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Schicksalsschlag Leukämie: Aufwachsen neben einer todkranken Schwester

Leben

Schicksalsschlag Leukämie: Aufwachsen neben einer todkranken Schwester

  • Text: Erwin Koch; Fotos: Anne Gabriel-Jürgens

Wenn du heulen willst, dann bitte nicht hier: Sie liebten und sie hassten sich. Jasmine war 12, als die Ärzte bei ihrer Schwester Sarah Leukämie diagnostizierten. Sie war 15, als Sarah starb. Die Geschichte einer Sehnsucht.

Jasmine, die nie ans Telefon geht, geht ans Telefon, 19. Dezember 2007, Mittwoch, es hat geschneit, Jasmine ist zwölf, allein zuhause.

Ich bins, sagt Sarah, die grosse Schwester.
Ja?, fragt Jasmine.
Ich habe Leukämie – Blutkrebs.

Sarah legt auf, Jasmine, zwei Jahre jünger, rennt zur Nachbarin und bastelt am Lastwagen aus Karton, den sie ihrem Onkel an Weihnachten schenken will.
Sarah hat Blutkrebs.

Am Abend sitzt Jasmine neben der Mutter, Rigiweg 4, Leukämie, wenn früh entdeckt, sagt Mami, sei gut heilbar, die Wahrscheinlichkeit, dass Sarah wieder gesund wird, ist sehr hoch, neunzig Prozent, übermorgen beginnen sie mit der Therapie, zuerst Kortison, dann –
Gut, sagt Jasmine und dreht sich weg.
Jasmine, ich bin morgen bei Sarah im Spital, gehst du zu Oma?
Gut.
Am Schlüsselbein, erzählt Mami, hat Sarah jetzt einen Port-a-Cath, einen Langzeitkatheter, einen Schlauch, der in Sarahs Vene führt. Damit die Ärzte, wenn sie Sarah die vielen Medikamente geben, Sarah nicht jedes Mal neu stechen müssen.
Sarah.
Sarah.

Im Sommer waren sie in Amerika, Mutter, Vater, Sarah, Jasmine, sechs Wochen lang, New York, Las Vegas, Bryce Canyon, Monument Valley, Grand Canyon, Death Valley, San Francisco, Los Angeles, Universal Studios, Disneyland, Jasmine, Nacht für Nacht, schlief neben der Mutter, Sarah neben dem Vater, einmal sollte Sarah neben Jasmine, gohts no?, neben der schlafe ich nicht.

Der Vater schreibt: Geschätzte Verwandte, Bekannte, Kolleginnen, Kollegen und Freunde aller Art, schliesst uns ein in eure Gedanken, Hoffnungen, Gebete oder in was auch immer, 23. Dezember 2007, 23:40.

An Heiligabend fahren Jasmine und die Eltern nach Luzern, Kinderspital, die Grosseltern sind da, einige Freunde, Sarahs Götti hat einen Weihnachtsbaum gebaut, dünnes Holz, bezogen mit grünem Filz, Kugeln hängen daran, Schokolade, «Stille Nacht, heilige Nacht». Und Jasmine, die weiss, was Sarah zur Bescherung erhält, lacht vor Freude auf, als die Grosse endlich ihr Geschenk aufreisst, eine Kamera.

Am 28., redet der Vater, beginne die eigentliche Chemotherapie.
Dann bekommt Sarah Medikamente, die den Krebs in ihrem Körper vernichten, erzählt Mami.
Gut, sagt Jasmine, langes braunes Haar, eine Spange im Mund.

An Neujahr ist Sarah zuhause, müde liegt sie auf dem Sofa und zappt durch die Programme, wenn ich wieder gesund bin, will ich zwei Katzen, ein Männchen und ein Weibchen.
Spielen wir ein bisschen Klavier?
Keine Lust, sagt Sarah.
Nie hast du Lust.
Ich habe Krebs, schreit Sarah.

Manchmal setzen sie sich zu dritt ans Klavier, die Mutter links, Sarah rechts, Jasmine dazwischen. Als ihr klein wart, stieg keine ohne die andere ins Bad. Bärte aus Schaum klebtet ihr euch ins Gesicht. Als ihr klein wart, zwei und vier Jahre alt, half die Grosse der Kleinen auf den Stuhl und hielt sie fest, bis sie oben war.

Sarah will nicht, dass Jasmine im Haus ist, als die Coiffeuse kommt und ihr Haar kürzt.
Wenn du möchtest, Sarah, dann schneide ich mein Haar so kurz wie du, sagt die Mutter.

Mami bringt Sarah ins Spital.
Prednison
Vincristin
Daunorubicin
Mami holt Sarah im Spital.

Sarah hat jetzt immer Hunger, Sarah lässt keine Kochsendung aus, «Die Küchenschlacht», «Teufels Küche», «Das perfekte Promi-Dinner», Sarah, die nie kochte, steht jetzt breit in der Küche und kocht, was ihr schmeckt.

Einmal klingelt es an der Tür, Jasmine rennt los, Scheisse, lärmt Sarah, mach erst auf, wenn ich mein Kopftuch anhabe.
Scheisse, schreit Sarah, mach nicht so laut.
Scheisse, jetzt will ich «Verbotene Liebe» und nichts anderes.

Mami sagt, das seien die Medikamente, die Sarah so machten.
So war sie schon immer, sagt Jasmine.
Stimmt nicht, sagt die Mutter.
Stimmt doch.

In ihrem Bett hat Jasmine einen Hund aus treuem Stoff, sie nennt ihn Teddy.

Manchmal steht M. vor der Tür, Jasmines Freundin aus dem oberen Stock, zu dritt legen sie sich vor den Fernseher, kichern und essen Kartoffelchips aus der Tüte, Paprika.

Der Vater, Finanzfachmann, redet wenig, wenn er abends aus dem Büro kommt, er sitzt am Computer, liest, schreibt, schweigt, das Gesicht aus Stein.

Wenn du heulen willst, dann bitte nicht hier, zischt Sarah.

Jasmine sei eine gute Schülerin, lobt die Lehrerin, gut genug fürs Gymnasium.
Dann bin ich ja den ganzen Tag weg, vom Morgen bis am Abend, sagt Jasmine.

Und Sarah hat jetzt Bauchweh.
Und Sarah hat jetzt Kopfweh.
Sarah ist schlecht.
Sarahs Nieren.

Das Weibchen, sagt Sarah, wird Luna heissen, das Männchen Mickey.

Heute beendet Sarah ihren zweiten Chemoblock, der nächste beginnt in zwei Wochen, redet Mami, 26. Februar 2008.

Ist Sarah zuhause, liegt sie auf dem Sofa, schaut «Friends» auf DVD, zehn Staffeln, 236 Episoden, 86 Stunden. Ist sie im Spital, wacht die Mutter im Nebenbett.

Jasmine, möchtest du, dass ich nachhause komme? LG Mami
Das möchte ich schon, aber was ist dann mit Sarah?
Jasmine, du sollst wissen, dass ich dich immer immer immer liebe. U Mamelinski
U, Umarmung.

Ich will jetzt Pizza, lärmt Sarah.
Wenn meine Spaghetti fertig sind, schreit Jasmine.

Sarah greift Jasmine ins Haar und zerrt sie zu Boden, die Mutter ruft die Psychologin des Kinderspitals an, bittet um ein Gespräch.

Manchmal stellen sich Mami und Sarah die Krankheit Krebs vor, runde Wesen mit Armen und Beinen, Augen und Nasen, schwarze und weisse. Die weissen tragen Helme und schlagen auf die schwarzen ein, sie schreien und wüten, treiben die Gegner hinaus über eine Klippe, jetzt habe ich wieder einen erwischt, krächzt Sarah, ich auch, sagt Mami.

Und Sarah hat plötzlich Durchfall.
Einen Pilz in der Lunge.
Sarah muss in den Rollstuhl.

Neben Sarahs Bett im Spital hängt ein Foto von dir, sagt Mami.

Jasmine ist im Klassenlager, 18. Juni 2008, am Morgen ruft die Mutter an, vergangene Nacht, sagt sie, dachten wir, Sarahs Darm sei geplatzt, Sarah würde sterben, Sarah schrie vor Schmerz und schrie und schrie, die Ärzte wussten kaum weiter, doch heute geht es Sarah besser, wie geht es dir?
Gut.

Es ist Sommer 2008, Jasmine wird 13, im Mund steckt keine Spange mehr. Mit dem Vater ist sie in Follonica am Meer, Jasmine spielt Pingpong und Darts, gewinnt zwei Turniere im Hotelresort. Stumm liegt der Vater in einem Stuhl und liest schwere Bücher, täglich ruft er Mami an, heute, erzählt er, bekam deine Schwester die letzte Portion ihrer Chemotherapie. Jasmine weint, als am Abend des 20. Juli, ihrem Geburtstag, plötzlich Mutter und Schwester neben ihr stehen, angereist aus der Schweiz, und zwei Nächte bleiben, aber Sarah ist schlecht, Sarah ist müde. Ein Junge reicht Jasmine zum Abschied einen Zettel: Nicht öffnen bis Samstag – Brief für Jasmine – Danke für alles Jasmine! Echt! Ich wollte dir sagen das du mit mir sehr simpatisch warst! Danke!! Ich hoffe wir sehen uns wieder. Bussi.

Geschätzte Verwandte, Bekannte, Kolleginnen, Kollegen und Freunde aller Art. Der gestrige Kontrolluntersuch hat nun keine Krebsherde mehr ergeben! Somit hat Sarah die Krankheit vorerst überstanden. Für die nächsten eineinhalb Jahre benötigt sie noch eine sogenannte Erhaltungstherapie mit täglichen Medikamenten, die wir ihr zuhause verabreichen können. Wir geniessen die Möglichkeit, ohne Angst durchs Leben zu schreiten, 27. August 2008, 22:32.

Jasmine reist nun täglich ins Gymnasium nach R., eine Stunde weit, Sarah wiederholt die zweite Sekundarklasse im Dorf, manchmal, wenn Jasmine abends nachhause kommt, sitzt M., ihre Freundin aus dem oberen Stock, neben Sarah – die kichern und lachen, verschwinden in Sarahs Zimmer.

Das hat nichts mit dir zu tun, redet die Mutter.
Womit dann?
Vielleicht damit, dass Sarah und M. jetzt in der gleichen Klasse sind.

Sarah hat nun einen Freund, die Mutter schenkt ihr künstliche Wimpern, Februar 2009, Sarah will nicht, dass Jasmine im Haus ist, als sie eine Perücke wählt, New Phyllis, tizianrot.
Sag doch was, befiehlt Sarah.
Cool, sagt Jasmine.

Sie schliesst sich in ihr Zimmer, lernt für die Schule, schreibt auf, was sie denkt.

Jasmine und die Mutter fliegen nach Ägypten, eine Woche Sharm al-Sheikh, Pool, Pyramiden, nur Mami und Jasmine.

Sarah, du hast mein Tagebuch gelesen.
Und?
Du gibst es also zu?
Wenn du es so herumliegen lässt.
Du Schwein, schreit Jasmine, du machst mit den Menschen, was du willst.
Du doch auch.

Manchmal liest Jasmine den Zettel, den ihr der Junge in Italien gab, danke für alles Jasmine! Echt!

Und Sarahs Becken tut weh.

Ende Mai 2009 feiert die Familie ein Dankesfest, der Vater, eine Schürze vor dem Bauch, steht am Gartengrill, Sarah reicht den Eltern ein Plakat: Ohne euch hätte ich das nicht geschafft, Gutschein für ein Verwöhnungsprogramm à la Sarah, morgens von ca. 8.30 bis ca. 24 Uhr, Datum wird noch bekannt gegeben. HEMG.
HEMG, habe euch megagern.

Es ist Sommer, Follonica, Toscana, Sarah hat ihren Freund dabei, die Augen tun weh, die Beine, Kleine, du nervst, Jasmine, zisch ab.

Sarah hat Asthma.

Jasmine ist 14, täglich reist sie ins Gymnasium nach R., eine Stunde weit, abends schliesst sie sich in ihr Zimmer, lernt, streichelt den Hund aus treuem Stoff. Hört durch die Wand das Lachen von Sarah und M., die einst ihre Freundin war.

Am 23. September 2009 hat die Grosse Geburtstag, mit Freunden steht sie vor dem Haus, trinkt Sekt und kichert, klopft ans Fenster, Sweety, reich mir doch bitte den Asthmaspray.
Hol ihn dir selber.
Dann merkt Mami, dass ich betrunken bin.
Jasmine reicht ihr den Spray.

Mami erzählt, Sarah müsse wieder ins Spital, ihre Hüfte sei kaputt.

Der Vater krümmt sich über den Computer: Geschätzte Verwandte, Bekannte, Kolleginnen, Kollegen und Freunde aller Art, die Krebsbehandlung findet heute Sonntag ihren definitiven Abschluss! Leider wird diese Nachricht etwas getrübt. Ende Oktober wurde festgestellt, dass Sarah durch das Kortison, welches in der Chemotherapie eingesetzt werden musste, eine beidseitige Hüftkopf-Nekrose erlitten hat. Beide Hüftköpfe sind schwer beschädigt, die Gelenke müssen operiert werden. Für künstliche Hüftgelenke ist sie jedoch noch zu jung. Deshalb wird jeder Oberschenkelhalsknochen durchgetrennt, das Hüftgelenk anders positioniert und das Ganze dann wieder fixiert. Jetzt schaffen wir das auch noch, 20. Dezember 2009, 14:33.

Der Eingriff dauert acht Stunden, Mitte Januar 2010. Im Internet, www.ricardo.ch, kauft der Vater ein Krankenbett, elektrisch verstellbar, mit dem Nachbar trägt er es ins Wohnzimmer, Erdgeschoss links, acht Wochen lang liegt Sarah auf dem Rücken und sieht hinaus in den Garten, es ist Februar, März, auf der Küchenablage, Schachtel neben Schachtel, sind Medikamente, ein Duschstuhl steht im Raum, ein Rollstuhl, Sarah darf sich nicht bewegen.

Mami, Hunger.
Jasmine, die Fernbedienung.
Halt die Schnauze, Jasmine, du bist so fett.

Abends «Desperate Housewives» mit Freund und Freundin, Jasmine setzt sich daneben.
Die Mutter sagt: Sarah, hack nicht ständig auf deiner Schwester rum.
Wenn die doch ständig nervt.
Jasmine, sagt Sarah, falls du heute in die Stadt gehst, bring mir doch bitte einen blauen Thomas-Sabo-Stein mit.

Sarah schläft, als Jasmine nachhause kommt, leise legt sie den Schmuck neben Sarahs Kissen, Sarah erwacht, Scheisse, du hast mich geweckt, blöde Kuh.
Ich hasse dich, schreit Jasmine, ich hasse dich, hasse dich.

Am 27. März 2010, nachts um halb eins, postet Sarah durch die Zimmerwand: Geh ins Bett, Kleine.
Ich schlafe berreits.
Ich merks, du hast dein Deutsch verlernt.
Voll nicht, das ist normal geschrieben.
Ja, DaS fInD IcH aUcH.
So schreibe ich doch gar nicht.
Je sais, je sais.
Je ne sais pas, äim a tourist.
Hää?
Bööö!
Sarah, meine Beiträge gefallen dir wohl sehr?
Nääi.

Sarah, eine Krücke links, eine rechts, begleitet Jasmine in die Schule, zwei Jungs lachen auf, Jasmine sagt: Ihr Kindsköpfe, was ist lustig, wenn jemand nicht gut gehen kann?

Jasmine, zum ersten Mal in ihrem Leben, ist verliebt – er heisst M., ein Schüler im Gymnasium von R.
Bring ihn nachhause, wenn du möchtest, sagt Mami.
Stell ihn uns vor, sagt der Vater.

Sarah im Rehabilitationszentrum des Kinderspitals Zürich, Affoltern am Albis, fünf Wochen ist sie dort, Physiotherapie, Wassertherapie, Massagen, Jasmine setzt sich neben Mami, lehnt sich an ihren Arm, «Grey’s Anatomy».
Kleine, fragt Sarah, kannst du schweigen?
Gestern küsste ich einen anderen, kichert Sarah.

Es wird Sommer, M. macht Schluss mit Jasmine, ich liebe dich nicht mehr, sorry, kann nichts dafür, sorry.

Am 11. Juli 2010 bricht die Familie nach Amerika auf, 09:35, LX 16, fünf Wochen Ferien, Jasmine sitzt neben Mami, in New York, John F. Kennedy, will Sarah sofort ins Hotel.

Weil Sarah jetzt müde ist.
Weil Sarah keine Lust aufs Shoppen hat.
Keine Lust auf den Central Park.
Sarah.
Sarah.
Washington Philadelphia

Der zwölfte Tag führt hinauf nach Denver, Colorado. Jasmine, als sie schon im Mietwagen sitzt, wird schlecht, die Mutter führt sie zur Toilette, Jasmine erbricht, aber Sarah will jetzt ins Hotel, ich bin megamüde, ich will ins Hotel.
Die Welt dreht sich nicht allein um dich, sagt der Vater.

Sarah hinkt zur Toilette, wann kommt ihr endlich, verdammt, ich will ins Hotel.
Mir ist schlecht, sagt Jasmine.
Halt die Fresse, lärmt Sarah.
Sarah will auf den Beifahrersitz.
Da sitzt, sagt der Vater, deine Mutter.
Sarah zwängt sich neben Jasmine, lärmt und schreit, Jasmine schlägt ihr die Hand ins Gesicht.

Als sie erwacht, 23. Juli 2010, Fairplay, Colorado, 120 Kilometer hinter Denver, ist es Mittag, niemand hat Jasmine geweckt. Der Vater, bleich und schwer, sitzt vor dem Computer, Sarah geht es schlecht, Mami hat sie in eine Klinik gebracht, zwei Stunden von hier, Jasmine legt sich aufs Bett, wartet.

Am 28. Juli 2010 reisen Sarah und die Mutter von Salt Lake City nach San Francisco, von dort nach Zürich, vom Flughafen direkt ins Kinderspital Luzern, ein Rückfall, Jasmine und der Vater, beide stumm, folgen zwei Tage später, Schlaftabletten.

Mami wartet am Rigiweg 4, Erdgeschoss links, Mami sagt: Jasmine, auch wenn Sarah sterben sollte, werde ich nie vergessen, dass ich eine zweite Tochter habe.
Die zweite Tochter.
Vincristin
Daunorubicin
Antidepressiva für den Vater.

Jasmine besucht Sarah in ihrem Zimmer, 2 West 226, 1. August 2010, was willst du hier?

Das sei kein Rückfall, sagen die Ärzte, sondern eine Zweiterkrankung, bedingt durch die Chemotherapien gegen die erste, Sarahs zweite Krankheit heisst AML, akute myeloische Leukämie, Sarahs Chancen, sie zu überstehen, liegen bei 25 bis 50 Prozent, sagen die Ärzte. Falls wir geeignetes Knochenmark finden. Sarah hat doch eine Schwester?, sagen die Ärzte.

Ende August 2010 sitzt Jasmine, 15, im Kantonsspital Luzern, jemand sticht ihr eine Nadel in die Vene, versucht es zuerst links, dann rechts, nimmt ihr Blut, Jasmine, sagt Mami, Jasmine, wenn ich ehrlich bin, dann wäre ich froh, du kämst als Spenderin nicht infrage.
Warum?
Weil ich dich kenne.
Was meinst du?
Dein Leben lang würdest du dich plagen, wenn dein Knochenmark mit Sarahs identisch wäre. Und du ihr davon gäbst. Und Sarah trotzdem stürbe.

Täglich reist Jasmine ins Gymnasium nach R., kommt abends nachhause, grüsst den Vater, isst allein, redet kaum, schliesst sich in ihr Zimmer, schreibt.
Ob das Verliebtheit ist, was ich für Männer empfinde? Oder nur mein Verlangen nach Geborgenheit?

Jasmine isst kaum noch, Jeansgrösse 32, manchmal, wenn Sarah am Wochenende zuhause ist, steht sie nachts vor Sarahs Medikamenten und denkt, wie es wäre, sie zu schlucken.
Wie es wäre, Sarahs Tabletten zu schlucken, alle auf einmal.

Mami kauft Jarsin, getrocknetes Johanniskraut, Stimmungsaufheller, bitte nimm das, Jasmine, ich liebe dich nicht weniger als deine Schwester.

Jasmine spielt im Dorftheater mit, barfuss steht sie auf der Bühne der Mehrzweckhalle, einen langen braunen Rock am Leib, langes braunes Haar, Uraufführung am 11. September 2010, 20:00, Applaus.

Das Gymnasium befiehlt zu einer Nachtwanderung, 800 Schüler und ihre Lehrer stehen auf einem Hügel, es ist nicht kalt, aber Jasmine friert, Jasmine friert und zittert und hört nichts mehr, Jasmine weint vor Angst und schluchzt. An der Hand eines Lehrers, den sie mag, Herr E., steigt sie ins Tal, zurück zur Schule in R., es ist früher Morgen, noch dunkel, Jasmine fährt nachhause ins Dorf, Rigiweg 4, redet nichts, verschwindet im Bett.

Sarah, haarlos, bleich, wird 17, 23. September 2010, sie wünscht sich Fondue chinoise im Landgasthof Menzberg, Sarah bäckt eine Torte, nimmt sie mit zum Fest, Jasmine klatscht. Ein letztes Mal will sie mit M. reden, ihrem ersten Freund, der sie nicht mehr will, Jasmine wartet in der Schule auf ihn, sie wartet, wartet, M. kommt nicht, Jasmine weint, sie heult, kann nicht stehen, nicht gehen, der schulpsychologische Notfalldienst ruft den Vater an, der Vater die Mutter, die neben Sarah sitzt, Mami holt Jasmine nachhause, streichelt ihr langes braunes Haar.

Wie geht es Sarah?, fragt Jasmine.
Wie geht es dir, fragt Mami.

Eine Freundin der Mutter bittet die «Neue Luzerner Zeitung» um einen Aufruf, 4. Oktober 2010: Helfen kann Sarah M. nur noch eine Knochenmarkspende.
Warum bist du mit einer Pflegerin auf dem Bild?
Weil ich nicht allein aufs Bild wollte.
Warum hast du nicht mich gefragt?, sagt Jasmine.

Die Freundin der Mutter gründet eine Facebookgruppe, Rettet Sarah – rettet Leben, über tausend Menschen melden sich, Familien, Firmen, Vereine, bereit, von ihrem Knochenmark zu geben, wenn es denn zu jenem von Sarah passt.

Am 5. Oktober 2010 ist Sarah zuhause, vier Tage später im Spital, am 21. ist sie zuhause, vier Tage später wieder im Spital, Hirnhautreizung, am 29. zuhause, am 8. November 2010 im Spital, Lungenentzündung, eine Woche später darf Sarah nachhause, ihre Blutwerte sind gut, zwei Tage später ist Sarah im Spital, um die Hüftplatten zu entfernen.

Ein Trauma, sagt die Psychologin, wissen Sie, was das ist?
Sie reicht Jasmine ein Blatt, Jasmine unterschreibt, sich nicht zu töten.

Zoloft, fünfzig Milligramm am Morgen.
Mami, bleib bei mir, sagt Sarah.
Ich muss zu Jasmine, sagt die Mutter.
Und wenn ich sterbe?
Du stirbst weder morgen noch übermorgen, aber ich weiss nicht, ob Jasmine, wenn ich jetzt nicht bei ihr bin, die nächsten Tage überlebt.
Vielleicht von einer Brücke springt.

Die Psychologin sagt: Frau M., sorgen Sie dafür, dass Ihre Tochter zur Schule geht. Und dass Jasmine, wenn sie nachhause kommt, nie allein ist. Stellen Sie Ihre Tochter vor keine schwierige Entscheidung, belasten Sie Jasmine nicht.

Fünfmal setzt sich Jasmine ins Zimmer der Psychologin, hört sie reden und reden, bricht dann ab.
Zoloft.

Es ist Mittwoch, 24. November 2010, Jasmine ist im Mathematikunterricht, hinterste Reihe, und schaut heimlich auf ihr Handy. Und liest jetzt, fünf Anrufe in Abwesenheit. Fünf Anrufe von Mami. Jasmine bittet, das Zimmer verlassen zu dürfen, im Gang ruft sie die Mutter an, Jasmine, wir haben einen Spender, wir haben für Sarah passendes Knochenmark. Jasmine rennt zurück ins Zimmer, umarmt eine Freundin, weint leise.

Sie schreibt: Ich möchte in ein grosses, nach Sommer duftendes Blumenfeld.

Liebe Verwandte, Bekannte, Kolleginnen, Kollegen und Freunde aller Art, vertrauen wir weiterhin!, 25. November 2010, 22:15.

Ist Sarah zuhause, fragt sie Jasmine, was sie essen möchte, was im Fernsehen schauen. Sarah sagt, heute siehst du gut aus.

Am 13. Dezember 2010 fahren Sarah und die Mutter ein erstes Mal nach Basel ins Universitätsspital, Transplantationszentrum, am Abend schickt Mami ein Mail: Schon Echo, Ultraschall, Lungentest gemacht. Steht noch viel auf dem Plan.

Jetzt ist Heiligabend 2010, Sarah ist da, haarlos, bleich, Sarahs Freund ist gekommen, Sarahs Freundin, Erdgeschoss links, Sarah lacht, sie ist nicht müde, nicht laut, Sarah lacht und gackert, alle sitzen am Tisch, spielen «Jenga», ein Geschicklichkeitsspiel, und trinken Eistee, weil Sarah Alkohol nicht trinken darf, noch elf Tage bis zur Transplantation, es schneit.

Mit dem Vater und Sarahs Freundin, die einst ihre war, fliegt Jasmine am 26. nach London, drei Tage Abstand, Sarah postet auf Facebook: Danke für den Abend [Smiley] [Herzli]. Jasmine antwortet: It was great.

Neujahr 2011, Jasmine, 15, ist neu verliebt, er heisst L., Jasmine, eine Nagelschere in der Hand, sitzt in ihrem Zimmer und telefoniert mit L., fragt ihn, was wohl schärfer sei, eine Nagelschere oder ein Messer, L. versteht nicht.
Schliesslich kauert Jasmine im Bad, Rigiweg 4, schneidet sich den Unterarm auf.
Noch zwei Tage.

Ich liebe dich und würde alles für dich tun, meine Sis. Sarah antwortet: Danke, Süsse, es wird klappen.

4. Januar 2011, während vier Stunden tropft fremdes Knochenmark ins Sarahs Körper, 1.2 Liter, die Mutter und Sarahs Freund sitzen neben ihr, Schüttelfrost am Tag danach.
Meronem
Ciproxin
Perfalgan

Ein Stich. Ein Schnitt. Eine schnelle Handbewegung, dann eine langsame. Es ist still um mich. Nichts höre ich. Nur meinen Atem. Meine Erleichterung. Diese Farbe. Rot. Blutrot. Mein Blut. Meine Existenz. Mein Wille. Noch einmal? Ja, noch ein Schnitt. Es tut gut. Der Schnitt. Blut und Erleichterung, schreibt Jasmine in ihr Buch.

Die Mutter wacht und schläft neben Sarah im Universitätsspital Basel, jeden Abend schreibt sie der Facebookgruppe, Sarah erbricht Blut, Sarah hat Blut im Urin, Sarah geht es von Stunde zu Stunde besser, 22. Januar 2011.

Es ist Vormittag, 6. Februar, Jasmine hat bei ihrem Freund geschlafen, nun sitzt sie an einem Tisch, und jemand reicht ihr das Telefon, Jasmine, sagt die Mutter, Sarah liegt auf der Intensivstation, ihre Nieren versagen, bitte komm. Mit dem Vater und Sarahs Freundin, die einst ihre war, fährt Jasmine nach Basel, Sonntagnachmittag, sie warten in einem engen Raum, Neon leuchtet – endlich kommt Mami.

So habe ich sie noch nie gesehen. Abgemagert, erschöpft, bleich und voller Angst. Mit zaghaften Schritten folge ich ihr, und dann sehe ich Sarah. Sie liegt da. Da wie tot. Ihre Lippen sind blau. Die Haut weiss wie Schnee. Die Augen mag sie nur mühsam öffnen, und überall an ihr hängen Schläuche. Warum sie und nicht ich?, schreibt Jasmine in ein Buch, graues Leinen, darauf das Zifferblatt einer Uhr, zwölf vor zwölf.

Und Mami sieht die Narben auf Jasmines Arm, Jasmine, hast du Borderline?

Täglich fährt sie zur Schule, kommt abends wieder, kocht allein, isst allein, grüsst den Vater, wenn er ins Haus tritt, müde und stumm, geht in ihr Zimmer, ich hatte immer Angst vor Schmerzen, Selbstverletzung und nun? Nun bin ich stolz darauf. Stolz auf meine Narben. Stolz, dass ich keine Angst mehr vor den Schmerzen habe. Das erste Mal war unbeholfen und ängstlich. Ich versteckte meine Narben. Jetzt weiss ich genau wie, wann und wo. Ich verstecke meine Narben nicht mehr. Jeder kann sie sehen, doch keiner weiss, dass sich hinter all den Narben einfach nur das zerbrechliche Mädchen versteckt. Niemand sieht MICH.

Der Vater fragt: Wie geht es dir?
Wie soll es mir gehen?, sagt Jasmine.

Der Vater krümmt sich über den Computer: Liebe Freunde und Bekannte, am Freitagabend teilten die Ärzte uns mit, dass sie für Sarah keine weitere Chance mehr sehen. Das grundsätzliche Problem ist nicht einmal die Niere oder die auch betroffene Blase, sondern liegt darin, dass mittlerweile alle neu transplantierten Stammzellen abgestorben sind und sich nicht einnisten konnten. Die Transplantation ist somit gescheitert, auch wenn es anfänglich gut aussah. Die Ärzte geben Sarah noch einige Tage, vielleicht eine Woche oder so. Wir bitten euch noch einmal um eure Energie, damit Sarah und wir gut und in Ruhe diese letzte Zeit verbringen und einander gehen lassen können, 20. Februar 2011, 10:51.

Möchte einen Winterschlaf, notiert Jasmine.

Jetzt steht sie neben Sarahs Bett, der Vater, die Mutter, Sarahs Freund, ihre Freundin, Montag, 28. Februar 2011, ein Tag ohne Wetter, Sarah hustet seit drei Uhr morgens.
Sarah, sagt Mami leise, Sarah, Jasmine ist hier.
Jasmine ist hier.
Sarah dreht den kahlen weissen Kopf, die Augen weit und starr.
Sarah, wenn du gehen möchtest, dann geh, sagt Jasmine.
Sarah schweigt und wimmert, schläft weg, erwacht, die Augen weit.
Mami, ich mag –
Ich mag –
Sprich weiter, sagt die Mutter.
Mag nicht mehr, sagt Sarah.

Gib mir drei Zeichen, Sarah, damit ich weiss, dass ich dich richtig verstehe, willst du sterben?
Ja.
Willst du noch länger kämpfen?
Nein.
Hebe die rechte Hand.
Sarah hebt die rechte Hand.
Willst du Papi noch etwas sagen?
Sarah schweigt.
Alles ist gut, geh nur, sagt der Vater.
Danke für alles, sagt er.
Geh, wenn du gehen möchtest, sagt Jasmine.

Wann kommen die endlich? – Sarahs letzte Worte, Zimmer C 28.
Die Ärzte kommen.
Morphium
Morphium
Noch zwei, drei Stunden, sagen sie, vielleicht auch Tage. Ihr Herz ist stark.
Morphium und Sauerstoff
Jasmine legt sich auf eine schmale Liege an der Wand, kann nicht schlafen.

Es wird Dienstag, 1. März 2011, Sarah, die Augen geschlossen, atmet langsam und laut, ihre Lunge rasselt, man hört sie noch im Flur vor C 28, Mami führt ihre Hände über Sarahs Hals, ohne ihn zu berühren, über ihre Brust, Sarah schwitzt, ihre Füsse sind jetzt kalt, es ist Abend, und Sarahs Atem stockt, setzt aus, setzt ein, Jasmine, die Mutter, der Vater, Sarahs Freund, Sarahs Freundin stehen am Bett und halten sich an den Händen.

Danke für alles, sagt der Vater.

Sarah geht um 19 Uhr 35.

Der Vater schliesst ihre Augen, er legt sich zu Sarah ins Bett, hält ihre Hand, schnuppert an ihr, dann schläft er ein, vielleicht eine Stunde lang.
Jetzt wäscht er sie.
Zieht ihr Ringelsocken über die Füsse, blau-weiss, setzt die wollene Mütze auf Sarahs kahlen Kopf, Mami, dünn und weiss, kauert auf einem Stuhl.
Und die Kleine lackiert die Nägel der Grossen tizianrot.

Irgendwann läuft Jasmine zu «McDonald’s», irgendwann ruft der Vater den Nachbar an, bitte hol das Krankenbett aus dem Wohnzimmer, stell es in die Garage.

Im Auto reisen sie zurück ins Dorf, es ist Nachmittag, man wartet beim Friedhof und schweigt, endlich fährt ein langer schwarzer Wagen vor, zwei Männer steigen aus, tragen den Sarg in einen kahlen Raum, niemand weint, in ihren Armen hält Sarah einen Esel aus grauem Plüsch, Murphy.
Lasst uns gehen, sagt der Onkel, ich koche Spaghetti.

Sarah, beschütze mich [Herzli] Jasmine, Facebook, 2. März 2011.

Zoloft, fünfzig Milligramm am Morgen.

Deine Schwester hat gewusst, sagt Mami, wie schlecht sie dich oft behandelte.
Hat sie auch gesagt, warum?
Weil sie so war, wie sie war, sagt die Mutter.
Sie sitzen am Tisch, der Vater klappt seinen Laptop auf, was schreiben wir?

Sarah M.
23. September 1993 bis 1. März 2011
Und eines Tages sagt die Stimme meines Herzens klar und deutlich JETZT, und nichts und niemand kann mich aufhalten.

Nach dreijährigem Kampf gegen den Krebs hat sie selber entschieden, den Weg ins Licht anzutreten. Wir sind stolz, wie sie dies alles gemeistert und nie ihren Lebensmut verloren hat. In Liebe und Dankbarkeit.

Jasmine benützt jetzt Rasierklingen, die Eltern wählen eine Urne aus, sternförmig, weiss.

Ich habe da noch etwas, sagt die Mutter, Sarahs Testament: Meine Thomas-Sabo-Sachen bekommt meine Schwester Jasmine, meine Box im Nachttischli wird vergraben, meine Porzellankatzensammlung bekommt Grosi, mein Armketteli bekommt meine beste Freundin M., Mami bekommt meinen Ring *hope*, Papi meine Bücher und alle elektronischen Sachen, mein Freund M. bekommt das «Ohne dich ist alles doof»-Kissen, meine Amerika-Sachen werden NICHT weggeworfen (Fahne usw.), keine traurige Musik an der Beerdigung, aber trotzdem Musik, nicht zu viel Kirchenschnickschnack, Fotodiashow, lustige Reden, schöne und viele Blumen.

Bei der Abdankung möchte ich etwas sagen, sagt Jasmine.

Sie streicht durch die Strassen der Stadt Luzern und kauft ein dickes Buch voller vorgedruckter Fragen, «Mein Buch für das Leben», Datum des ersten Eintrags: 8. 3. 2011, Was ich mir von diesem Buch verspreche: Dass es mir hilft, über mein Leben klar zu werden.

Am Abend steht sie im Aufbahrungsraum des Dorfs, Sarah liegt im Sarg, Sarahs Freund ist hier, Sarahs Freundin, die Eltern, Grosseltern, Onkel, Tanten, alle warten, niemand spricht, niemand spricht – endlich tritt Jasmine zu Sarah, kniet sich zu ihr, streichelt Sarahs gelbe kalte harte Hand, ihr Gesicht.
Dann Mami.
Dann der Vater.
Ein langer schwarzer Wagen fährt vor, zwei Männer steigen aus, holen Sarahs Sarg, fahren weg, die Glocken der Kirche läuten drei Minuten lang.

Jasmine kauft neue Schuhe.
Jasmine ritzt die Oberschenkel.

Sarahs Asche liegt in der Urne, sie ist sternförmig und weiss, steht auf der Ablage, wo Sarahs Medikamente waren, Rigiweg 4.
Ich kann, sagt der Vater, bei der Abdankung nicht reden.

Am Vormittag des 12. März 2011, einem kalten Samstag, sitzt Jasmine in der Mehrzweckhalle des Dorfs, 400 Stühle stehen in Reihen, eine rote Rose auf jedem Stuhl und eine Tüte M&M’s, die Sarah so sehr mochte, von einer Leinwand leuchten Fotos, Sarah als Baby, Sarah mit Katze, Sarah mit Schwester, mit Eltern, Grosseltern, Sarah vor einem Sportflugzeug, Sarah vor der Tower Bridge, Sarah im Rollstuhl, haarlos unter einer Mütze.

Jetzt steigt Jasmine auf die Bühne, setzt sich an den Flügel und spielt «L’après-midi», die Melodie aus «Die fabelhafte Welt der Amélie», fehlerfrei und leise. Dann, ihre neuen Schuhe an den Füssen, steht sie auf, stellt sich an den Rand der Bühne, die sie vom Dorftheater kennt, hält ihre Rede: Jeden Morgen gehe ich aus meinem Zimmer. Ich warte, bis du durch die Tür kommst. Aus deiner Tür. Durch die du nie mehr kommen wirst. Du wirst nie bei meiner Maturafeier mich umarmen können. Ich werde dich nie neben mir stehen haben und dich anschauen können bei meiner Hochzeit. Ich werde dich nie als Gotte meines Kindes eintragen lassen können. Ich muss jemand anderes suchen. Ich will aber niemand anderes. Ich will dich. Ich werde dir schreiben. Ich werde dir Briefe in den Himmel schicken, und du wirst sie lesen. Du wirst zu mir kommen und mir zu spüren geben, dass du sie bekommen hast. Der Absender wird sein: Jasmine, Rigiweg 4, die dich ewig liebt. Der Empfänger wird sein: Sarah, Himmelstrasse 23, die mich immer liebt.

Endlich liest die Mutter vom Blatt, was Sarah ihr vor Wochen diktierte, Sarah dankt den Grosseltern, dankt Gotte und Götti, ihrer Freundin, dem Freund, dem Vater, danke, dass du mir von Amerika so viel gezeigt hast. Und jetzt zu Jasmine, meiner kleinen Schwester. Ich habe dich immer geliebt, auch wenn ich das nicht zeigen konnte. Dafür bitte ich dich um Verzeihung. Ich werde immer bei dir sein, im Bus, in der Schule, in der Stadt, überall. Setze nun einen Fuss vor den anderen, geh Schritt um Schritt, damit du wieder zurückfindest auf den Weg, den du vor drei Jahren wegen mir verlassen musstest. Ich helfe dir dabei. So, jetzt bin ich fertig, tragt Sorge zueinander und bis irgendwann. Eure Sarah.

Am Abend DVD, «Hey Dude, Where’s My Car».

Jasmine ist 15.
Jasmine geht wieder zur Schule, hält es dort zwei Stunden aus, fehlt dann eine Woche. Lieber Herr E., schreibt sie ihrem Lehrer, manchmal, wenn ich in den Spiegel blicke, bin ich wie von mir selbst geschockt. Dann habe ich das Gefühl, dass nicht ich die bin, die ich sehe. Jasmine steht am Morgen nicht auf, geht nicht zu Schule, Jasmine macht Schluss mit L., liebt nun J., schläft mit ihm, 1. April 2011. Manchmal legt sie sich auf Sarahs Bett und dämmert weg.

Bevor sie ritzt, putzt Jasmine die Klinge mit Merfen.

Die Prorektorin ruft an und schlägt Jasmine vor, wieder zur Schule zu kommen, Prüfungen brauche sie keine zu bestehen, Jasmine könne, wenn Prüfungen seien, leere Blätter abgeben, den Übertritt, Mitte Jahr, auf die höhere Stufe schaffe sie so oder so. Die Mutter stellt ihr das Frühstück hin, Mami fährt sie nach R. ins Gymnasium, holt sie, wenn Jasmine es wünscht, abends ab, manchmal fährt die Grossmutter, der Grossvater, Tag für Tag.

Nach einem Monat macht Jasmine auch Schluss mit J., im Juni schickt sie den Menschen, die sie mag, eine Karte, darauf ein Foto, Sarah und Jasmine, zwei und vier Jahre alt, eng umschlungen, ich danke für alles, was ich von dir in den letzten Jahren bekommen habe, sei es ein SMS, ein Brief, Worte.

Lieber Herr E., Sie werden sich fragen, warum ich mich ritze und es nicht verstecke, schreibt sie dem Lehrer, Herrn E., ich weiss es nicht.

Die Eltern kaufen zwei Katzen, ein Männchen, ein Weibchen, Mickey und Luna, Jasmine küsst sie, Jasmine streichelt sie während Stunden, kämmt ihr Fell.

Wieder reist die Familie nach Amerika, Sommer 2011, San Francisco, Los Angeles, Palm Springs, Las Vegas, Atlanta, Fort Lauderdale, Miami, Sarahs Freund ist dabei, Sarahs Freundin, ich bin hier das fünfte Rad am Wagen, Sarah, was soll ich tun?

Am 20. Juli 2011, unterwegs in den USA, wird Jasmine 16, Sarah, ich richte diese Bitte als Geburtstagswunsch an dich. Ich weiss selbst, dass ich an seiner Angel hänge. Bitte, mach irgendwas, dass es trotzdem zu einem zweiten Mal kommen wird. Ich habe nur noch Angst. Ich bitte dich wirklich sehr darum. Ich habe dich lieb. Danke! Du weisst, ich brauche etwas Klares. Gute Nacht. Sarah – ich weiss nicht weiter. Bitte Sarah, hilf mir! Ich bin irgendwie am Verzweifeln. Gib mir ein klares Zeichen, was ich machen soll. Bitte, bitte, bitte.

Auf ihre Schulter lässt Jasmine das Wort Sarah schreiben, Tattoostudio Crimes and Needles, Luzern, das Wort Sarah in kunstvoll geschwungener Schrift, ein grosser Flügel rechts, einer links, die Mutter macht ein Foto, Jasmine schickt es Sarah, Facebook, 27. August 2011, Für dich! [Herzli]

Facebook, 1. September 2011, 6 monate. Ein halbes jahr. Ja 6 monate. Ein ganzes halbes jahr. 6 monate ohne dich! ): komm doch einfach zurück.

Eines Abends, mit ihren Eltern am Tisch, sagt Jasmine, sie höre auf zu ritzen.
Gute Idee, sagt der Vater.

Sarah, seit über einem Monat bist du nun schon auf meinem Rücken verewigt. Mich gibt es nur noch mit dir. Bis bald, deine Jasmine.
Sarah, wie gern würde ich dir L. vorstellen, du würdest ihn super finden.
Sarah, ich muss heute zum Zahnarzt.

Es ist Dezember, Jasmine, als Schmutzli verkleidet, begleitet den Samichlaus durchs dunkle Dorf.

An Heiligabend, zum ersten Mal ohne Sarah, sind Jasmine und ihre Eltern bei Freunden, sie singen, sie essen, sie lächeln, gehen früh nachhause, Jasmine sagt, ein bisschen mehr als doofe wollene Socken und zwei seelenlose Gutscheine, Starbucks und H&M, wo sie ohnehin kaum einkaufe, hätte sie als Bescherung schon erwartet. Der Vater dreht sich weg und schweigt, lärmt dann plötzlich auf: Jasmine, was man auch macht, immer ist es falsch, dein Getue hängt mir zum Hals heraus, nicht erst heute, sondern seit Jahren, dieses gottverdammte ständige Genörgel, zum Kotzen ist das, zum Kotzen, da fliegt man mit dir nach Amerika, und es ist nicht recht, man schickt dich, weil du nichts lieber möchtest, nach Deutschland in eine Schreibwerkstatt, und es ist nicht recht, nichts ist recht, rein gar nichts, du bist verdammt noch mal nicht die Einzige, die mit Sarahs Tod fertig werden muss, dein Gejammer bringt uns Sarah nicht wieder, zum Kotzen ist das.

Sarah, Sarah, Sarah, dir geht es doch immer nur um Sarah, schreit Jasmine, Heiligabend.

Betreff: Weihnachten
Datum: 25. Dezember 2011 13:03
An: Jasmine
Geliebte Jasmine, möglicherweise liest Du dieses Mail gar nicht oder erst später – dass ich es schreibe, ist aber in jedem Fall gut. In Wut, Enttäuschung und Schmerz habe ich gestern Abend Worte gebraucht, für die ich mich entschuldigen möchte. Ich habe die Beherrschung verloren. Wenn Du sagst, mir ginge es nur um Sarah usw., dann ist dies eine eingeschränkte Sicht. Sarah ist nur die eine Hälfte. Dass ich hier bin und neue Pläne zu entwickeln beginne usw., hat ganz viel mit DIR zu tun. Du bist meine Tochter, mit der ich noch ganz viel erleben möchte, mein Leben noch ganz lange teilen möchte. Du erfüllst mich immer wieder mit ganz viel Stolz, den ich manchmal gar nicht getraue zu zeigen, da ich Angst habe, dass Du mich erst recht wieder zurückweist. Jasmine, ich liebe Dich und bin unendlich stolzer, als ich es mit Worten ausdrücken kann! Pa

Jasmine und die Mutter fliegen nach Schweden, am Flughafen Zürich, vor Gate A23, erklingt Sarahs liebstes Lied, «Somewhere Over the Rainbow». Um halb vier wird es in Stockholm dunkel, die Lichter der Stadt leuchten auf, es ist kalt und windig, anderthalb Stunden, Arm in Arm, stehen Jasmine und Mami allein auf dem Deck eines Boots, Hafenrundfahrt, Mami, sagt Jasmine, ich will Schwedisch lernen.

Jeden Tag fährt sie in die Schule, kommt wieder, geht in ihr Zimmer, Lehrer E. schreibt, manchmal habe er den Eindruck, es sei ihr wichtig, anders zu sein, 9. April 2012.

Im Juni, vom Rotary Club vermittelt, zieht eine Schülerin aus Kalifornien ins Haus, Rigiweg 4, und wohnt während vier Wochen in Sarahs Zimmer, die Eltern bringen die Mädchen ins Tessin, nach Paris, sie lachen und tanzen, am 8. Juli 2012 beginnt Jasmine ein neues Tagebuch, blaues Leinen, irgendeinmal möchte ich um die Welt reisen und meine verlorenen Teile finden.

Dann fliegt sie nach San Francisco und lebt vier Wochen im Haus des Mädchens, Jasmine feiert, er ist nicht der Schönste, doch er hat irgendetwas, das mich sehr anzieht, ich weiss nicht was. Ich wusste ganz genau, dass er mich küssen wollte. Und ich wollte es auch.

Sie weint, als sie Ende August wieder ins Gymnasium fährt, noch zwei Jahre bis zur Matura, Mami, ich bin jemand, der nicht fehlt, wenn er nicht in der Schule ist.

Zoloft, noch 25 Milligramm.

Sie schaltet Sarahs Bild, tizianrotes Haar, auf ihr Handy, im Portemonnaie, mit eigener Hand geschrieben, trägt sie Sarahs Vermächtnis: Ich habe dich immer geliebt, auch wenn ich das nicht zeigen konnte. Dafür bitte ich dich um Verzeihung. Ich werde immer bei dir sein, im Bus, in der Schule, in der Stadt, überall. Setze nun einen Fuss vor den anderen, geh Schritt um Schritt, damit du wieder zurückfindest auf den Weg, den du vor drei Jahren wegen mir verlassen musstest. Ich helfe dir dabei.

Zwei Tage vor Sarahs Geburtstag, 21. September, stellen Steinhauer Sarahs Grabstein auf den Friedhof des Dorfs, zwei Katzen aus Marmor.

Jasmine ist 17.
In ihr Tagebuch klebt sie Werbung für Brautkleider, junge schöne Frauen, alle in Weiss.

Jasmine ritzt nicht mehr.
Sie liegt in ihrem Zimmer, Rigiweg 4, blättert durch die Fragen von «Mein Buch für das Leben», Wenn ich morgen sterben würde, würde ich mein Leben mit diesem Satz zusammenfassen: Ich habe es vermasselt mit meinen Ängsten.

Es wird Sommer 2013. Fünf Tage lang, 51 Stunden, 9. bis 13. Juli, sitzt Jasmine im Schaufenster des Warenhauses Manor, Weggisgasse, Luzern, beste Lage, «Ein Leben im Schaufenster – wie wirkt sich ein aussergewöhnlicher Schreibort auf meine Kreativität aus?», Maturaarbeit von Jasmine M., Klasse 6e, Kantonsschule R.

Die Mutter bringt etwas zu essen, zu trinken, der Vater fotografiert, das Mädchen aus Kalifornien schickt Jasmine ein kleines schmales Buch voller vorgedruckter Fragen, «All About Me», Do you think you said «I love you» enough to your mother? [ ] Yes [X] No
Do you think you said «I love you» enough to your father? [ ] Yes [X] No
Has your mother told you that she loves you enough? [X] Yes [ ] No
Has your father told you that he loves you enough? [ ] Yes [X] No

Bei meinen Männergeschichten geht es vielleicht nur darum, zu erfahren, dass ich doch nicht so abstossend bin, wie Sarah immer sagte. Ich will, dass man mich will.

Jasmine ist 18, auf den rechten Oberschenkel lässt sie, ins Englische übersetzt, Sarahs Versprechen tätowieren, I always loved you and remember I will always be with you, S.

Jasmine, katholisch getauft, steht vor der Firmung. Sie wählt sich, wie es Brauch ist, einen Firmgötti, S., Sarahs einstigen Freund, 26. Oktober 2013. Sie weint vor Freude, als sie die Fahrprüfung besteht, die Eltern überlassen Jasmine ihr Auto, im Auto fährt sie zur Schule, manchmal reist sie durch die Nacht, umrundet den Vierwaldstättersee, Küssnacht, Weggis, Gersau, Brunnen, Flüelen, Sarah, wenn du jetzt neben mir wärst.

Zwei weitere Tattoos im Januar 2014 – Sarahs Geburtstag auf der rechten Seite: 23. 9. 1993.
Sarahs Todestag auf der linken: 1. 3. 2011.

In ihr schweres blaues Tagebuch schreibt sie: Leukos = weiss, Haima = Blut, Leukämie = weisses Blut.

Die Matura besteht Jasmine als Drittbeste ihrer Klasse, Note 4.75, die Eltern laden zum Fest, 21. Juni 2014, Mittsommer, Jasmine, langes offenes Haar, wünscht sich ein Dessertbuffet. Sie weiss nicht, was sie studieren will, vielleicht Journalismus, vielleicht Skandinavistik, vielleicht Anglistik, vielleicht in Basel oder in Bern, auf jeden Fall mache ich ein Jahr Pause, suche einen Job, verdiene Geld, erlebe den Winter in Australien, Sarah, was hältst du davon?

Meine Mutter liebt mich bedingungslos, sie liebt mich über alles. Und ich weiss auch, dass mein Vater mich liebt, ich weiss, dass er ein guter Mensch ist. Dass er versucht, dass es mir gut geht. Mich erdrückt es, ihre einzige Tochter zu sein, ich will nicht mehr, I am tired of being Jasmine.

Jasmine arbeitet in einem Museum, backt, wenn ein Fest ansteht, Kuchen für alle, sie lacht und tanzt, einer nennt sie Wirbelwind, Jasmine schreibt: Er versöhnt mich mit meinem Körper, endlich bin ich Seele und Leib, nichts Geteiltes mehr. Dann lernt sie J. kennen, er schenkt mir Ruhe und Unendlichkeit, es ist Dezember, drei Wochen wohnt sie bei J., glücklich.

Bald reise ich nach Australien, ich will weggehen, aber nicht weg sein. Sarah, was hast du vor mit mir?

Am 1. Januar 2015 fliegt Jasmine M. nach Brisbane, 21:45, EK 86, vier Monate am anderen Ende der Welt, eine Sprachschule wird sie besuchen, dann reisen, am 8. Januar ist Jasmine wieder zuhause am Rigiweg 4, Mami nimmt sie in den Arm, Papi sagt, es brauche Mut, umzudrehen, was man falsch entschieden habe.
Die Rasierklinge.
Meine Zeit, sie hat kein Vorwärts, kein Rückwärts.

Vielleicht sollten Sie die Zeit einfach aushalten, rät die Psychologin.
Ich kann nicht aushalten, sagt Jasmine.

Jasmine ist zwanzig
 

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1.

Das Bild ihrer Schwester trägt Jasmine auch auf ihrem Handy immer bei sich

2.

Sarahs Vermächtnis an ihre jüngere Schwester

3.

Die Eltern kaufen zwei Katzen, ein Männchen, ein Weibchen, Mickey und Luna

4.

5.

Ich werde dir Briefe in den Himmel schicken, verspricht Jasmine bei der Abdankung