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Meine grosse Schwester

Leben

Meine grosse Schwester

  • Text: Yvonne Eisenring 

Ob ich sie auswählen würde? Ich weiss es nicht. Wie soll ich das wissen? Meine Schwester war einfach da. Von der ersten Sekunde an. Ich hatte keine Wahl. Und sie auch nicht.

Meine erste Erinnerung an mich und meine Schwester ist eine dieser falschen Erinnerungen, die man an seine Kindheit hat, weil sie nicht aus dem Gedächtnis kommen, sondern auf Erzählungen, Fotos und Filmen basieren. Ich habe die Szene so klar vor Augen, weil ich das Video schon zigmal gesehen habe. Eine Familientradition. An Weihnachten holen wir alte VHS-Kassetten hervor und sind entzückt oder irritiert oder beides gleichzeitig. In einer unserer Lieblingsszenen sind meine Mutter, meine Schwester und ich. Mein Vater filmte. Das Spiel, das eigentlich kein Spiel ist, bestand darin, den Bäbiwagen von einem Ende des Korridors zum anderen zu stossen.

Meine Schwester, 3-jährig, blonder Pony, munter plaudernd, marschiert also mit dem Bäbiwagen den Korridor entlang. Hin und zurück. Flottes Tempo. «So, etz dörf d’Yvonne», sagt meine Mutter, neben mir kniend. Der Wagen, grösser als ich, knallt zuerst rechts gegen die Wand, dann links. Es sind meine ersten Schritte. Ich mache zwei nach vorne, vier zurück. Meine Schwester feuert mich an. Hüpft den Weg vor. Nach fünf Minuten habe ich eine Länge geschafft. Sie übernimmt energisch den Wagen, rauf, runter, zack, zack. Übergabe. Noch nicht geübter fahre ich wieder gegen die Wand, dann rückwärts, Schneckentempo. Meine Schwester verliert die Nerven. Zuerst will sie mich schieben, dann schubst sie mich. Ich stolpere, falle hin. Stehe auf. Sie schubst wieder. Ich weine los, das Video ist fertig. Und wir, die heute die Aufnahme anschauen, sagen alle: «Wie gemein! Arme, kleine Yvonne!»

War ich die arme Kleine? Vielleicht am Anfang, ja. Meine Schwester machte es mir nicht leicht, sie zu mögen. Sie hat der Baby-Hängematte oft einen kräftigen Tritt gegeben, wenn ich drin lag. Und später habe sie mich gekniffen, manchmal sogar gebissen, erzählt meine Mutter. Die klassische Eifersucht. Das ältere Kind wird entthront, das jüngere muss es ausbaden. Das verstehe ich ja. Irgendwie. Irgendwie auch nicht. Es war für mich völlig klar, dass ihr der Thron gehört. Ich habe ihr diesen Platz nicht wegnehmen wollen. Nicht, weil ich mich gerne unterordne oder mich gerne rumkommandieren lasse. Ich hasse es, wenn sich jemand aufführt, als sei er der Chef. Mit einer Ausnahme. Wollte ich spielen und meine Schwester wollte nicht, spielten wir nicht. Wollte sie spielen, spielten wir, auch wenn ich gerade ein Bilderbuch anschaute. Beim Schule-spielen war sie die Lehrerin. Verkleideten wir uns am

Samichlaus-Tag, war sie der Samichlaus, ich der Esel. Spielten wir Reitschule, galoppierte ich mit meinem Steckenpferd im Kreis, sie stand in der Mitte und gab Befehle. Und wenn wir Blockflöten-Unterricht spielten, zog sie mir mit dem Dirigierstöckli eins über den Kopf, wenn ich den Ton nicht traf. Was oft passierte. Ich konnte nicht Blockflöte spielen. Nur: sie auch nicht.

Bei jeder anderen Person hätte ich das nicht mitgemacht. Mit meiner grossen Schwester war das anders. Ich kam zur Welt und liebte sie. Bedingungslos. Geändert hat sich das nie. Die Beziehung hielt alles aus. Sie überlebte jede Krise, jeden Konflikt. Meine Schwester war nachgiebig, ich nie nachtragend. Verzeihen müssen wir zwar heute nicht mehr viel. Wir streiten selten. Fehler, die ich bei anderen Beziehungen mache, mache ich bei ihr nicht. Als kleine Schwester bin ich die beste Version von mir selbst und gleichzeitig die ehrlichste. Warum? Immer wenn eine Beziehung in die Brüche geht oder eine Freundschaft im Sand verläuft, frage ich mich das: Warum ist es mit meiner Schwester so anders? Wo liegt das Geheimnis? Oder gibt es kein Geheimnis, und Blut ist einfach dicker als Wasser? Ich war vierzehn, sie war sechzehn. Ich war zuhause und sie in Schweden in einem Ferienlager. Es waren Sommerferien, als unser Vater starb. Im Badezimmer beim Zähneputzen. Herzinfarkt. Einer meiner ersten Gedanken war: Wie erzählen wir das bloss Corinne? Ich stellte mir vor, wie sie beim Frühstück sitzt, zusammen mit ihren Freundinnen, wie sie ein Konfi-Brot isst und dann die Leiterin zu ihr kommt und sagt: «Da ist ein Anruf für dich.» Ich hoffte, dass ihr die Leiterin sagen würde, dass sie sich setzen soll, bevor sie den Hörer in die Hand nimmt.

Ich hoffte, dass sie getröstet wird.

Und ich wusste, dass sie nicht getröstet werden kann. Ich wusste, wie sich meine Schwester fühlen wird. Weil ich wusste, wie ich mich fühle. Weil wir uns so ähnlich sind, wenn es ums Fühlen geht. Und dieser Schmerz, ich hielt ihn ja selber nicht aus. Aber es war schlimmer, zu wissen, dass meine Schwester leidet, als selbst zu leiden.

In den folgenden Jahren wurde in unserem Umfeld viel gestorben. In kürzester Zeit, wie Schachfiguren, die jemand der Reihe nach vom Spielbrett nimmt. Ein halbes Jahr nach dem Tod meines Vaters starb sein Bruder, dann unsere Grossmutter, die Frau meines Göttis, die Nachbarin, die beste Freundin meiner Mutter, die Mutter meiner besten Freundin, dann die andere Grossmutter. Wir hielten zusammen. Hielten es aus. Wir sprachen viel darüber, zu dritt, zu zweit. Meine Schwester zeichnete. Ich sass Abend für Abend in ihrem Zimmer und schaute ihr beim Zeichnen zu.

Ist es durch Papas Tod, dass wir uns so nahestehen, meine Schwester und ich, frage ich meine Mutter. Ist das der Grund? Meine Mutter schüttelt den Kopf. Nein. «Du hast einfach nicht aufgegeben.» Ich hätte mich für diese Beziehung eingesetzt, aus tiefster Überzeugung, dass das so sein muss zwischen uns. Woher diese Überzeugung kommt, wisse sie nicht. Auch ich kann nicht erklären, warum ich so hartnäckig blieb. Ich hatte immer viele Freunde, es gab genug Kinder, die mit mir spielen wollten. Ich war und bin von den grossartigsten Menschen umgeben, habe vertraute Beziehungen ohne Masken, teilweise vernarbt und darum umso stärker. Ich könnte auf die Zuwendung meiner Schwester verzichten. Ich wäre nicht einsam ohne sie. Und doch war und ist sie meine liebste Freundin.

«Gemeinsam in einem Nest heranwachsen, stiftet automatisch viel Nähe und Verbundenheit.» Solche Sätze stehen in Texten über Geschwister, und ich finde sie allesamt unbefriedigend. Es ist wie bei allen Themen, die so individuell sind: Sie schrumpfen zusammen und verblassen, wenn man sie im Grossen und Ganzen erfassen will. Immer ist von «allgemein gesagt» und «in der Regel» die Rede. «Altersmässig eng benachbarte Geschwister mit dem gleichen Geschlecht haben in aller Regel eine ambivalentere, aber auch intensivere Beziehung.» Unsere Konstellation, zwei Mädchen, nur 19 Monate Unterschied, sei besonders konfliktgefährdet. Es gibt Studien, die sagen, dass die Älteren oft fleissiger und pflichtbewusster sind und deshalb eher in der Chefetage oder einem politisch hohen Amt landen. Weil sie früh Lehrer spielen mussten für die Jüngeren. Und weil sie zwei IQ-Punkte intelligenter sind. Hat eine norwegische Studie ergeben. Zwei IQ-Punkte. Im Durchschnitt. In einigen Untersuchungen wurde herausgefunden, dass jüngere Schwestern wilder und lauter sind, und die Älteren eher ruhig und kreativ. Und in einer anderen Studie heisst es wiederum, die Geschwisterposition werde überschätzt. Man könne keine Charaktereigenschaften zuordnen. Es wird gerne das Schicksalshafte betont, die Tatsache, dass man sich seine Geschwister nicht auswählen kann. «Das spielt immer eine Rolle», schreiben Familienforscher. Klar, denke ich, aber die Frage ist doch: Welche Rolle spielt es?

Eine Freundin hat ein ähnlich enges Verhältnis. Die Schwester steht über allem. Sie ihre beste Freundin zu nennen, würde ihr nicht gerecht. Kontakt haben sie täglich. Sie verstehen sich ohne Worte. «Wir schicken uns Schrägstriche per SMS», erzählt sie. «Der Schrägstrich kann bedeuten: Ich bin zuhause angekommen. Oder: Ich denke an dich. Oder: Wie gehts dir? Der Schrägstrich kann alles heissen, aber wir wissen immer, was die andere meint.» Eine andere Freundin hat weniger Kontakt. Leider, sagt sie nachdenklich. Die Schwester lebe ein Leben, das sie nie wählen würde, und doch sei sie ihr Vorbild. Schon immer gewesen. Würde etwas passieren, würde sie sie anrufen. Und umgekehrt? Würde die grosse Schwester die kleine um Rat fragen? Vermutlich nicht, sagt meine Freundin. Aber das sei okay so. Eine andere Freundin versteht sich mit ihrer Schwester, wie man sich mit einer guten Bekannten ersteht, nicht mehr und nicht weniger. Sie hätten keinen Bezug zueinander, obwohl sie sich eigentlich ähnlich seien. Und wieder eine andere Freundin meint, sie habe mit ihrer grossen Schwester nichts gemein und müsste sie aus einer Gruppe Leute eine Schwester wählen, würde sie sich niemals für sie entscheiden. «Dafür sind wir zu verschieden», sagt sie.

Ist Verschieden-Sein ein Argument? Meine Schwester und ich sind auch verschieden. Fremde sehen keine Gemeinsamkeiten. Haare anders, Temperament anders, alles anders. Aber es sind nicht die Unterschiede oder Gemeinsamkeiten, die unsere Beziehung ausmachen. Ich würde auch mit meiner Schwester befreundet sein wollen, wenn sie nicht meine Schwester wäre.

Meine Schwester hat einen schwarzen Humor und denkt schneller als alle anderen. Sie weiss viel und prahlt nicht damit. Sie kann von stumm bis Oberschnurri alles. Sie ist pragmatischer und strategischer als ich. Sie ist unaufgeregt emanzipiert und muss sie einen Weg von A nach B finden, macht sie das Schritt für Schritt. Ich drehe mich fünf Mal im Kreis und sprinte dann los. Sie kann ihre Meinung vertreten und hat dafür genügend Argumente. Ich kann meine Meinung vertreten – auch ohne Argumente. Sie leiht mir alles aus, und wenn es kaputt geht, ist sie nicht wütend. Dafür hasst sie es, wenn ich das Bett nicht schön mache, nachdem ich bei ihr übernachtet habe. Dann schickt sie mir ein Foto davon und schreibt: «Tolle Würmer, die du heute geformt hast.» Ist eine Party nicht der absolute Wahnsinn, geht sie nachhause, weil sie «es gesehen hat». Mein Argument, sie wisse ja nicht, was noch alles passieren könnte, das sie noch nicht gesehen hat, stimmt sie nicht um. Sie nervt mich, immer wieder. Am meisten, wenn ich eh schon wütend bin. Meine Schwester und ich streiten anders. Sie überlegt zuerst. Wartet ab. Ich hingegen renne schreiend aufs Feld, völlig egal, ob eine ganze Armee vor mir steht oder der Gegner noch schläft. Wir sind anders. Und das ist okay, nein, eigentlich ist es sogar gut. Wichtig ist es nicht. Nicht mehr.

Meine Schwester ging nach der Primarschule direkt aufs Gymnasium, ich plärrte laut, ich würde das nicht auch machen. Ich müsse ja nicht immer das Gleiche wie sie machen. Denn das machte ich oft. Sie wollte reiten, ich auch. Sie war in der Pfadi. Ich auch. Wir waren beide im Chor und in der Theatergruppe. Einzig beim Sport gab es Unterschiede. Ich machte von Turnverein über Hip-Hop bis Snowboardleiterin alles, sie nicht.

Ich gehe in die Sek, die Aufnahme-Prüfung mache ich nur zum Spass, erklärte ich trotzig – und landete kurz darauf doch im Gymi. Es wäre mehr Arbeit gewesen, etwas anderes zu machen. Eine Option wurde mir vorgelebt. Ich konnte mich dafür oder dagegen entscheiden. Entschied ich mich dagegen, musste ich zwischen hundert Optionen wählen. Es war einfacher so. Vieles war einfacher als kleine Schwester. Meine Schwester schrieb die Latein-Wörter fein säuberlich auf kleine Kärtchen, ich konnte mit den Kärtchen lernen. Weil meine Französisch- und Englisch-Bücher schon ausgefüllt waren, hatte ich immer hervorragende mündliche Noten. Meine Schwester schrieb einen Vortrag über die Weinbergschnecke. Eine aufwendige Sache, die Schnecke war über Wochen bei uns zuhause einquartiert und musste täglich beobachtet werden. Zwei Jahre später musste ich im Biologieunterricht eine Arbeit über ein Tier schreiben. Ich bekam einen Sechser. Wegen meiner guten Forschungen zur Weinbergschnecke. Ich weiss nicht, ob ich das Gymnasium bestanden hätte – ohne meine Schwester. Dass ich es wegen ihr viel einfacher hatte, störte sie nie. Wahrscheinlich dachte sie gar nie darüber nach.

Nach der Matura begann meine Schwester, bei einer Lokalzeitung zu arbeiten. Ich war nach meiner ersten langen Reise pleite. Ich könne ja für sie einen Artikel schreiben, bot sie mir an. Thema: Jubiläum des lokalen Kleintierzüchtervereins. Später gestand sie mir, dass sie sehr erleichtert gewesen sei, dass ich einen soliden Text abgegeben, sie nicht blamiert hatte. Zuerst störte mich, dass ich in den gleichen Beruf rutschte wie sie. Aber warum sollten wir nicht das Gleiche tun, wenn es uns beiden Spass macht? Eine Zeit lang war sie Reporterin beim Schweizer Fernsehen, ich bei «Tele Züri». Als wir beide für den Schweizer Medienpreis nominiert waren, fragten mich alle, ob ich neidisch sein werde, wenn sie gewinnen wird. Ich verstand die Frage nicht. Sie gewann. Wollte jemand wissen, was ich später mal machen möchte, sagte ich, ich wolle einmal mit meiner Schwesterzusammenarbeiten. Seit zwei Jahren arbeiten wir für gemeinsame Projekte. Was sie nicht kann, kann ich. Was sie kann, kann ich nicht. Wenn sie zweifelt, bleibe ich optimistisch. Und wenn ich drohe übers Ziel hinauszuschiessen, kann ich sicher sein, dass sie mich rechtzeitig abbremst. Meine Schwester macht die Konzepte und Protokolle. Ich habe die Ideen und die Kontakte. Sagt die eine, dass sie etwas erledigt, weiss die andere, dass sie sich nicht darum kümmern muss. Auch wenn es unsere Beziehung aushalten würde, enttäuschen wollen wir die andere nicht. Streit gibt es nur bei der Spesenabrechnung, die ich so lang hinauszögere, bis meine Schwester mit mir zusammensitzt und wir meine Quittungen gemeinsam auflisten. Ich weiss, dass sie das nervt. Aber ich weiss auch, dass es in Ordnung ist. Es sind unsere Rollen. Sie ist die Grosse, ich die Kleine.

Ich würde nicht tauschen wollen. Ich kann grössere Dummheiten machen, mich weiter aus dem Fenster lehnen. Ich kann springen und sogar auf den Fallschirm verzichten. Sie würde mich auffangen. Als ich kein Geld mehr hatte, bot sie mir an, jeden Monat einen Teil ihres Lohnes auf mein Konto zu überweisen. Zurückzahlen hätte ich das Geld nicht müssen. Einmal sagte jemand zu mir: «Egal, was du tust, deine Schwester wird es ausbügeln.» Und er hatte Recht. Vielleicht deshalb lasse ich nicht zu, dass sie jemand verletzt. Auch wenn ich weiss, dass ich das nicht verhindern kann. Und auch wenn ich weiss, dass sie sich selber verteidigen kann.

Es war spät in der Nacht, ein Club in Zürich, stickig, laut. Draussen war es kalt. Kurz vor Weihnachten. Ein Typ sagte zu meiner Schwester, dass ihr Kleid scheisse aussehe. Einfach so. Ungefragt. Er zupfte daran rum. Er solle aufhören, sagte sie. Er beleidigte sie weiter. Sie lief weg. Er hinterher. Das erzählte sie mir, als ich eine Stunde später ebenfalls in den Club kam. Sie wolle jetzt nach Hause gehen, sagte sie.

Es ist sinnlos, sich mit einem Vollidioten anzulegen, der nicht aufhört, wenn man sagt, dass er aufhören soll, klar. Und Gewalt ist keine Lösung. Eigentlich. Ich gehe noch kurz den anderen Tschüss sagen, sagte ich zu meiner Schwester. Ich ging einen Stock höher, liess mir den Typen zeigen. Rauchend stand er da. Dreitagebart, mittelgross, blauer Pullover. Ich ging auf ihn zu, wechselte zwei, drei Worte mit ihm. Zeit schinden. Ich hatte keinen Plan, nur Wut. Also, ich geh dann mal. Ich rammte ihm mein Knie zwischen die Beine. Wir müssen jetzt los, rief ich meiner Schwester zu, die unten bei der Tür wartete.

Natürlich habe ich überreagiert. Natürlich war das nicht angebracht. Aber sie ist meine Schwester, ich hatte keine andere Wahl.

Ich kenne dieses Gefühl sonst nicht. Vielleicht ist es vergleichbar mit dem Gefühl für sein eigenes Kind, das man beschützen will. Mit dem Unterschied, dass ich meine Schwester noch nie beschützen musste. Und das vermutlich auch nie tun muss. Viel wahrscheinlicher ist, dass ihr etwas zustösst und ich nichts tun kann. Meine Schwester arbeitet bei einer Reisesendung, und immer, wenn sie im Ausland ist, stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn sie nicht zurückkommt. Vielleicht habe ich eine masochistische Ader. Vielleicht einfach Angst, dass etwas passieren könnte. Manchmal treibe ich mich mit meiner Fantasie bis kurz vor eine Panikattacke, und wenn sie sich dann meldet, bin ich so erleichtert, dass ich fast weine.

Wir joggen den Schrebergärten entlang bis zur Waid, ein kleiner Weg, kommt man an dessen Ende, liegt vor einem die Stadt, es ist die wohl beste Aussicht auf Zürich. Die Sonne scheint noch. Meine Schwester hatte früh Feierabend, ich bin mit dem Velo den Berg hoch geradelt. Wir treffen uns immer bei ihr. Weil sie die schönere Joggingstrecke hat, und weil es einfach so ist. «Warum ist unsere Beziehung wie sie ist? So einfach und gut?», frage ich sie. Nach dem Joggen sitzen wir in ihrer Küche und essen ein Biberli. Eines von den guten, teuren aus dem Reformhaus. Meine Schwester denkt nicht lange nach, muss sie nie. Das stimme doch so nicht, sagt sie. Es sei doch nicht immer einfach gewesen. All diese Streitereien, das Ausloten der Grenzen, das Ringen und Hadern, das hätten wir ja gehabt. «Wir haben doch auch für unsere Beziehung kämpfen müssen. Wir haben uns einfach beide bemüht.» Und wie sie das so sagt, merke ich, dass ich falsch lag.

Der Grund ist nicht das Blut, das dicker als Wasser ist. Wir sind uns nicht so nahe, weil wir Schwestern sind. Das Schicksalshafte spielt eine Rolle. Ist aber nicht der Grund.

Der Grund ist ein anderer. Ich hatte die Wahl. Und sie auch.

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