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Mindestlohn-Debatte: Vor allem Frauen verdienen zu wenig

Leben

Mindestlohn-Debatte: Vor allem Frauen verdienen zu wenig

  • Text: Stephanie Hess, Illustrationen: Lehel Kovàcs

Sieben von zehn Beschäftigten, die weniger als 4000 Franken im Monat verdienen, sind Frauen. Warum eigentlich? Und ist die Mindestlohn-Initiative das richtige Mittel dagegen?

Ich kann es mir nicht leisten, bei Coop oder Migros einzukaufen», sagt Frida* (55) und nimmt einen Schluck Kaffee. Für ihre Besorgungen fährt sie über die nahe Grenze nach Deutschland. «Gut und günstig», heisst es auf der Rahmflasche, die sie neben die Kaffeetasse stellt. Seit letztem Oktober bezahlt Frida keine Krankenkassenprämien mehr. «Zu teuer.» Die Taxifahrerin muss mit rund 2400 Franken pro Monat auskommen.

Anna* (24) arbeitet für 3500 Franken im Monat als Flight Attendant bei einer Schweizer Fluggesellschaft. Den Jetlag hat sie ständig im Gepäck, migräneartige Kopfschmerzen auch. «Ich begleite pro Woche Hunderte Leute in die Ferien», sagt sie. «Aber Geld, um selber zu verreisen, habe ich nicht.»

Michaela* arbeitet seit mehr als zwei Jahren bei einer Süsswarenladenkette. Sie ist 25 Jahre alt und verdient brutto 19.50 Franken pro Stunde. «Ich komme nur durch, weil ich noch bei meinen Eltern lebe», sagt sie. Wenn sie spricht, klingt ihre Stimme erstaunt. Als könne sie es selber kaum fassen, dass sie, die fast zehn Jahre weiterführende Schulen und Weiterbildungen absolviert hat, für ein paar Franken pro Stunde arbeiten muss.

Frida, Anna und Michaela sind typische Tieflöhnerinnen – typisch, weil weiblich: Sieben von zehn Beschäftigten in der Schweiz, die weniger als die von der Mindestlohn-Initiative geforderten 4000 Franken pro Monat verdienen, sind Frauen. Und je tiefer man die Einkommenstreppe hinuntersteigt, desto höher wird ihr Anteil. Bei einem Lohn unter 3000 Franken kommt ein Mann auf fünf Frauen.

Viele Frauen in schlechtbezahlten Jobs

Katja Rost, Soziologieprofessorin an der Uni Zürich, erklärt dies mit der überproportionalen Vertretung der Frauen in schlecht bezahlten Berufen. Sie putzen, sie schneiden Haare, sie feilen Nägel, kneten Verspannungen weg. In dieser Branche der «persönlichen Dienstleistungen» arbeiten am meisten Tieflöhner, 62 Prozent davon sind weiblich. Insgesamt mehr als jede zehnte Frau arbeitet im Detailhandel, an der Kasse, in der Beratung; Jobs, die vor allem in der Bekleidungsbranche zu den schlechtestbezahlten der Schweiz gehören. Je nach Region bewegen sich die Löhne zwischen 3140 und 3450 Franken im Monat.

Doch warum sind Frauen bei den Tieflöhnern derart übervertreten? Katja Rost sieht eine Ursache darin, dass Frauen in ihrer Laufbahn unterbrochen werden, wenn sie Kinder bekommen. Wenn sie nach der Babypause wieder einsteigen wollen, sei das oft nur auf einer tieferen Stufe möglich. Auch deshalb, weil sie dann in vielen Fällen Teilzeit arbeiten. Manche wechselten zudem die Branche und müssten ihre Karriere wieder neu starten.

Ueli Mäder, Professor für Soziologie an der Universität Basel, fällt überdies auf, dass Frauen gewerkschaftlich weniger gut organisiert sind. «Das verhindert einen gemeinsamen Lohnkampf.» Diese Einschätzung bestätigt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB). Arbeitnehmerinnen sind weniger oft durch Gesamtarbeitsverträge (GAV) geschützt. Gerade in «typischen» Frauenberufen wie Kosmetikerin, Floristin und in Bereichen des Detailhandels existieren laut SGB keine solchen Verträge, die Lohn oder Arbeitszeiten festlegen.

Und dann ist da auch noch die Lohndiskriminierung. Durchschnittlich verdienen Frauen in der Schweiz immer noch 18.4 Prozent weniger als ihre männlichen Arbeitskollegen. Ein Beispiel: Gemäss den Gewerkschaften erhalten Verkäuferinnen im Detailhandel im Durchschnitt 633 Franken weniger als Verkäufer. Dementsprechend öfter fallen sie unter die Tieflohnschwelle. Offiziell spricht der Bund von 330 000 Menschen in der Schweiz, die weniger als 4000 Franken monatlich verdienen – auch wenn man ihre Löhne auf eine Vollzeitstelle aufrechnet. Das sind neun Prozent aller Beschäftigten. Am 18. Mai stimmt das Volk darüber ab, ob all diese Menschen künftig mindestens 22 Franken pro Stunde verdienen sollen. Doch ist die Mindestlohn-Initiative das richtige Instrument, um dem Lohndiskriminierungsproblem von Frauen entgegenzuwirken?

Daniel Lampart, Chefökonom des SGB, ist davon überzeugt. «Geht man davon aus, dass Männer heute einen Marktlohn erhalten, so sind Frauen unter dem Markt bezahlt.» Mit einem Mindestlohn könne man dieses «Marktversagen» beseitigen, zumindest auf den tiefen Lohnstufen. Anders sieht das Daniella Lützelschwab. Sie ist Mitglied der Geschäftsleitung des Arbeitgeberverbands, der die Initiative ablehnt. «Wir gehen davon aus, dass der Mindestlohn zu einer höheren Arbeitslosigkeit führen würde.» Gerade für Wiedereinsteigerinnen würde es schwieriger, einen Job zu finden. «Wir befürworten vielmehr Massnahmen auf betrieblichem Niveau», sagt Daniella Lützelschwab. Sprich: Jedes Unternehmen soll eigene Wege suchen, um mehr Lohngleichheit zu erreichen. Der Bundesrat argumentiert ähnlich. Wie bereits das Parlament lehnt auch er die Mindestlohn-Initiative ab. Er hält aber in seiner Botschaft zur Initiative fest, dass die Politik der Lohngleichheit verstärkt fortzuführen sei. Damit ist einerseits der gescheiterte, Ende Jahr auslaufende Lohngleichheitsdialog gemeint, und andererseits die Lohnkontrollen bei Unternehmen, die Leistungen für den Bund erbringen.

Arbeitslosigkeit durch Mindestlohn?

Dass der Mindestlohn zu mehr Arbeitslosigkeit führen würde, dafür sieht Gewerkschafter Daniel Lampart keine Anhaltspunkte. «Zahlreiche Studien aus anderen Ländern belegen, dass die Auswirkungen neutral sein werden.» Das hätten auch erste hiesige Erfahrungen gezeigt. Kürzlich wurden die Mindestlöhne im Gartenbau auf 4000 Franken angehoben. Gemäss Lampart hatte dies keine vermehrte Arbeitslosigkeit zur Folge. In seiner Stellungnahme lobt der Bundesrat das heutige System und das «ausgezeichnete Funktionieren der Sozialpartnerschaft». Dass diese jetzt hochgehalten werde, habe eine gewisse Beliebigkeit, sagt hingegen der Soziologe Ueli Mäder. In den letzten Jahren sei es für Gewerkschaften zunehmend schwierig geworden, GAV auszuhandeln. Nur rund die Hälfte aller Angestellten in der Schweiz haben einen Gesamtarbeitsvertrag, in dem ein Mindestlohn festgeschrieben ist.

Verkäuferin Michaela und Taxifahrerin Frida gehören nicht dazu. Für Frida ist klar, dass sie und ihre Kollegen «zusammenhalten und mit der Gewerkschaft kämpfen müssen, damit sich die Löhne im Taxigewerbe endlich erhöhen». Flight Attendant Anna hat einen GAV, inklusive Mindestlohn. «Ich mag meinen Job, aber 3500 Franken im zweiten Jahr sind zu wenig», sagt sie. «Ich finde es nicht fair, dass ich unregelmässig, an den Wochenenden und nachts arbeite und zudem an Bord einen grossen Einsatz leiste, aber einen Lohn unter der Tieflohnschwelle erhalte.» Auch Michaela ärgert sich über ihre Arbeitsbedingungen: dass sie bei der Süsswarenladenkette nur im Stundenlohn angestellt ist, keine bezahlten Ferien hat und bei Krankheit keinen Lohn erhält. «Da wäre es doch nur fair, wenn wir wenigstens so viel Lohn erhalten, dass wir auch davon leben können.»

Egal, ob der gesetzliche Mindestlohn nun eingeführt wird oder nicht: Die grosse Anzahl betroffener Frauen ist alarmierend. Dass Frauen fast dreimal häufiger zu Niedriglöhnen arbeiten als Männer, ist in kaum einem anderen europäischen Land zu beobachten. Das zeigt eine Studie des Statistischen Amts der Europäischen Union. Es sei darum wichtig, dass sich junge Frauen früh Gedanken über ihre Jobsituation machen, sagt Soziologin Katja Rost. Und zwar, indem sie keine frauentypischen Niedriglohnberufe wählen. Und: «Frauen sollen nach dem Mutterschaftsurlaub möglichst schnell wieder in den Beruf einsteigen.» Zu mindestens 60 bis 80 Prozent. «Für die Karriere und das Gehalt ist ein rascher Wiedereinstieg meist unverzichtbar.»

Allerdings sind Frauen in der Arbeitswelt noch einem Mechanismus ausgesetzt, den sie selber kaum beeinflussen können: Je mehr Frauen in einem bestimmten Beruf tätig sind, desto stärker sinkt das Lohnniveau.

Anna

24 Jahre alt, Flight Attendant, kaufmännische Lehre. Monatseinkommen: 3500 Franken plus Spesen

«Ich arbeite seit zwei Jahren als Flight Attendant. Zuvor habe ich eine kaufmännische Lehre gemacht und dann ein Semester Betriebswirtschaft studiert. Flight Attendant zu sein, war schon lange mein Traum. Doch die Zeit, die wir an einer Destination bleiben, ist jeweils ziemlich kurz. Bei Kurzstrecken ein paar Stunden, bei Langstrecken ein bis zwei Tage. Ausserdem arbeite ich oft am Wochenende und nachts. Es gibt als Flight Attendant wenig Aufstiegsmöglichkeiten, der Lohn ist schlecht. Ich habe darum gekündigt, um eine Ausbildung im Bereich Hotellerie anzufangen. Ich lebe mit meinem Freund zusammen. Wenn ich allein eine Wohnung bezahlen oder sogar Kinder durchbringen müsste, bräuchte ich Unterstützung vom Staat.»

Michaela

25 Jahre alt, Verkäuferin, keine Berufsausbildung. Monatseinkommen (60 bis 80 Prozent): rund 1900 Franken

«Ich habe nach der Oberstufe diverse weiterführende Schulen besucht und abgeschlossen, nämlich zwei Brückenangebote und eine Vorbereitungsschule für die Matura. Vor zwei Jahren habe ich dann mit der Abendmatura begonnen. Gleichzeitig fing ich an, im Stundenlohn im Süsswarenladen zu arbeiten. Mein Bruttolohn beträgt dort 19.50 Franken pro Stunde. Die Kombination von Arbeit und Abendschule ging so lange gut, wie die IV meinen Eltern noch Beiträge für mich zahlte. Sie fielen weg, als ich 25 Jahre alt wurde. Daraufhin musste ich die Schule abbrechen, weil mein eigenes Einkommen einfach nicht reichte. Ich habe mir überlegt, aufs Sozialamt zu gehen, weil ich Zahnarztrechnungen und die Krankenkassenprämien kaum bezahlen kann. Ich lebe noch zuhause, eine eigene Wohnung oder ein Zimmer kann ich mir nicht leisten.»

Frida

55 Jahre alt, Taxifahrerin, ohne Berufsausbildung. Monatliches Einkommen: 2420 Franken

«Ich habe eine Lehre als Verkäuferin abgebrochen. Mit 18 Jahren wurde ich zum ersten Mal Mutter, hatte weitere vier Kinder. Mit knapp 30 Jahren begann ich mit Taxifahren. Bis ich vor vier Jahren die Diagnose Lymphdrüsenkrebs erhielt, habe ich immer 100 Prozent gearbeitet. Nach einer Operation bin ich noch zu 40 Prozent arbeitsfähig. Die IV zahlt 1000 Franken pro Monat. Rund 1400 Franken verdiene ich mit Taxifahren. Mein Mann und ich haben uns getrennt, jetzt muss ich die Miete allein bezahlen. Bevor ich Geld ausgebe, frage ich mich immer: Wie dringend brauchst du das? Oft werde ich von Freunden zum Essen eingeladen. Ohne mein Umfeld käme ich nicht über die Runden.»