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Viva Rumantsch: Die Bündner Rapper von Liricas Analas im Interview

Leben

Viva Rumantsch: Die Bündner Rapper von Liricas Analas im Interview

  • Redaktion: Frank Heer; Foto: Karin Heer

Vor 75 Jahren wurde Rätoromanisch zur vierten Landessprache. Die Bündner Rapper von Liricas Analas beweisen mit spektakulärer Wortkunst: «Churwelsch» ist kein Fall fürs Museum.

Am 20. Februar 1938 wurde das Rätoromanische mit 92 Prozent Ja-Stimmen per Volksentscheid als vierte Landessprache gutgeheissen. Bundesrat Philipp Etter plädierte im Parlament: «Ein Bergvolk von nur 40 000 Seelen, das dermassen an seiner hergekommenen und angestammten Sprache hängt, das mit solcher Hingabe seine Sprache zu verteidigen weiss, das muss ein moralisch, ein geistig und seelisch starkes Volk sein.» Historiker sprechen von «geistiger Landesverteidigung», einem «patriotischen Postulat», das vor dem Hintergrund des sich anbahnenden Zweiten Weltkriegs die Nation vereinen sollte.

75 Jahre später. Mitternacht ist längst um, aber nicht das Konzert von Liricas Analas im Cinema Music Club Lenzerheide. Die Band versucht gerade, ein paar Hundert dampfende Köpfe zu einer Polonaise anzustiften, was in dem Gedränge aber nicht funktioniert. Macht nichts. «Uss eisi party per las discosissis», headbangt das Quartett zu Stolperbeats und Zitterbässen, «jetzt ist Party für die Discosissis»! Der Saal hüpft zum Refrain, das Stroboskoplicht zuckt, und irgendwann, in einer Atempause von drei Sekunden, johlt MC Jusht ins Publikum: «Wär vo eu hät Graubünde gärn?» Arme fliegen, Köpfe wippen, the Beat goes on, es riecht nach Schweiss und Bier, nach Hasch und Haargel, draussen hängt der Mond über der Alp Stätz.

«Drei Tasen Humor, ein grosser Löffel Emotionen und eine Prise Ironie»

Das war vor ein paar Wochen. Wie immer hatte sich das Quartett vor Konzertbeginn zum Blitzyoga aufs Zimmer zurückgezogen, DJ David Suivez machte die Verrenkungen vor («einatmen, Schultern hinauf, ausatmen, Arme schütteln»), dann wurden Hände geschlagen und Holz geklopft, Treppe runter, Hintereingang Bühne, Jägermeister, «Viva!», Leiter rauf, der Saal ist zum Bersten voll, in der Vergangenheit kam es schon mal vor, dass man nackte Brüste signieren durfte. DJ Suivez stürmt den DJ-Thron und fegt die Bühne frei für Liricas Anaaaaaalaaaaaas!!!

«Fünf Kilo Bass, 200 bis 300 Kicks und Snares, ein Eimer Hi-Hats, 7431 Silben, 3.5 Liter Flow, drei Tassen Humor, ein grosser Löffel Emotionen und eine Prise Ironie», das sind laut den Bandmitgliedern Flepp, Jusht, Orange und Suivez die Zutaten für einen guten Liricas-Analas-Song. Dabei haben sie das Wichtigste glatt vergessen:Gerappt wird (fast) ausschliesslich auf Rätoromanisch – und zwar seit 1999. Damals veröffentlichten die Fantastischen Vier ihr viertes, Eminem sein zweites, Mos Def sein erstes Album – und Liricas Analas «Il tren da Sedrun», den allerallerersten Song auf Rumantsch. Klar, ein kleiner Schritt für den internationalen Hip-Hop, doch ein grosser für die rätoromanische Sprache. «Besser als mit juvenilem, derbem, fetzig-jetzigem Rap liesse sich das Vorurteil nicht widerlegen, Rätoromanisch sei eine mit Subventionen künstlich am Leben erhaltene, bieder-heimattümelnde Sprache», schrieb der damalige Musikjournalist Bänz Friedli in «Facts» – und sollte recht behalten. Vier Alben und 14 Jahre später rappen Liricas Analas noch immer auf «Churwelsch», mit dem aktuellen Album «Analium» (2012) schafften sie es gar in die Top Ten der Schweizer Albumhitparade.

Rätoromanisch als Muttersprache

Liricas Analas. Den Namen kann man salopp mit Arschreime oder als rätoromanische Antwort auf die US-Warnkleber «Explicit Lyrics» umschreiben. Zum harten Kern der sympathischen Alpenboygroup gehören die MCs Johannes Jusht Just aus Disentis, Roman Flepp aus Brigels, Renzo Orange Hendry aus Sedrun und DJ David Suivez aus Winterthur, alle um die dreissig und modisch auf dem neusten Stand. Heute leben ausser Orange alle in der grössten romanischsprechenden Gemeinde ausserhalb Graubündens: in Zürich. Flepp als Tourismusberater, Just als Grafiker und Suivez als DJ und Yogalehrer. Orange pendelt zwischen Chur und Disentis, wo er eine Diskothek managt.

An einem Tisch im Hotel Kurhaus Lenzerheide. Der Soundcheck im Cinema Club war kurz und schmerzlos. Das Konzert beginnt erst in drei Stunden, die Band ist hungrig, Pascal, der das Merchandising macht, ist vor allem durstig, «viva!». Es gibt Bündnerfleisch-Ravioli, zwischen vollen Tellern und Gläsern und halb leeren Flaschen liegt das Mikrofon des Reporters.
ANNABELLE: Mal ehrlich, war das Kalkül, dass ihr euch fürs Rätoromanische entschieden habt? In der Hoffnung auf einen Exotenbonus?
JOHANNES JUSHT JUST: Gar nicht. Rätoromanisch ist unserer Muttersprache. Wir wollten in der Sprache rappen, die uns am nächsten ist. Das ist authentisch, und darum geht es im Hip-Hop.
Ihr kommt alle aus einem anderen Dorf. Wie habt ihr euch gefunden?
RENZO ORANGE HENDRY: Die Leute, die sich für Hip-Hop interessierten, konnte man damals im Bünderland an einer Hand abzählen. Man wusste voneinander.
ROMAN FLEPP: Ich bin jedes Wochenende von Brigels per Autostopp nach Disentis gefahren, um mit Jusht und Orange zu jammen.
DJ DAVID SUIVEZ: Ich ging in Schiess in die Kanti, weil ich mit meinen miesen Noten nirgends mehr angenommen wurde. Dort lernte ich Jusht kennen. Wir waren beide Exoten, ich als Halbchinese, Jusht als Ostdeutscher.
Ostdeutscher?
JUSHT: Meine Familie flüchtete vor der Wende aus Dresden in den Westen. Als Reformierte kamen wir ins katholische Bündner Oberland nach Disentis, wo mein Vater als Pfarrer arbeitete. Ich war damals fünf Jahre alt. Im Kindergarten lernte ich dann Rätoromanisch.
FLEPP: David ist der Einzige in der Band, der kein Rumantsch versteht.
DAVID: Ich habe sehr lange gar nicht verstanden, was diese Jungs überhaupt wollten. Eigentlich waren die überhaupt nicht auf meiner Linie. Null Stil, schreckliche Klamotten, diametral andere Interessen. Aber sie waren frech und unverbraucht, das gefiel mir. Wir sind alle ziemlich eigene Typen, die sich stark voneinander unterscheiden. Das ist spannend und manchmal auch anstrengend.
FLEPP: Wir sagen nach jeder Platte, dass das unsere letzte war…
Rappt ihr in Rumantsch Grischun, der offiziellen Schriftsprache?
ORANGE: Nein. In unserem Dialekt.
Das heisst, in eurem Idiom, dem Sursilvan?
ORANGE: So kann man das nicht sagen. Die Dialekte im Rätoromanischen unterscheiden sich auch innerhalb der fünf Idiome Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Putér, Vallader. Jeder von uns rappt in seiner eigenen Mundart.
FLEPP: Ich als Brigelser spreche zwar das gleiche Idiom wie Jusht in Disentis, trotzdem unterscheiden sich unsere Dialekte. Allein für das rätoromanische Wort für Brigels, nämlich Breil, gibt es drei verschiedene Arten, es auszusprechen.
Gibt es im Rumantsch so etwas wie Slang?
ORANGE: Sicher. Der Sedruner Dialekt kommt dem Ami-Slang am nächsten. Der hat was Dreckiges. Von Disentis abwärts wird es dann geschliffener, eher so Britstyle.
JUSHT: Natürlich setzt sich unter den Jugendlichen immer wieder ein neuer Sound in der Sprache durch, eine Art Slang, der sich von der Sprache unserer Eltern unterscheidet und mit Germanismen und Anglizismen durchsetzt ist.

Die Sprache der Bergbauern

Orange hat mir beim Soundcheck erzählt, dass es als Teenager in Chur sehr uncool war, Rätoromanisch zu sprechen. Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht?
FLEPP: Früher war Rätoromanisch die Sprache der Bergbauern. Die Churer sahen sich immer als Städter und sprachen lieber Schweizerdeutsch, obwohl sie von Bergen umringt sind. Wir haben mit Liricas Analas gezeigt, dass Rätoromanisch cool und nicht hinterwäldlerisch ist. Dass man urban und jung sein und sich trotzdem mit seiner Muttersprache identifizieren kann.
ORANGE: Unsere Songtexte werden heute sogar in Schulen gelesen.
Obwohl nur gerade ein Prozent der Schweizer Bevölkerung eure Sprache spricht. Damit sie nicht ganz ausstirbt, steckt der Bund viel Geld in den Erhalt. Muss das sein?
JUSHT: Es kommt drauf an, was mit dem Geld passiert. Geht es ums Konservieren oder ums Beleben unserer Sprache?
ORANGE: Das ist eine alte Diskussion, gerade unter Bündnern, die nie zu einem Konsens führt. Die Sprachförderung hat für uns Betroffene ja nicht nur positive Seiten.
Inwiefern?
FLEPP: Wenn du rätoromanisch aufwächst, stehst du in der Schule hintan. Du musst wie alle Deutschschweizer Hochdeutsch lernen, gleichzeitig aber auch noch Rumantsch Grischun büffeln…
… das amtliche Rätoromanisch …
… das sich stark von den gesprochenen Dialekten unterscheidet, und bis wir das begriffen haben, lernt ihr im Unterland schon lange Frühenglisch und -französisch. Kein Wunder, sind wir Bündner die schlechteren Primarschüler als ihr Deutschschweizer.
JUSHT: Darum finde ich, dass das gesprochene Rätoromanisch, das echte Rumantsch, gefördert werden soll, nicht die Amtssprache Rumantsch Grischun. Das sind verpuffte Energien.
FLEPP: Man kann lange darüber diskutieren, ob in den Schulen Rumantsch Grischun gelehrt werden soll oder nicht, wenn es Gemeinden gibt, in denen Schulhäuser mangels Schülern geschlossen werden müssen. Die Abwanderung in den Bergregionen und fehlende Perspektiven sind das grössere Problem als die Frage der Sprachförderung.

«buna notg, dorma bain!»

Wie muss man sich die Bündner Rapszene in den Neunzigern vorstellen? Man ist dort ja weit vom Epizentrum des Hip-Hop entfernt.
ORANGE: Alles kam verspätet bei uns an. Als es bei euch im Mittelland schon Breakdance gab, hörte man bei uns noch Iron Maiden und Janis Joplin. Später kamen irgendwann mal Cypress Hill, die Beastie Boys, Rage Against the Machine und natürlich der ganze Ami-Rap.
JUSHT: Aber auch deutscher Rap wie Main Concept, Blumentopf, Rödelheim Hartreim Projekt, Creutzfeld & Jakob …
FLEPP: Ich kann mich erinnern, dass es in einem Plattenladen beim Bahnhof Chur eine Ecke mit Schweizer Hip-Hop gab. Black Tiger, Bligg, Gleis 2. Für mich war das der Moment, wo ich dachte, hey, da will ich auch rein.

Gegen zwei Uhr im Cinema Club. Zum Final pusht DJ Suivez noch einmal die Beats, Luftballone platzen, Körper wippen, Orange stolpert, der Saal kocht, «buna notg, dorma bain!», das wars, dann japsen die erschöpften MCs in der Raucherlounge nach Luft. Flepp hat einen roten Kopf, Orange muss erst mal duschen, Jusht macht ein mürrisches Gesicht. Der Gig sei Scheisse gewesen, das komme vom Alk, «jetzt gibts dann bald ne Schlägerei», raunt DJ David, doch erst gibts noch mal Bier. Der CD-Verkäufer lallt, ein «Ofen» dampft, der Reporter macht sich aus dem Staub.

Natürlich ging die Party weiter, Flaschen klirrten, Zapfen knallten, und der DJ sollte recht behalten: Es kam zum Handgemenge in den Korridoren, die Security schritt ein, Pascal, der Mann fürs Merchandising, verschwand ohne Jacke in der Winternacht. Rock’
n’Roll im Bündnerland! Man habe ihn gesucht, doch er sei ab nach Chur, so erfuhr man später. Per Autostopp wie damals, 1999, als Liricas Analas die vierte Landessprache kidnappten.

— CD: Liricas Analas: Analium (Muve)
— Konzertinfos und Songtexte samt Übersetzungen auf www.analas.ch