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Binewskis: Der abgründigste Roman des Jahres

Leben

Binewskis: Der abgründigste Roman des Jahres

  • Text: Claudia Senn, Illustration: Chris Edser

Danke, Katherine Dunn! Für den umwerfenden Roman «Binewskis». Eine Ode an das krasseste, witzigste, anrührendste und abgründigste Buch des Jahres.

Als ich die Binewskis kennen lernte, befand ich mich gerade in jenem Zustand vorübergehender Verstörtheit, den Reisen in ferne Länder stets bei mir auslösen. Am frühen Morgen war ich in Bangkok gelandet, nach einem zehnstündigen Flug ohne Schlaf. Danach hatte ich fünf Stunden lang darauf gewartet, mein Zimmer beziehen zu dürfen, das mir schon zuhause verdächtig billig vorgekommen war. Auf den Fotos im Internet hatte das Hotel noch so glamourös gewirkt wie ein Fünfzigerjahre-Filmset. Nun musste ich feststellen, dass es sich um das gruselige Dekor eines David-Lynch-Streifens handelte. Durch die schmuddeligen Korridore gellten die Schreie der räudigen, durch Autounfälle verstümmelten Katzen, die in der Absteige Asyl fanden. Wenige Meter neben meinem Bett donnerte eine achtspurige Schnellstrasse vorbei. Ich war so müde, dass ich hätte heulen können. Doch an Schlaf war nicht zu denken.

Da fiel mir das Buch wieder ein, das ganz oben in meinem Koffer lag: «Binewskis. Verfall einer radioaktiven Familie.» Allein dieser Titel hatte einen Haben-wollen-Reflex bei mir ausgelöst. Auf dem Cover Tuschzeichnungen, die aussahen wie die Telefonkritzeleien eines Zwangsneurotikers auf LSD. Das Einzige, was ich über den Roman wusste, war, dass er in Amerika bereits 1989 erschienen war und sich bisher niemand an eine deutsche Übersetzung gewagt hatte. Ich machte es mir mit dem Buch auf dem durchgelegenen Bett bequem. «‹Als eure Mama noch der Geek war, meine Traumkindchen›, sagte Papa immer, ‹machte sie das Abknabbern der Köpfe zu einem so glitzernden Geheimnis, dass die Hennen selbst sich nach ihr verzehrten, sie umtanzten, hypnotisiert vor Verlangen. ’Öffne deine Lippen, süsse Lil’, gackerten sie, ’und zeig uns deine Hauer!’›» Was für eine Ouvertüre! Zwei Sätze reichten, und ich war elektrisiert. Ohne genau zu verstehen, warum dieser Geek offenbar Hühnern den Kopf abbiss (es blieb auch später ein Geheimnis), liess ich mich hineinfallen in die hemmungslos abgedrehte Welt der Zirkusfamilie Binewski.

Als da wären: Aloysius Binewski, genannt Al, Familienoberhaupt und Chef des Wanderzirkus, sowie Lillian Hinchcliff, genannt Christal Lil, «eine wässrig-kühle Bostoner Aristokratin aus der pingeligen Ecke von Beacon Hill», die ihr Erbe in den Wind geschlagen hatte, um Luftakrobatin im Zirkus zu werden. Dort stehen die Zeiten allerdings schlecht: Der alternde Löwe beisst sich dauernd an den Käfigstangen die teuren Prothesen kaputt. Die Dickste Frau der Welt geht von Bord, um Fotomodell für eine Zeitschrift namens «Chubby Chaser» zu werden. Und eines Nachts türmt auch noch die Tier-Erotiker-Familie.

Als Ausweg aus der Misere beschliesst das findige Paar, seine Attraktionen selbst zu zeugen. Während Christal Lils Schwangerschaften verabreicht ihr Al allerlei illegale Drogen, rezeptpflichtige Medikamente, Insektizide und Radioisotope. Und tatsächlich, die so herangezüchtete genetisch mutierte Freakshow kann sich sehen lassen: Star des Familienzirkus wird der Erstgeborene Arturo, der – mit einer Art Flossen statt Gliedmassen ausgestattet – unter dem Namen Aquaboy Karriere macht und zu einem begnadeten Manipulator heranwächst. Es folgen die buckelige Albino-Zwergin Olympia, die als Ich-Erzählerin des Buchs fungiert, sowie die siamesischen Zwillinge Electra und Iphigenia. Nur Nesthäkchen Fortunato kommt trotz aller Kosten und Mühen enttäuschend normal zur Welt. Doch als die deprimierten Eltern ihr misslungenes Experiment an einer Tankstelle aussetzen wollen, entpuppt sich der zwei Wochen alte Säugling als das Meisterwerk seiner Schöpfer: Er verfügt nämlich über magische Fähigkeiten.

Hatte ich jemals eine krassere Geschichte gelesen? Noch immer kreischten die Katzen in den Korridoren, und mein Bett erzitterte unter den Vibrationen der Lastwagen von der Autobahn nebenan. Doch verglichen mit dem Wanderzirkus kam mir das Hotel, in dem ich gelandet war, geradezu spiessig vor. Die «Binewskis» waren das Abgründigste, was mir je begegnet war, und zugleich zu Tränen rührend und atemberaubend witzig. Ich konnte mich nicht erinnern, in den letzten Jahren ein Buch gelesen zu haben, das mich ähnlich fesselte – und durcheinanderbrachte. Nach den ersten fünfzig Seiten fing ich an zu bedauern, dass meine langweilige Existenz nicht einmal durch die kleinste Behinderung geadelt wird. Wie schaffte das die Autorin nur, dass sie meine Vorstellungen vom Normalen und Unnormalen, von Schönheit und Deformation, so komplett auf den Kopf stellte? Und überhaupt: Wer war sie?

Ich setzte mich an den altersschwachen Hotelcomputer in der Lobby und googelte Katherine Dunn. Wie es schien, war sie eine Art Halbphantom. Auf den wenigen Fotos, die ich entdeckte, sah sie aus wie eine Bibliothekarin. Meist trug sie eine sehr dunkle Sonnenbrille. Interviews fand ich so gut wie keine. Dunns leidenschaftliche Fans zitierten in den Literaturforen die immer gleichen Antworten aus denselben drei Gesprächen. Seit mittlerweile 24 (!) Jahren warteten sie mit einer Begierde auf Dunns neues Buch, die mich an Drogensüchtige erinnerte. Der Erscheinungstermin wurde immer wieder verschoben. Auch für die «Binewskis» hatte Dunn 17 Jahre gebraucht. Das erklärte, warum jedes Wort, jedes Sprachbild und jeder Witz mit einer so unnachahmlichen Präzision gesetzt war, dass ich glaubte, augenblicklich depressiv werden zu müssen. Nie im Leben würde ich auch nur einen solchen Satz zustande bringen!

Katherine Dunn, so erfuhr ich weiter, lebt in Portland, Oregon. Sie arbeitet als Radiomoderatorin und ist eine der führenden Boxreporterinnen der USA. Mehr als das: Sie boxt auch selber. Mit ihren 68 Jahren steigt sie zwar nicht mehr in den Ring, trainiert aber noch immer am Sandsack. Wahnsinn! Ich beschloss, sie auf keinen Fall aufzusuchen und zu interviewen, um ihre geheimnisvolle Aura nicht zu zerstören. Denn wie sollte die Realität das Bild toppen, das ich mir in meinem Kopf inzwischen von ihr machte?

Stattdessen möchte ich ihr mit diesem Artikel danken. Dafür, dass sie mir die «Binewskis» schickte, als ich müde und heimwehkrank in der Fremde war. Sie bedeuteten für mich ein Stück Heimat zwischen zwei Buchdeckeln. Ich hätte mir keinen besseren Trost wünschen können.

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