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«Schauspielern heisst: verschwinden!»

Leben

«Schauspielern heisst: verschwinden!»

  • Interview: Mathias Heybrock

Willem Dafoe liebt das Eintauchen in fremde Köpfe und Welten. Meist spielt er den Kotzbrocken – doch in seinem neuen Film brilliert er als Normalo mit Herz.

«Ich bin ein Arbeiter! Ein verdammt fleissiger sogar», schallt es aus dem Telefon. Willem Dafoe spricht, Star des ambitionierten Autorenkinos. Mich überrumpelt die Aussage ein wenig – schliesslich hatte ich den Schauspieler nur darauf aufmerksam gemacht, dass er allein 2017 in acht Filmen zu sehen war. Doch egal, denn es stimmt ja, was der 62-Jährige über sich sagt: Er arbeitet hart. Sehr hart. In weniger als vierzig Berufsjahren hat er über hundert Filme gedreht – für Martin Scorsese, für David Lynch, Oliver Stone und Lars von Trier. Zuletzt war er in «Murder on the Orient Express» von Kenneth Branagh zu sehen.

Es heisst, Willem Dafoe arbeite selbst dann noch, wenn seine Kollegen sich nach dem Dreh für ein Nickerchen in den Wohnwagen zurückziehen. Er hingegen hält lieber einen Schwatz am Set; oder er bemüht sich, einen schwelenden Konflikt auszubügeln. Denn das Gründungsmitglied der einflussreichen Theatertruppe The Wooster Group liebt und lebt den Ensemblegedanken. Ein Team muss harmonieren, muss an einem Strang ziehen, nur dann gelingt das Projekt.

Der «nette Kerl aus Wisconsin», wie sich der Schauspieler gern selbst beschreibt, wurde in seiner Karriere oft für die Schurkenrolle gebucht. Als genial schmieriger Bobby Peru in «Wild at Heart» oder schauriger Vampir in «Shadow of the Vampire». Die ausgeprägte Kinnpartie und sein diabolisches Grinsen, das er so ansatzlos aufziehen kann, sind wie gemacht für fiese Auftritte. Dabei kann Dafoe auch andere Register ziehen: In Scorseses «The Last Temptation of Christ» spielte er Jesus von Nazareth. Zum Zeitpunkt unseres Telefonats hält er sich in Los Angeles auf, wo er für den Maler und Regisseur Julian Schnabel als Vincent van Gogh («At Eternity’s Gate») vor der Kamera steht. Unser Gespräch dreht sich um «The Florida Project» – ein hervorragendes halbdokumentarisches Drama des Newcomers Sean Baker. Es erzählt von Menschen in den USA, die gezwungen sind, in billigen Motels zu wohnen. Und von ihren Kindern, die sich selbst überlassen sind. Willem Dafoe spielt den Motelmanager; einen hochinteressanten Durchschnittstypen, der versucht, die (seelischen) Schäden nicht zu gross werden zu lassen.

annabelle: Willem Dafoe, «The Florida Project» spielt in einem Motel, das Menschen als ständiges Zuhause dient. Ist das in den USA verbreitet?
Willem Dafoe: Das ist es. In der Finanzkrise verloren viele Amerikaner ihre Häuser und zogen in billige Motels. Der traurige Witz ist, dass sie das mehr kostet als eine eigene Wohnung. Und dann können sie da nicht einmal richtig kochen. Sie kaufen also Conveniencefood oder gehen gleich ins Fastfood-Restaurant. Das ist ebenfalls teurer und ungesund erst recht. So entsteht ein Teufelskreis.

Sie drehten in einem real existierenden Motel, bei vollem Betrieb?
Ja, inmitten der Menschen, von denen der Film handelt. Der Regisseur Sean Baker arbeitet so, das ist sein Markenzeichen. Er dreht vor Ort, vermischt Fiktion mit Fakten. Er arbeitet auch gern mit Laien.

Wie war es, mit Laien statt mit Profis zu drehen?
Na, ja, manchmal hat man auch am Set eines grossen Hollywoodfilms das Gefühl, von Laien umgeben zu sein! Doch im Ernst: Es ist eine Herausforderung. Aber ich mochte das. Ich musste mich da einfügen, musste mit dieser Welt verschmelzen. Das ist genau das, was mich an meinem Beruf interessiert. Schauspielern heisst für mich: verschwinden!

Verschwinden?
Beim Schauspielern habe ich die Möglichkeit, das, was mich ausmacht, hinter mir zu lassen. Ich kann mich verwandeln, ein anderer werden, einen Fremden verstehen – weil man ja jetzt selbst ein Fremder ist. Im normalen Leben probiert man das nie aus. Da hat man diese angeblich feste Identität, die aber gar nicht fest ist. Die hat man sich aufgebaut, um ohne Probleme durch den Tag zu kommen.

Wie haben Sie dieses Schauspielverständnis entwickelt?
Das kam irgendwie ganz natürlich. Aber ich würde schon sagen, dass mir das Reisen sehr geholfen hat. Das Eintauchen in fremde Welten.

Sie reisen viel?
Sehr viel. Schon damals, als ich mit der Wooster Group unterwegs war, aber auch heute noch. Selbst wenn ich amerikanische Filme mache, drehen wir viel in Asien oder in Europa. Ich arbeite auch gern mit griechischen, dänischen oder italienischen Filmemachern.

Kein Wunder, Sie haben die italienische Staatsbürgerschaft und sind somit Europäer.
Ja, und Amerikaner. Ich bin Doppelbürger und pendle zwischen New York und Rom. Die Familie meiner römischen Frau hat mich sozusagen adoptiert. (Willem Dafoe heiratete 2005 die Schauspielerin und Filmregisseurin Giada Colagrande.)

Sind Sie gern Italiener?
Sehr! Doch es überrascht mich immer wieder, dass die Unterschiede innerhalb des Landes so gross sind. Man vergisst, dass der Staat Italien noch sehr jung ist, jünger als die USA. Es scheint, als sei die nationale Identität noch immer in der Ausbildung. Aber egal wo man ist – überall sind die Italiener sehr liebenswürdig, sehr leidenschaftlich. Klar, das sind jetzt Klischees. Aber es ist was Wahres dran.

Was ist für Sie typisch italienisch?
Ich schildere Ihnen zuerst etwas typisch Deutsches: Dort ging ich einmal bei Rot über die Strasse, und eine Frau schrie mir hasserfüllt hinterher: «Der Rollstuhl wartet schon auf dich!» In Italien würde das niemals passieren. Da läuft so was ganz anders.

Wie?
Wie das Sprichwort sagt: Frag in Italien niemals um Erlaubnis, denn du wirst sie nicht bekommen. Bitte hingegen um Vergebung – und du wirst sie erhalten …

Sie sagten einmal, in achtzig Prozent Ihrer Filme seien Sie nicht die erste Wahl des Regisseurs gewesen. Stimmt das?
Ich weiss nicht, ob achtzig Prozent stimmt. Aber es könnte gut sein … Wie auch immer – ich habe kein Problem damit.

Kränkt Sie das nicht?
Nein, denn es hat wohl weniger mit mir zu tun als mit dem Castingsystem in den USA. Die Regisseure kommen meistens auf die Schauspieler zu, die gerade besonders angesagt sind. Dass das nicht immer die beste Wahl sein muss, stellt sich dann erst mit der Zeit heraus. Und ich wohne ja auch nicht in L. A., wo ich den Leuten aus der Filmbranche einfach so über den Weg laufe. Deswegen braucht es manchmal ein bisschen länger, bis mich die Regisseure finden.

Und Sie? Brauchen Sie manchmal länger, ehe Sie ein Angebot akzeptieren?
Ich versuche, mich schnell zu entscheiden. Manche Schauspieler nehmen sich monatelang Zeit, ehe sie zu- oder absagen. Das ist respektlos gegenüber dem Team, gegenüber dem ganzen Projekt. Das entspricht mir nicht! Schliesslich bin ich ein netter Kerl aus Wisconsin …

… auch wenn viele Ihrer Leinwandpersönlichkeiten einen gegenteiligen Eindruck hinterlassen. Gibt es eine Rolle, für die Sie töten würden?
Nein. Als Schauspieler muss ich versuchen, aus jeder Rolle, die ich annehme, das Beste zu machen. Wenn mir das gelingt, bin ich bereits glücklich. Dafür muss ich nicht Hamlet spielen, es kann auch der ziemlich durchschnittliche Manager eines billigen Motels sein.

 

Jetzt im Kino: «The Florida Project» von Sean Baker, der seinen vorigen Film «Tangerine L. A.» mit dem iPhone drehte. Willem Dafoe ist für seine Rolle als bester Nebendarsteller für einen Oscar nominiert.