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Die Social-Media-Panik

Leben

Die Social-Media-Panik

  • Text: Gülsha Adilji; Foto: iStock / Eva-Katalin

#nurkeinepanik – Gülsha Adilji ist sich sicher, dass Facebook & Co. weder unserer Konzentrationsfähigkeit noch unserer Stressresistenz schaden. Im Gegenteil. 

Man verteufelte das Zugfahren, bereits vor der Jungfernfahrt. Der Mensch sei nicht gemacht, um eine Strecke so schnell zurückzulegen, das Gehirn würde überfordert von den viel zu schnell vorbeiziehenden Bäumen und Hügeln. Auch die Seele könne nicht so schnell nachreisen, hiess es. Lustig, die Menschen von früher, nicht? Ähnlich war es, als man in Lichtspielhäusern plötzlich nicht nur Stumm-, sondern auch Tonfilme zeigte: Irgendwelche Intellektuellen meinten, das habe eine Verdummung der Massen zur Folge. Ein technischer Fortschritt, der eine Verkümmerung menschlicher Fähigkeiten zur Folge haben soll – kommt Ihnen das bekannt vor?

Aktuell wird uns mit erhobenem Zeigefinger eingeredet, dass Facebook und Co. uns zu Internetzombies machen mit einer Aufmerksamkeitsspanne von – ohhh, ein Eichhörnchen. Ich habe neulich darüber geschrieben, dass es Druck ausüben kann, auf Snapchat zu sehen, wie alle dünn, fit und braun gebrannt irgendwo Spass haben. Ja, das nervt, aber das macht unser Hirn doch nicht gleich kaputt.

Social Media sind für mich alles andere als ein Krankmacher. Im Gegenteil. Sie bieten für mich Impulse und eine Plattform, um meine Sichtweise zu teilen oder an den Output von unglaublich kreativen, horizonterweiternden Menschen zu kommen. Instagram und Konsorten sind ein unendlich grosser Marktplatz, wo sich Fotografinnen, Köche, Kunstturner, Komikerinnen, Schneckenzüchter, Kaffeeröster, Panflötenschnitzerinnen und Wildlachsfischer austauschen und gegenseitig mit Ideen und Visionen anstecken. Solange ich wach bin, bin ich online, und das zehrt weder an meiner Konzentrationsfähigkeit noch an meinem Energiehaushalt; auf Twitter, Tinder und Tumblr werden literarische und andere künstlerische Werke von aussergewöhnlicher und universeller Bedeutung zusammengetragen. Auf dem Twitter-Account von Hazel Brugger flog mir folgender Satz zu: «Schlaf, Ernährung und Bewegung» ist das medizinische Äquivalent zu «Haben Sie schon versucht, ihn aus- und wieder anzuschalten?». Social Media sind das Tor zu einem Wunderland oder zu den absurden Tweets von Trump, aber nicht das Wartezimmer zur Burnout-Hölle.

Menschen, die Thesen aufstellen wie «Die Informationsflut durch Facebook und Twitter kann Stress verursachen» oder «Social Media zerstören unsere Konzentrationsfähigkeit», sitzen meist am äussersten Rand der Digitalisierung. Sie meinen, alles mitmachen zu müssen, und hatten keine Zeit zu lernen, dass man filtern darf. 23 offene Freundschaftsanfragen auf Facebook oder 14 Songempfehlungen auf Spotify – das verursacht einem Digital Native kein Auf- die-Unterlippen-Gebeisse. Wir wissen, dass man schlicht nicht alles anklicken muss. Fertig.

Scrollen wir an der Vorschusspanik vorbei. Wir dürfen diesem technischen Fortschritt ruhig mit Gelassenheit, Musse und Kreativität begegnen. Man kann nämlich problemlos auch entspannt während des Zugfahrens seine Hashtags setzen. Unsere Organe und unsere Psyche werden das aushalten, genauso wie unsere Seele auf der Strecke Bern–Zürich locker mitreisen kann.

Gülsha Adilji (31) ist ehemalige Moderatorin beim Jugendfernsehsender Joiz und geht ab Februar mit ihrem ersten Bühnenprogramm auf Tournee (Daten: atelieer.ch)