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Was die Krankheit PCOS für Betroffene bedeutet

Leben

Was die Krankheit PCOS für Betroffene bedeutet

  • Text: Stephanie Hess; Illustration: Ramona Ring

Sie wird oft erst erkannt, wenns nicht klappt mit dem Schwangerwerden. Doch die Krankheit PCOS zieht Frauen schon vorher in einen Teufelskreis.

Als sich der oberste Knopf ihrer Jeans eines Tages nicht mehr schliessen liess, machte sie sich darüber keine grossen Gedanken. Etwas zugenommen, dachte sich Carla Garcia (Name geändert). Erst als an ihrem Körper an eigenartigen Orten Haare sprossen, an Kinn, Wangen und in einer breiten Linie vom Bauchnabel an abwärts, begann sie sich zu wundern. Kam hinzu, dass die Pfunde einfach nicht mehr purzeln wollten. Zehn Kilo hatte Carla Garcia in einem halben Jahr zugenommen, ohne dass sie irgendwas in ihrem Leben anders gemacht hätte als in den 23 Jahren davor. Dazu kamen Kopfschmerzen, eigenartige Bauchschmerzen. «Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war.»

Erst nach vier Jahren und zahlreichen Abklärungen fasst eine Frauenärztin die Symptome endlich unter einem – nicht ganz unkomplizierten – Namen zusammen: Polyzystisches Ovarsyndrom, kurz PCOS.

Jede zehnte Frau in der Schweiz ist von dieser hormonellen Störung der Eierstöcke (Ovarien) betroffen. Mindestens, denn die Dunkelziffer wird als hoch eingeschätzt. Erstmals beschrieben wurde die Erkrankung zwar schon in den Dreissigerjahren. Genaue Definitionskriterien allerdings existieren erst seit 2004. Laut Mirjam Faulenbach, Endokrinologin am Hormonzentrum in Zürich, wird nun von einer PCOS-Erkrankung gesprochen, wenn zwei der folgenden drei Kriterien erfüllt sind:

  • Ein erhöhtes Vorkommen des männlichen Hormons Androstendion
  • Ein unregelmässiger bis ausbleibender Menstruationszyklus
  • Zysten auf den Eierstöcken

Der Erkrankung zugrunde liegt ein gestörter Hormonhaushalt. Es kommt zu einem Übermass an männlichen Geschlechtshormonen. Diese verhindern, dass die Eibläschen heranreifen und somit ein Eisprung ausgelöst werden kann. Dadurch bilden sich Zysten, winzige wassergefüllte Hohlkörper. Schneller erkennbar ist PCOS aber oft von aussen. Wie bei Carla Garcia wachsen bei vielen betroffenen Frauen Haare an Stellen, wo sie in dieser Üppigkeit gewöhnlich nur bei Männern zu finden sind: an Kinn, Wangen, Oberlippe und an den ganzen Oberschenkeln. Gleichzeitig fallen bei manchen Betroffenen die Haare auf dem Kopf aus. Hinzu kommen manchmal Akne und sehr oft auch Übergewicht.

Obwohl die augenfälligen Veränderungen meist bereits in der Pubertät einsetzen, wird PCOS oft erst diagnostiziert, wenn die Frauen schwanger werden wollen – und nicht können: Aufgrund seiner negativen Einwirkung auf die Tätigkeit der Eierstöcke gehört PCOS in westlichen Ländern zu einer der häufigsten hormonellen Ursachen für Unfruchtbarkeit.

Dass die Diagnose oft erst so spät gestellt wird, hängt mit der Antibabypille zusammen, die nach wie vor zu den beliebtesten Verhütungsmitteln junger Frauen gehört. Denn diese dämmt die männliche Hormonproduktion ein und damit auch die PCOS-bedingten Beschwerden: Sie schwächt nicht nur die Behaarung ab, sondern versetzt auch die Eierstöcke in eine Art Dornröschenschlaf. Setzen betroffene Frauen jedoch diese hormonelle Zyklusregulation ab, steigt der männliche Hormonspiegel – und der Eisprung bleibt aus. So war es auch bei Carla Garcia. «Erst später wurde mir klar, dass die ersten Symptome auftauchten, als ich die Pille und später den Hormonring abgesetzt hatte.» Ein weiterer Grund, weshalb die Erkrankung oft erst spät entdeckt wird: «Die Symptome deuten auch auf andere Störungen hin, beispielsweise auf einen Enzymdefekt oder andere Stoffwechselkrankheiten. Diese müssen zuerst ausgeschlossen werden», erklärt Fachärztin Mirjam Faulenbach. Zudem sind die Merkmale von Frau zu Frau unterschiedlich ausgeprägt. Nicht bei allen spriessen die Haare oder setzen sich die Kilos an. Bei manchen Betroffenen sind die Symptome derart schwach, dass die Krankheit bis zum unerfüllten Kinderwunsch gar nicht auffällt.

Woher das Syndrom kommt, weiss niemand genau. «Die Ursachen konnten noch nicht eindeutig geklärt werden», sagt Faulenbach. Doch weiss man heute zumindest, dass die Erkrankung von genetischen Faktoren ebenso geprägt wird wie von Umwelteinflüssen; zum Beispiel Übergewicht, das beim Grossteil der Betroffenen auftritt. Wobei sich allerdings auch da nicht immer genau sagen lässt, was denn zuerst war: PCOS oder die Extrakilos? Sicher ist: Beide Faktoren begünstigen sich gegenseitig – ein Teufelskreis. Denn mit PCOS geht eine Insulinresistenz einher. Vereinfacht gesagt hat dies zwei Folgen: Es kommt zu Fettansammlungen, und im Körper werden noch mehr männliche Hormone produziert – wodurch sich das Syndrom stärker ausprägt.

Der einzige Ausweg? Abnehmen. Das haben Forscher des Zentrums für Bevölkerungsgesundheit der Universität Sydney festgestellt. Bereits wenn Betroffene fünf Prozent ihres Gewichts verlieren, sinken die männlichen Hormone, und die Insulinresistenz reduziert sich.

Doch wie bringt man die Kilos zum Schmelzen bei einem Organismus, der wie kein anderer aufs Ansetzen ausgelegt ist? Eine Auswertung aus Dänemark kam zum Schluss, dass selbst PCOS-Betroffene, die weniger als 1000 Kilokalorien pro Tag zu sich nehmen, häufig nur wenig an Gewicht verlieren. Carla Garcia sagt: «Manchmal verzweifle ich fast. Ich esse gesund, bewege mich oft, aber die Kilos bleiben auf den Hüften.» Sie wiegt heute bei einer Körpergrösse von 1.60 Metern 70 Kilogramm. Ihren Bürojob hat sie gegen eine Teilzeitanstellung in einer soziokulturellen Einrichtung getauscht, wo sie öfter auf den Beinen ist. Sie geht täglich spazieren, macht Krafttraining.

«Das Schlimmste für mich an dieser Krankheit ist», sagt Carla Garcia, «ich fühle mich meiner Weiblichkeit beraubt.» Die Haare im Gesicht. Die Haare am Körper. Die starke Gewichtszunahme. Das Ausbleiben der Mens. «Ein grosses Stück meines Selbstbewusstseins ist weggebrochen.» Sie hat eine innige Beziehung, einen verständnisvollen Freund. Dennoch leidet auch das Sexleben unter der Erkrankung. «Ich zeige meinen Körper einfach nicht mehr gern nackt.» Zum schwierigen Selbstbild gesellen sich die nicht eben rosigen Zukunftsprognosen – PCOS ist bis heute nicht heilbar. Zudem sind Betroffene anfälliger auf Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen. Behandelt wird PCOS mit der Antibabypille und einem Ernährungsplan plus Sportprogramm zur Gewichtsreduktion. Die Pille wirkt der Behaarung entgegen und normalisiert den Zyklus. Weniger häufig wird auch der Wirkstoff Metformin verschrieben, ein aus der Diabetes-Behandlung bekanntes Medikament, das den Anteil männlicher Hormone im Körper senkt. In der Folge kann der Eisprung wieder ausgelöst werden, die Insulinwerte werden besser – und die Mens setzt wieder ein, weshalb die Metformin-Behandlung zumeist bei Frauen mit Kinderwunsch durchgeführt wird.

Carla Garcia hat zwar momentan keinen Kinderwunsch, aber auch sie nimmt täglich Metformin. «Weil ich diese künstlichen Hormone einfach nicht mehr schlucken wollte.» Bisher ist keine Verbesserung eingetreten. Die Behaarung ist noch da, ebenso die Kilos. Aber weit wichtiger, als dass sie ihre alten Jeans wieder anziehen kann, ist Carla Garcia ihre Monatsblutung, die sie direkt mit dem Gefühl von Weiblichkeit verbindet. Sie sagt: «Ich freue mich darauf. Um mich endlich wieder als Frau zu fühlen.»

• Carla Garcia will eine Selbsthilfegruppe für Frauen mit PCOS gründen. Interessierte können sich beim Selbsthilfecenter in Zürich unter Tel. 043 288 88 88 oder [email protected] melden.