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Hoffen, dass sich in Europa etwas ergibt

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Hoffen, dass sich in Europa etwas ergibt

  • Interview: Larissa Haas; Foto: iStock/guenterguni (1)

Obwohl sie längst wissen, wie schwierig die Lage in Europa für Migranten ist, machen sich jedes Jahr Tausende aus Afrika auf die gefährliche Reise, um der Perspektivlosigkeit ihrer Heimat zu entfliehen. Doch was treibt Menschen aus Kamerun nach Europa? Michelle Engeler, Ethnologin am Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel, erklärt die Hintergründe.

annabelle: Im vergangenen Jahr kamen 5145 Migranten auf legalem Weg aus Kamerun nach Europa. Doch daneben gibt es auch unzählige, die illegal ihre Reise antreten. Warum verlassen sie ihr Land?
Michelle Engeler: Kamerun wirkt zwar im Gegensatz zu seinen krisengeplagten Nachbarn Kongo, Zentralafrikanische Republik, Tschad und Nigeria wie ein Anker der Stabilität, doch herrscht auch hier in bestimmten Regionen ein hohes Mass an Gewalt, gegenüber der Englisch sprechenden Minderheit aber auch gegen Homosexuelle. Präsident Paul Biya ist bereits seit 1982 an der Macht und führt ein repressives, von Diskriminierung geprägtes Regime. In den vergangenen Jahren kam es vermehrt zu Protesten gegen das Regierungssystem, die jedoch mit Gewalt niedergeschlagen wurden.

Wie sieht die Perspektive für junge Menschen in Kamerun aus?
Kameruns ökonomische Verhältnisse sind eine grosse Herausforderung. Die Schere zwischen Arm und Reich ist weit offen. Zwar gehört das Land zu einem der wirtschaftlich stärksten Zentralafrikas, dies gilt aber nur für gewisse Regionen. Das derzeitige Wirtschaftswachstum reicht nicht aus, um genügend Arbeitsplätze zu schaffen. Noch immer leben rund 39 Prozent der gut 23 Millionen Kameruner unter der Armutsgrenze; 40 Prozent der Menschen sind unter 16 Jahre alt, die meisten haben weder eine berufliche Perspektive noch ein geregeltes Einkommen. Die Mehrheit arbeitet im informellen Sektor: Wer nach der Ausbildung oder nach dem Studium keinen Job findet, hilft bei Verwandten oder Bekannten aus. Männer eröffnen einen eigenen Mobilfunkshop, Frauen verkaufen Selbstgekochtes auf den Strassen. Besonders für Studienabgänger ist es ernüchternd, sich ständig unter seinem Wert zu verkaufen. Dies entspricht natürlich nicht dem, was man sich von der Zukunft erhofft. Kommen dann noch problematische politische oder klimatische Umstände hinzu, können das Gründe sein, um das Heimatland zu verlassen.

Inwiefern treiben NGOs die Hilfe vor Ort voran?
Tatsächlich agiert in Kamerun, wie in vielen anderen Ländern Afrikas, eine gewaltige Maschinerie internationaler und lokaler Nichtregierungsorganisationen. Dass dadurch legale oder illegale Migrationsbewegungen verhindert werden können, wage ich zu bezweifeln. Viel wichtiger wäre es, die Migrationswege zu legalisieren, etwa über einen einfacheren Zugang zu Touristen-, Studien- oder Arbeitsvisa.

Welches Europa-Bild herrscht in Kamerun vor?
Durch die heutige globale Vernetzung haben die jungen Menschen eine realistische Vorstellung von der Situation Europas. Sie schauen Serien, sind auf Social Media unterwegs und miteinander im Gespräch. Sie sind informiert, sie wissen, was in Europa abgeht. Man ist sich der Probleme Europas wie Rassismus, Ausgrenzung und den erschwerten Anstellungsbedingungen durchaus bewusst. Jedoch hat man das Gefühl, mit Eigeninitiative alles irgendwie in den Griff zu bekommen. Die Zeiten, in denen man Europa mit einem Ort assoziierte, in dem Geld und Honig fliessen, sind vorbei. Die Menschen sind realistischer geworden.

Wenn das so ist, weshalb ist die Hoffnung dennoch grösser als die Vernunft?
Hoffnung ist ein wichtiges Konzept – vor allem, wenn die aktuelle politische und ökonomische Situation keinesfalls befriedigend ist und Aussichten auf Besserung kaum erkennbar sind. Viele Menschen sagen sich, dass sich in Europa irgendwie irgendetwas ergibt. Zudem erscheint es auch einfach unvernünftig, in der als schlecht empfundenen momentanen Situation vor Ort zu verharren.

Trotzdem: Niemand verlässt doch seine Familie einfach so.
Für viele junge Menschen in Kamerun ist es keine Option, daheimzusitzen und ohne Perspektive auf geregeltes Einkommen älter zu werden. Vor allem auch deshalb, weil man den Eltern nicht zur Last fallen will und ihnen etwas zurückgeben möchte. Es geht hier nicht um ein Zurücklassen der Familie, sondern eher darum, als wertvolles, vollwertiges Familienmitglied zurückzukommen.

Was blüht illegalen Migranten in Europa?
Kameruner und Kamerunerinnen haben in Europa kaum Chance auf Asyl. Deswegen kommen sie ohne Papiere nach Europa oder verschwinden relativ schnell aus den Auffanglagern und tauchen unter. Diese Menschen leben oft unter unmenschlichen Bedingungen, landen schlimmstenfalls in Zwangsarbeit oder Prostitution. Andere gründen mit legalen Kontakten, zum Beispiel mit einem Onkel oder Cousin mit Aufenthaltsbewilligung, eine Art Schicksalsgemeinschaft und versuchen so, sich irgendwie durchzuschlagen.

Inwiefern geht es hier auch um Selbstprofilierung vor der eigenen Familie?
Schliesslich will man doch der lebende Beweis dafür sein, dass es sich gelohnt hat, sein Land zu verlassen. Wenn die Menschen mit ihrer Familie in Kontakt sind, bleiben sie punkto Wohlbefinden eher schwammig. Man umgeht konkrete Bestandesaufnahmen, sagt, dass es einem gut geht. Nicht zuletzt auch deshalb, weil man vermeiden will, dass sich Eltern Sorgen machen. Bestimmt werden da auch Geschichten erzählt, die nicht ganz der Realität entsprechen; eine gewisse Selbstdarstellung schwingt sicherlich mit.

Dann stehen die jungen Migranten unter einem extrem hohen Erwartungsdruck?
Ja, das kann durchaus sein. Weil man genau diesen Erwartungsdruck vermeiden will und weil Angst vor Missgunst und Neid mitspielt, gehen viele ohne Ankündigung oder melden sich nur unregelmässig bei ihrer Familie daheim. Manchmal verläuft die Flucht auch eher spontan: Steht ein Bus bereit, steigt man ein und fährt weg.

Die Geschichte von Adonise Tchokonte aus der Reportage «Wo bist du?» (in der aktuellen annabelle), in der Angehörige von verschwundenen Migranten von ihrem Kummer erzählen, zeigt, dass Töchter und Söhne sogar bereit dafür sind, das ganze Ersparte der Familie zu stehlen. Geht es hier nicht auch um Selbstsucht und Ignoranz?
Kriminelle Handlungen gegenüber der eigenen Familie finde ich ein extremes Beispiel. Die eigene Familie zu bestehlen, ist mit höchster sozialer Ächtung verknüpft. Zwar verlassen die Menschen, die illegal nach Europa kommen, selten nur mit eigenem Budget das Land, typischer sind Geldanleihen bei Verwandten oder Freunden. Zudem tragen viele Migranten auch eine Telefonnummer von Verwandten und Bekannten bei sich. Das Stehlen von Geld scheint im Fall von Adonise Tchokonte wohl die letzte Möglichkeit gewesen zu sein, der momentanen Situation zu entfliehen. Solche kriminellen Aktionen stellen wohl eher eine Ausnahme dar. Bestimmt fühlen sich diese Menschen schuldig gegenüber der eigenen Familie, wollen das Vergehen wieder gut machen und das Geld schnellstmöglich zurückzahlen. Manche von ihnen haben nicht den Mut, sich bei ihrer Familie zu melden, bevor sie nicht sicher sind, den Schuldenberg zurückzahlen zu können.

Dr. Michelle Engeler ist Ethnologin am Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel. Ihre regionale Expertise ist Westafrika, inhaltliche Forschungsschwerpunkte umfassen Themen wie Generationenverhältnisse, Migration und Bildung.

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Flüchtlingexpertin Michelle Engeler