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Traumforschung: Gegen Albträume kann man etwas unternehmen

Leben

Traumforschung: Gegen Albträume kann man etwas unternehmen

  • Text: Jessica Braun, Fotos: Free Images

Sex mit Brad Pitt, fliegen wie ein Vogel: Im Schlaf ist alles möglich. Das Beste: Wir können steuern, was wir träumen! Die neuesten Antworten der Forschung auf alle wichtigen Fragen rund ums Träumen.

Nacht für Nacht ereignet sich etwas Wunderbares und Verstörendes. Unsere Körper halten still, während unser Verstand das Tor zu einem Abenteuerspielplatz öffnet, der weder Regeln noch Moral kennt. Häuser verschlucken dort Menschen. Eben konnten wir noch fliegen und kämpfen wie Superman. Jetzt flüchten wir vor unserer mit einer Säge bewaffneten Oma. Wir haben Sex mit dem Ding aus dem Sumpf oder stehen schon wieder nackt im Büro. Und obwohl wir jede Nacht mehrere solcher seltsamer Episoden durchleben, ist dabei nur eines gewiss: Sie enden, wenn wir aufwachen.

Bisher gab es allenfalls Hinweise auf Ursachen und Bedeutung unserer Träume. Wissenschafter können erklären, was Liebe ist und wie Schwarze Löcher entstehen. Unsere Fähigkeit zu träumen scheint jedoch so komplex und so absurd, dass selbst Experten um Antworten verlegen sind: «Warum lässt Mutter Natur unser Gehirn auf Hochtouren laufen? Warum lähmt sie unseren Körper bei gesteigertem sexuellem Empfinden und zwingt uns, diesem Zeug zuzusehen, das wir Träume nennen?», fragt Neuropsychologe Patrick McNamara. Eine Frage, die die Menschen seit Jahrtausenden beschäftigt.

Erste Erklärungsversuche stammen von den Mesopotamiern, die bereits 3000 v. Chr. Regeln aufstellten, wie die nächtlichen Visionen zu deuten seien. Auch im Griechenland der Antike hielt man Träume für eine Standleitung zu den Göttern. Priester organisierten für Ratsuchende Pyjama-Partys im Tempel und halfen am Morgen dabei, die göttlichen Botschaften zu entschlüsseln. 1899 dann rückte Sigmund Freud die Traumdeutung mit seinem gleichnamigen Werk in den Bereich der Wissenschaft. Freuds Überzeugung, dass fast alle Träume Ausdruck unterdrückter (sexueller) Triebe sind, teilen heute aber nur wenige Schlafforscher – manchmal ist der Rettich, der uns im Traum erscheint, eben doch nur ein Rettich.

Zur eigenständigen Forschungsrichtung wurde die Schlafforschung vor noch nicht sehr langer Zeit. Eher nebenbei entdeckte der Student Eugene Aserinsky 1953 den REM-Schlaf (Rapid Eye Movements). Mit seinem Kommilitonen William Dement und Professor Nathaniel Kleitman entschlüsselte er die Bedeutung der verschiedenen Schlafstadien und wies nach, was wir in der REM-Phase tun: träumen. Seitdem haben Wissenschafter Tausende von Probanden aufgeweckt, um sie zu ihren Träumen zu befragen. Richtig Schub erhielt die Traumforschung jedoch erst in den letzten Jahren, mithilfe hochauflösender Hirnscans, neuer Analysetechniken, vor allem aber auch dank riesiger Online-Traumdatenbanken und populärer Handy-Apps wie Shadow oder Dream On. Allein der Psychologe Richard Wisemann sammelte mit einer solchen App über 500 000 Träume seiner Nutzer ein, die er anschliessend vergleichen und analysieren konnte.

Und die Erkenntnisse aus der aktuellen Traumforschung verblüffen. Sie zeigen unter anderem, wie sich das, was wir nachts erleben, nicht nur steuern, sondern auch nutzen lässt.

Wann träumen wir?

Die REM-Phase beginnt bei Erwachsenen zwischen vierzig und neunzig Minuten nach dem Einschlafen. Der Atem wird unregelmässig. Blutdruck und Puls steigen. Männer bekommen eine Erektion. Die Augen bewegen sich synchron hinter den geschlossenen Lidern. Wir träumen. Jeder Erwachsene hat pro Nacht zwischen vier und sechs REM-Phasen. Während die erste nur einige Minuten andauert, kann sich die letzte bis zu vierzig Minuten hinziehen. Wissenschafter gehen davon aus, dass wir in Echtzeit träumen.

Träumen Babys auch?

Ja. Bereits am Tag ihrer Geburt, und dann bis zu acht Stunden. Erst im Alter von zwei bis drei Jahren gleicht sich der Anteil des REM-Schlafs dem von Erwachsenen an.

Was träumen wir?

Jede Menge langweiliges Zeug. Zu diesem Ergebnis kam zumindest der kalifornische Schlafforscher William Domhoff. Dass wir fliegen oder alle Zähne verlieren, ist eher die Ausnahme. Stattdessen bügeln wir, fahren Auto oder sitzen im Büro – so wie im Wachzustand auch. Trotzdem empfinden wir die ersten Träume der Nacht eher als bedrohlich. Und das, obwohl fünfzig Prozent der Personen, denen wir im Traum begegnen, zu unserem Freundeskreis gehören. Familienmitglieder sind mit zwanzig Prozent deutlich seltener vertreten. Auch Tiere spielen – ausser in den Träumen von Kindern und Naturvölkern – eine untergeordnete Rolle. Tauchen sie doch auf, dann meist als Bedrohung. Im Lauf der Nacht scheint unser Gehirn versöhnlicher zu werden. Unbeschwerte Episoden lösen Mord und Totschlag ab. Vielleicht haben wir sogar Sex – in immerhin zehn von hundert Träumen kommt es dazu.

So oder so stehen Sexträume ganz oben auf der Wunschliste der Leute. Nur Fliegen ist noch beliebter. Ein kleiner Trost: Ian Wallace, Psychologe und Autor von «The Top 100 Dreams», glaubt, dass die Zahl der Sexträume im Alter zunimmt: «Viele meiner Patienten über sechzig und siebzig berichten davon.»

Warum bin ich am Morgen manchmal so wütend auf meinen Partner? Vielleicht wegen eines Traums?

Dylan Selterman von der University of Maryland hat herausgefunden, dass geträumte Beziehungskonflikte nach dem Aufwachen nachklingen. Knutscht unser Partner in unserem Traum mit dem Papst, sind wir am Morgen oft so eifersüchtig, als hätten wir wirklich einen Nebenbuhler.

Und wenn mich mein Partner tatsächlich betrügt, können mir Träume helfen, darüber hinwegzukommen?

Ja. Rosalind D. Cartwright, auch bekannt als «Königin der Träume», erforscht seit über fünfzig Jahren das Zusammenspiel von Träumen und Gefühlen. Sie berichtet Erstaunliches: In depressiven Phasen verkürzt sich die Zeit, bis der REM-Schlaf einsetzt, von 90 auf bis zu 45 Minuten. Dafür träumen Depressive länger. Wissenschafter nehmen an, dass unser Verstand die REM-Phase benötigt, um Lösungen für Probleme zu finden. Cartwright bat deswegen Menschen ins Schlaflabor, die infolge einer Trennung an Depressionen litten. Einige der Probanden träumten intensiv und in vielen Variationen von ihrem Ex-Partner. «Sie schienen das Erlebte kontinuierlich zu verändern. So als würden sie im Schlaf einen Sinneswandel vollziehen», schreibt Cartwright in einem Essay. Die Stimmung dieser Studienteilnehmer besserte sich. «Die anderen hatten kurze, intensive Träume oder konnten sich an keine erinnern.» Ihnen konnte nur mit Therapie oder Medikamenten geholfen werden.

Sagen Träume die Zukunft voraus?

Bevor die Wissenschaft die Hoheit über die Traumdeutung übernahm, glaubten Menschen, Träume seien Zukunftsvisionen. Doch keines der Experimente, die Psychologen und Neurologen bisher durchgeführt haben, konnte die prophetische Kraft von Träumen bestätigen. Fälle wie der eines Kellners aus York, der 2012 von einem Lotterielos träumte, das ihn und seinen Vorgesetzten reich machen würde und dann mit dem gemeinsam gekauften Los tatsächlich den Jackpot knackte, sind Zufälle. Und so selten wie ein Lottogewinn.

Kann ich beeinflussen, was ich träume?

Ja, sagt Schlafforscher Michael Schredl. «Wir haben eine Studie durchgeführt, die gezeigt hat, dass Gerüche Träume beeinflussen können. Allerdings weniger die Handlung als die empfundenen Gefühle.» Der Duft, der den Probanden angenehme Träume bescherte, war ein Rosenparfum. Leider ist der Effekt nicht von Dauer. «Der Träumer gewöhnt sich an den Geruch.» Einer, der ebenfalls daran glaubt, Menschen schöne Träume zu bescheren, ist der Psychologe Richard Wiseman. Er hat eine App entwickelt, die Schlafenden Klangteppiche vorspielt, wenn diese zu träumen beginnen: Meeresrauschen, Vogelzwitschern oder Berufsverkehr. Die Nutzerbewertungen der App Dream On schwanken zwischen «funktioniert nicht», «bekomme Albträume» und «sensationell». Schlaf- und Bewusstseinsforscher Robert Stickgold konnte umgekehrt beweisen, dass unser Verhalten am Tag auch unser nächtliches Erleben beeinflusst. Er liess Probanden so lange Tetris zocken, bis das Spiel diese im Traum verfolgte. Ein Effekt, der eigentlich jedem Computerspieler vertraut ist. Aber es braucht eben einen Wissenschafter, um Tatsachen zu schaffen.

Träumen wir bei Vollmond anders?

«Die Mondphasen scheinen den menschlichen Schlaf zu beeinflussen», sagt Christian Cajochen. Der Chronobiologe aus Basel hat analysiert, wie der Vollmond sich auf den Schlaf seiner Probanden auswirkt. Sein Ergebnis: Selbst wenn wir den Mond nicht sehen können, schlafen wir unruhiger. Das bestätigt Psychologe Wiseman, der mittels seiner App über 500 000 Träume seiner Nutzer eingesammelt und ausgewertet hat. «Wir haben ein ähnliches Muster entdeckt wie die Wissenschafter aus Basel», schreibt er in «Science Daily», «bei Vollmond nimmt die Zahl der bizarren Träume zu.» Mit einer umfangreichen Datenanalyse hält der Neurowissenschafter Martin Dresler dagegen. Laut seiner Studie ist der Einfluss des Mondes nur ein Mythos.

Träumen Männer anders als Frauen?

Ja – oder sie geben ihre Träume anders wieder, wenn man sie weckt. Folgende Unterschiede wurden in Schlaflabors ermittelt:

Männer sind im Traum öfter allein
• träumen häufiger von Männern
• erleben Naturkatastrophen
• werden verfolgt oder angegriffen
• sind aggressiver
• ekeln sich vor Insekten
• haben Sex mit Unbekannten

Frauen sind im Traum häufiger in Begleitung
• träumen etwa so oft von Männern wie von Frauen
• erleben Trennungen oder Streit
• fühlen sich unzulänglich
• werden öfter von Albträumen geplagt (oder erinnern sich besser daran)
• haben Sex mit dem Partner, Arbeitskollegen oder Bekannten

Sind Albträume krankhaft?

Es ist ein Wunder, wie lebhaft und detailliert Träume sein können – und wie fühlbar gruselig. In knapp drei Prozent aller Träume verfallen wir ob dem, was wir erleben, so sehr in Panik, dass wir aufwachen – die klassische Definition eines Albtraums. Die meisten Warmblüter träumen, doch Albträume scheinen nur Menschen zu plagen. In den ersten Jahren unseres Lebens bleiben wir davon verschont. Zwischen unserem 5. und 12. Lebensjahr dann kommen Zombies und Sensenmänner oft wöchentlich zu Besuch. Ab der Lebensmitte werden die Albträume normalerweise weniger. Manche Menschen leiden jedoch ihr Leben lang darunter. «Albträume sind an sich keine Krankheit», meint der Schlafforscher Antonio Zadra, «wenn Menschen wiederkehrende Albträume haben, kann das jedoch dazu führen, dass sie Angst vor dem Einschlafen entwickeln. Eine Art künstliche Schlaflosigkeit.»

Was hilft gegen den nächtlichen Horror?

Albtraum-Experte Barry Krakow hat eine von anderen Schlafforschern viel gepriesene Methode entwickelt, mit der sich wiederkehrende Angstträume verändern lassen: das Traumdrehbuch. Im ersten Schritt schreibt der Betroffene seinen Traum so detailliert wie möglich auf. Im zweiten überarbeitet er auf dem Papier die Handlung des Traums: Die gruselige Szene ist dann vielleicht nur noch Teil eines Films, in dem der Träumer mitspielt, und endet, sobald der Regisseur «Schnitt!» ruft. Oder der Verfolger entpuppt sich als alter Freund. Auch diese Version des Traums sollte genau ausgearbeitet sein. Mit dieser Vorlage beginnt man dann zu üben: Zweimal am Tag sollte man sich hinlegen und sich wie ein Schauspieler für einige Minuten in den überarbeiteten Traum hineinversetzen – so intensiv wie möglich. Praktiziert man dies lange genug, verändert sich das nächtliche Geschehen. Meist zum Besseren. «In unserer Fähigkeit, Dinge zu visualisieren, liegt eine unglaubliche und oft unterschätzte Kraft», sagt Krakow.

Kann man Albträume im Alkohol ersäufen oder mit Medikamenten bekämpfen?

Wer vor dem Zubettgehen Alkohol trinkt, schläft schneller ein. Er wacht aber auch weniger erholt auf. Wissenschafter vermuten, dass Alkohol den REM-Schlaf unterdrückt – eine mögliche Erklärung dafür, warum Alkoholiker auf Entzug ein Delirium tremens entwickeln, ein potenziell lebensbedrohliches Alkoholentzugssyndrom. Schlaftabletten können laut Donna Arand, ärztliche Leiterin des Kettering Sleep Disorders Center in Ohio, die Erinnerung an böse Träume unterbinden. Lässt die Wirkung nach – sei es im Lauf der Nacht oder während des Absetzens – träumen manche Menschen jedoch intensiver als vorher. Die Psychiaterin Shaili Jain beschreibt in einem Essay, dass Versuche mit dem Alpharezeptorenblocker Prazosin Erfolge zeigen. Allerdings vor allem bei Patienten, deren Albträume in Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung auftreten.

Ist ein Albtraum dasselbe wie ein Pavor nocturnus?

Nein. Ein Pavor nocturnus (Nachtschreck) ereignet sich etwa eine Stunde nach dem Einschlafen, im Tiefschlaf. Die Betroffenen schrecken auf, sind aber nicht völlig wach. Ihr Gehirn ist in diesem Zustand unfähig, Ängste zu regulieren. Sie empfinden Panik. In den Arm nehmen sollte man sie dennoch nicht: Menschen, die von einem Nachtschreck geplagt werden, können keine Gesichter erkennen. Ein vermeintlich Fremder am Bett würde sie nur noch mehr ängstigen – im schlimmsten Fall sogar einen Angriff provozieren. Am besten spricht man aus sicherer Distanz beruhigend auf den Betroffenen ein. Oder wartet ab. Ein Pavor nocturnus ist in wenigen Minuten vorüber.

Wie komme ich zu einer tollen Nacht mit George Clooney?

Luzides Träumen, so heisst die Fähigkeit, sich im Schlaf bewusst zu machen, dass man träumt – und die Handlung des Traums sogar zu verändern. Michael Schredls Tipp für Menschen, die gern mal einen Dinosaurier reiten oder mit George Clooney knutschen möchten: «Machen Sie mehrmals am Tag einen Realitäts-Check: Fragen Sie sich, ob sie gerade wach sind oder träumen und überprüfen Sie, ob Ihr Eindruck mit den Gegebenheiten übereinstimmt.» Nach einer Weile beginnt man automatisch damit, seinen Zustand auch im Traum zu hinterfragen. Und kann, wenn man feststellt, dass man träumt, vom Zuschauerplatz in den Regiestuhl wechseln. Mit etwas Übung ist das die Eintrittskarte in fantastische Welten.

Der Traum, ein guter Gesprächsstoff für die nächste Dinnerparty?

Nur, wenn man den Abend lieber allein verbringen möchte. Wir verbinden mit unseren Träumen intensive Gefühle. Für den netten Typen auf der Party ist ihre Handlung aber so unterhaltsam wie ein Witz ohne Pointe. Ausser natürlich, der Gesprächspartner ist Hunter Lee Soik. Der Entwickler der App Shadow will die weltgrösste Traumdatenbank aufbauen (www.discovershadow.com). Die App ist so konstruiert, dass man Träume aufschreiben, aufsprechen und sogar bebildern kann. Nacht für Nacht sammelt Soik so Tausende oft sehr langweilige, manchmal aber auch skurrile Szenen aus dem Unterbewusstsein seiner Nutzer. Auf die Idee, sich als Traumfänger zu betätigen, brachte ihn – wenig erstaunlich – ein Traum. «Ich träumte, dass im Berliner Reichstag eine Party stattfindet. Der Türsteher wollte mich aber nicht hineinlassen. Er sagte, es sei eine private Veranstaltung», erinnert sich Soik, «ich käme nur rein, wenn ich Michael Jordan fände.» Wer seine nächtlichen Abenteuer lieber der Wissenschaft zur Verfügung stellen möchte, kann diese auf der Website des Schlafforschungs-Pioniers William Dement eingeben (www.end-your-sleep-deprivation.com) oder die Traumdatenbank von William Domhoff füttern (www.dreambank.net) – beides allerdings nur auf Englisch.

Warum kann ich mich nicht immer an den Traum erinnern?

Wir vergessen das Geträumte schlafend wieder. Nur wenn wir direkt nach dem Traum aufwachen, können wir uns an ihn erinnern.

Buchtipp 1. Stefan Klein: Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit. Verlag S. Fischer, 352 S., ca. 33 Fr. (ab 7. Oktober erhältlich)

Buchtipp 2. Traumfänger. Bruno Bötschi im Gespräch mit prominenten Tagträumern. Applaus-Verlag, 231 S., ca. 33 Fr.

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