberufen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das aber wird von Wirtschaftsführern vernachlässigt. Mehr noch: Mit der Modernisierung der Städte werden häufig ganze Lebensgrundlagen zerstört. Nehmen wir Bangalore, das Silicon Valley Indiens: Bangalore war einst eine blühende Gartenstadt. Heute wird sie von Trabantenvierteln beherrscht, in denen sich die aufstrebenden IT-Unternehmen befinden, doch die Strassen dazwischen sind matschig und voller Löcher. IT-Firmen sind von Steuern befreit; die städtische Infrastruktur hingegen liegt brach.

Eine Ihrer Kernaussagen lautet: Wir müssen wirtschaftliche Entwicklung neu denken. Was bedeutet das konkret?
Wir brauchen ein neues wirtschaftliches Paradigma, ein Modell einer «hybriden Ökonomie». Dieses Model umfasst das Traditionelle wie das Moderne, Kleinstunternehmen wie globale Firmen, den informellen wie den formellen Arbeitssektor. Ein erster Schritt ist, den informellen Arbeitssektor und seine Menschen als Wirtschaftsmotor sichtbar zu machen und anzuerkennen, dass er nicht nur Arbeitsplätze schafft, sondern auch ein grosser Dienstleister ist. Denn wer an der Armutsgrenze lebt, geht nicht in Supermärkten einkaufen, Region Kaschmir: Eine Frau spinnt Wolle in Heimarbeit – ohne politische und rechtliche Anerkennungsondern bei Strassenhändlern. Und Abfallsammler tragen auch viel zum Umweltschutz bei. Im grösstem Slum der indischen Megacity Mumbai arbeiten gut 250 000 Abfallsammler, die ihre Ware zur Recylingstation des Slums bringen. Dort wird das Plastik aussortiert, gewaschen, getrocknet, zu Pellets verarbeitet und exportiert.

Gefragt ist also ganzheitliches Denken. Ist der politische Wille dafür vorhanden?
Sagen wir es so: Der politische Wille muss erzwungen werden. Und das geht nur, wenn sich die Arbeiterinnen und Arbeiter organisieren. In dieser Beziehung haben die Abfallsammler von Bogotá Bahnbrechendes geleistet: Sie haben jahrelang auf politischer und gesetzlicher Ebene darum gekämpft, anerkannt zu werden. Nun hat ein nationales Ministerium beschlossen, das Bogotá-Modell auf ganz Kolumbien auszudehnen.

Was können Konsumentinnen tun, um die Situation von informellen Arbeiterinnen zu verbessern?
Das Wichtigste ist, von multinationalen Unternehmen faire Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter in ihrer ganzen Lieferkette einzufordern. Konsumentenorganisationen haben einen grossen Einfluss. Und Menschen im Süden brauchen Verbündete im globalen Norden.