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Jüdisch-Orthodox – Unter der Haube

Body & Soul

Jüdisch-Orthodox – Unter der Haube

  • Text: Julia Hofer; Foto: Getty Images

Die orthodoxen Juden in Zürich gehören zu den konservativsten weltweit. Ihre Ehefrauen verstecken die Haare unter einer Perücke und haben in der religiösen Gemeinde kein Stimmrecht. Wie geht es diesen Frauen?

Meine erste Wohnung in Zürich befand sich in einem jüdischen Haus. Mitten im Kreis 3 nahe der erzkonservativen Synagoge Agudas Achim. Über uns wohnte ein alter Jude, der Schläfenlocken, einen schwarzen Hut und schwarze Kleidung trug. Wenn ich ihm im Treppenhaus begegnete, blickte er grusslos zu Boden. Einmal klopften die jüdischen Vermieter, die unter uns wohnten, an unsere Tür. Es war Sommer. Sie baten mich, den Balkon nicht mehr im Trägershirt zu betreten. Andere Hausbewohner hatten sich beklagt.

Es ist mir bis heute ein Rätsel geblieben, warum die Vermieter die Wohnung ausgerechnet an uns vermietet hatten, eine in jeder Hinsicht weltliche Wohngemeinschaft. Wenn sie vom Wunsch motiviert gewesen sein sollten, eine Begegnung zwischen den Kulturen zu ermöglichen, muss man sagen: Sie ist misslungen. Mitten in Zürich leben orthodoxe Juden ganz in ihrer eigenen Welt, streng nach den 613 Geboten und Verboten der Thora. Man sieht die Männer mehrmals täglich in traditioneller Kluft zur Synagoge schreiten. Die Frauen sind mit einer Schar Kinder unterwegs. Sie tragen dunkle, formlose Kleidung und Perücken. Warum machen wir uns so viele Gedanken über muslimische Frauen, die unters Kopftuch gezwungen werden, aber keine über diese jüdischen Frauen? Sind die Parallelen nicht offensichtlich: Die Frauen verbergen die Haare, und die Männer haben das Sagen?

Hannah Weitzmann – so soll die Frau hier heissen – ist fünfunddreissig Jahre alt und stammt aus einer sehr frommen Familie. Ich besuche sie in ihrer Wohnung im Kreis 3, die in Gehdistanz zur orthodox-charedischen Synagoge der Israelitischen Religionsgemeinschaft Zürich liegt. Ihre einjährige Tochter krabbelt auf dem Boden herum, drei weitere Kinder sind in Kindergarten und Schule, der Ehemann studiert in einem andern Zimmer die Thora. Unzählige in Leder gebundene religiöse Schriften füllen die Bücherregale. In einem digitalen Bilderrahmen blinken Familienfotos. Weitzmann ist modisch, aber sittsam angezogen: Die Arme sind bedeckt, der Jupe reicht bis übers Knie, kein Décolleté. Die schwungvolle Frisur ist fast zu perfekt, um natürlich zu sein.

Nachdem Hannah Weitzmann die jüdische Schule in Zürich besucht hatte, ging sie auf ein jüdisches Mädchencollege in England. Während sich die Buben in der Talmudhochschule ins religiöse Studium vertieften, wurde sie in erster Linie auf ihre Rolle als Hüterin des jüdischen Hauses vorbereitet. Sie fühlt sich deswegen nicht benachteiligt. «Alle meine Freundinnen waren dort», sagt sie. «Wir hatten eine tolle Zeit. Mit 19 Jahren dann die Heirat, das wichtigste Ereignis im Leben einer jüdischen Frau, mit einem Mann, der ihr von den Eltern vorgeschlagen worden war. «Ich weiss, das klingt krass», sagt sie lachend, «aber so ist das bei uns.» In fröhlichem Plauderton zählt sie die Vorteile einer arrangierten Ehe auf: «Die Eltern treffen umfangreiche Abklärungen, sie wollen wissen, ob der zukünftige Schwiegersohn anständig und ordentlich ist, mit wem er denn so befreundet ist und ob er aus intakten Familienverhältnissen stammt.» Letzteres scheint besonders wichtig zu sein, einem Scheidungskind traut man ein glückliches Familienleben nicht zu. Hannah Weitzmann findet es gut, wenn man, wie in ihrem Milieu üblich, sehr jung heiratet. «Man überlegt nicht so viel.» Sie sei in ihren Mann nicht verliebt gewesen, als sie Ja gesagt habe, erzählt sie, und ihre Stimme klingt für einen Moment unsicher. «Ich heiratete ihn, weil ich erkannte, dass wir dieselben Werte und Vorstellungen teilen. Man wächst zusammen. Hannah Weitzmann scheint nicht zu der Sorte Frauen zu gehören, die man retten muss. Für sie machen die Regeln Sinn, die ihr Leben als Frau bestimmen. Es stört sie nicht, dass sie während der Menstruation und an den sieben darauffolgenden Tagen ihren Mann nicht berühren darf und von ihm nicht berührt wird. «Die Pause wirkt sich positiv aufs Sexleben aus», schwärmt sie, was man in Anbetracht der andernorts grassierenden Sexmüdigkeit sogar nachvollziehen kann. Sie fühlt sich nicht gedemütigt, wenn sie dem Rabbi alle Details ihrer Blutung schildern muss. Und dieser dann entscheidet, ob ihre Periode als beendet gelten und sie mit dem Zählen der sieben unreinen Tage beginnen kann. «Er ist darin ausgebildet.» Auch das rituelle Tauchbad, das die «unreinen» Tage abschliesst und sie auf die körperliche Begegnung mit dem Ehemann vorbereitet, empfindet sie nicht als diskriminierend – sondern als wohltuendes Ritual.

Für Frauen, die sich mehr Rechte wünschen, hat sie nicht viel übrig. «Die sind meistens nicht sehr religiös. Sonst würden sie die Aufgabe, die ihnen Gott zugedacht hat, mehr schätzen.» Sie ist sich sicher, dass Jüdinnen, die so traditionell leben wie sie selbst, in ihrem Milieu geschätzt werden. «Wir haben innerhalb der Gemeinschaft einen viel höheren Stellenwert, als von aussen erkannt wird. Und die Perücke? Für Hannah Weitzmann ist sie ein modisches Accessoire («nie mehr einen Bad Hair Day») und aus verschiedenen Gründen eine wundervolle Sache. «Ich habe mich gefreut, als ich nach der Heirat meine erste Perücke anziehen durfte. Sie macht das Mädchen zur Frau.» Heute hängt in ihrer Garderobe neben der Jacke und dem Regenschirm stets auch ein Haarschopf, den sie aufsetzt, wenn sie die Tür öffnet oder aus dem Haus geht. Die Perücke sei eine symbolische «Grenze», sagt sie. Sie erinnere sie immer daran, dass sie zu ihrem Mann gehöre, und verhindere, dass fremde Männer in Versuchung geführt würden. Aber warum soll künstliches Haar, das in der Regel üppiger und schöner aussieht als natürliches, Männer abschrecken? «In unserem Milieu ist jedem Mann klar, dass meine Haare nicht echt sind», lautet die Argumentation, die wohl nur für Aussenstehende merkwürdig klingt, «und wenn man das weiss, ist es einfach etwas anderes.» Die Perücke ist übrigens nicht die einzige  «Grenze» zwischen den Geschlechtern: Hannah Weitzmann begrüsst Männer ohne Handschlag, Umarmung oder Küsschen, «weil so schon mancher Seitensprung begonnen hat».

Ich frage sie, ob ihr dieses Geschlechterbild – Frauen müssen züchtig sein, damit die Männer ihre Triebe im Zaum halten können – nicht Mühe bereitet. Wie viele Ehen, fragt sie rhetorisch zurück, werden heutzutage geschieden? «Bei uns sind die Scheidungsraten tief. Untreue kommt kaum vor.» Ein schlagendes Argument. Ich frage mich, ob diese Frauen ein Problem haben – oder nur ich. Kann man von Diskriminierung sprechen, wenn sich eine Frau aus «innerer Überzeugung» verhüllt? Im Gegensatz zu den Musliminnen sind sie immerhin erwachsen, wenn sie ihre Haare verstecken. Andererseits: Handelt jemand tatsächlich selbstbestimmt, wenn er im gleichen Atemzug stets auch sagt «Ich bin so aufgewachsen, bei uns ist das so»?

Vielleicht hat Yves Kugelmann, der Chefredaktor des jüdischen Wochenblattes «Tachles», Antworten auf meine Fragen. Er lacht. Dass Hannah Weitzmann kein Problem hat mit ihrer Rolle als Frau, erstaunt ihn nicht. «Orthodoxe Jüdinnen versichern einem immer, dass sie sich kein besseres Leben vorstellen können. In solchen Gemeinschaften ist alles gottgegeben. Es zu hinterfragen, wäre zu schmerzhaft.»

Er selber nimmt kein Blatt vor den Mund. «Frauen haben in diesem Milieu keine Position», sagt er. Er spricht von einer «gesellschaftlichen Problemzone», in der Armut verbreitet sei und Frauen fernab jeglicher emanzipatorischer Errungenschaften lebten. Dass Frauen in ihrer religiösen Gemeinde kein Stimmrecht haben, hält er für «unhaltbar». Auch die Scheidungspraxis der Orthodoxen kritisiert er scharf, weil sich eine Frau gemäss dieser nur dann scheiden lassen kann, wenn der Mann einverstanden ist. «Ich kenne Frauen, denen der Ehemann jahrelang die Scheidung verwehrt hat. Das sind Dramen, die stadtbekannte Tragödien zur Folge hatten. Die orthodoxen Juden von Zürich gehören zu den konservativsten weltweit. «Zürich war nie ein Zentrum des jüdischen Geistes», erklärt Yves Kugelmann. «Während sich in Berlin, Wien und Basel der für das Judentum typische offene und pluralistische Geist entfaltet hat, wurde die Gemeinschaft hier zunehmend frommer.»

Allerdings, gibt er zu bedenken, ist die Gemeinschaft der Orthodoxen klein. In Zürich zählen einige Hundert Familien dazu. Und von diesen geht im Gegensatz zu den islamischen Fundamentalisten keine Gefahr aus. Trotzdem findet er es richtig, genau hinzuschauen. «Diese Parallelgesellschaft ist problematisch, weil sie gewisse Grundwerte der Schweiz nicht teilt, unter anderem die Gleichberechtigung von Mann und Frau.»

In Israel errichten religiöse Eiferer im Kampf um mehr Sittlichkeit immer höhere Mauern zwischen den Geschlechtern, wie in islamischen Ländern auf Kosten der Frauen: In den Zeitungen der Ultraorthodoxen werden Köpfe von Ministerinnen aus offiziellen Gruppenfotos der Regierung wegretuschiert. In sogenannt koscheren Bussen müssen Frauen hinten einsteigen und sitzen. Und auf einem öffentlichen Spielplatz in einer orthodoxen Gemeinde wurden jüngst sogar unterschiedliche Spielzeiten für Mädchen und Buben eingeführt.
An einer Bushaltestelle in Zürich fällt mir eine orthodoxe Jüdin in dunkler Kleidung auf. Sie scheint aus einer andern Zeit zu kommen. Was hätte sie wohl zu erzählen? Ich überwinde meine Scheu, spreche sie an. «Für ein Magazin? Nein, nein, das möchte ich nicht», sagt sie und wendet sich wieder ihren Kindern zu.

Meine nächste Gesprächspartnerin ist stattdessen eine Frau, die hier den Namen Alisah Stein tragen soll. Ich treffe sie im jüdischen Bücherkaffee Books and Bagels in Zürich, sie isst Suppe, vor und nach dem Essen murmelt sie einen Segensspruch. «Ich versuche, den Alltag mit der Religion zu heiligen», wird sie später sagen. Sie zumindest hat sich bewusst für die orthodoxe Lebensweise entschieden. Sie kommt aus einem liberalen Elternhaus, die Mutter trug keine Kopfbedeckung. Stein besuchte die öffentlichen Schulen und studierte Politologie. Irgendwann entschied sie: Koscher essen, Sabbat halten, Thora lernen und Perücke tragen sind ein «Package». Das eine zu tun und das andere zu lassen, war für sie zum «inneren Widerspruch» geworden. Alisah Stein hat mit ihrem ebenfalls strenggläubigen Mann vier Kinder, das älteste ist zehn Jahre alt. Ihr eigenes Alter will sie nicht verraten. «Eitelkeit ist bei uns erlaubt», scherzt sie. Sie gesteht, sich für das Treffen mit der Redaktorin der Frauenzeitschrift extra schön angezogen zu haben. Sie zeigt mir in einer Ausgabe von annabelle, welche Kleider für sie infrage kommen und welche nicht (mehr als die Hälfte): keine grossen Ausschnitte, keine geschlitzten Röcke oder solche, die über dem Knie enden, nichts Hautenges. Ärmel bis über die Ellbogen. Keine Hosen, «weil eine Frau eine Frau sein soll». Ebenfalls verboten: Kleidung aus einem Wolle-Leinen-Gemisch. Dieses Gebot entbehre jeder Logik, findet sie selber. Man befolge es, «weil es in der Thora steht». Wo bleibt hier, frage ich mich, der berühmte kritische jüdische Geist, der den Juden zum Ruf verholfen hat, sie seien ein «Volk der Fragen»? Stein sagt: «Argumente sind hier irrelevant. Wir befolgen die Gebote, weil sie in der Thora stehen.»

Alisah Stein gehört der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) an, die einen streng orthodoxen Gottesdienst veranstaltet, ihre weiblichen Mitglieder aber nicht nur zahlen, sondern auch stimmen lässt. Das schätzt sie, der promovierten Politologin ist die Parole des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges «No taxation without representation» geläufig. Wäre sie ein Mann, sagt sie, würde sie im Gottesdienst gern vorn stehen und singen. Aber als Frau habe sie das nicht nötig. «Das Wichtigste im Judentum ist das jüdische Haus, das Zelebrieren der Sabbat-Atmosphäre und das Weitergeben der jüdischen Werte.»

Je länger ich ihr zuhöre, desto weniger kann ich beurteilen, ob das, was sie sagt, widersprüchlich oder stringent ist. Sie wünscht sich, dass ihre Tochter eine Talmudhochschule besuchen kann, ist aber strikt dagegen, dass die Zürcher Talmudhochschule Mädchen zum Studium zulässt. Sie findet es eine gute Sache, dass Jüdinnen ihren Ehemann in spe heute in einem vorehelichen Vertrag zur Herausgabe der Scheidungsurkunde verpflichten können. Sagt aber im selben Atemzug: «Es geht auch ohne Vertrag. Der Rabbi kann Druck auf einen Mann ausüben, der sich gegen eine Scheidung sperrt.» Ausserdem gibt sie zu bedenken, dass die jüdischen Scheidungsgesetze aus dem Jahr 700 stammen und damals in Bezug auf die Stellung der Frau sehr fortschrittlich gewesen seien.

Das mag stimmen. Aber heute? Meine nächste Gesprächspartnerin, Elisabeth Weingarten, ist eine viel beschäftigte Museumskuratorin. Ihre tiefe Stimme passt zur lärmigen Bar, die sie als Treffpunkt vorgeschlagen hat. Koschere Busse, die Macht der orthodoxen Rabbiner, der ganze Traditionalismus, das alles empfindet sie als «zutiefst unjüdisch». Vielen Frauen sei nicht bewusst, dass sie mit der Heirat einen Vertrag unterschreiben, der sie zum Spielball des Mannes machen könne. Dass sich jüdische Frauen mindestens zwölf Tage pro Monat in einem «unreinen» Zustand befinden sollen, erscheint ihr «schwierig», und dass jemand seine blutbefleckte Unterhose dem Rabbiner zeigt, «unappetitlich und entwürdigend». Ausserdem enthebe es die Frauen der Selbstverantwortung. Der orthodoxe Gottesdienst – sie gehört wie Alisah Stein der ICZ an – kam ihr schon vor elf Jahren wie ein «weltfremdes Theater» vor. Die Frauen auf der Empore, wo Sicht und Akustik eingeschränkt sind, und die Männer unten? «Das kann doch nicht sein.» Weil sie sich verpflichtet fühlte, «etwas zu tun», gründete sie mit Gleichgesinnten einen egalitären Gottesdienst und kämpfte dafür, dass der in einem Raum der ICZ stattfinden konnte. Ihre Tochter war die erste Frau, die in der ICZ aus der Thora vorlesen durfte.

Eine Perücke tragen? Sie schaut mich entgeistert an. «Undenkbar», sagt sie lachend. Wenn Männer Frauen als «Sexobjekte» betrachten, sollen sie «an sich selbst arbeiten». Auch Elisabeth Weingarten stellt fest, dass sich die «kohlrabenschwarzen» Juden radikalisiert haben. «In diesem Milieu hat sich die Stellung der Frau verschlechtert.» Früher hätten viele fromme jüdische Mädchen das öffentliche Gymnasium besucht. Heute würden sich die meisten wie Hannah Weitzmann an einem jüdischen Mädchencollege im Ausland auf ihr Leben als Ehefrau und Mutter vorbereiten. In letzter Zeit höre sie öfter von Familienvätern, die sich nur noch dem Studium der Thora widmeten, während ihre Frauen Kinder gebären, den Haushalt schmeissen und (mit einer oftmals schlechten Berufsausbildung) den Lebensunterhalt für die ganze Familie verdienen würden. «Auf diese Männer habe ich eine grosse Wut. Sie beuten ihre Frauen aus.» Diese Frauen, sagt Elisabeth Weingarten, könnten ihre Männer, die sich ständig auf das jüdische Gesetz beziehen, nur hinterfragen, wenn sie über eigenes religiöses Wissen verfügten. Dass es in Israel und den USA mittlerweile Thorahochschulen für Frauen gibt, stimmt in diesem Zusammenhang hoffnungsvoll. Die Judaistin Valérie Rhein hat im Rahmen der Nationalfonds-Studie «Wandel im Judentum in der Schweiz» die Stellung der Frau im orthodoxen Judentum untersucht. Ihr Fazit: Vieles wird konservativer gelebt, als es das jüdische Gesetz vorschreibt. Sie hat verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, wie sich Frauen – ganz im Einklang mit den religiösen Gesetzen – stärker am Gottesdienst beteiligen könnten. In Basel war sie Mitbegründerin einer Vereinigung, die sich für ein pluralistisches und aufgeschlossenes Judentum einsetzt. Die Gruppe hat einen egalitären Gottesdienst durchgesetzt, ganz ähnlich wie derjenige von Elisabeth Weingarten in Zürich. Trotzdem liegen zwischen den beiden Frauen Welten: Valérie Rhein legt anders als ihre Zürcher Verbündete jedes Wort auf die Goldwaage. Anstatt von «Diskriminierung» redet sie lieber vom «Respekt», den es den Frauen entgegenzubringen gelte. Auf die Stellung der Frau im orthodoxen Milieu angesprochen, betont sie, dass diese Probleme nur eine «sehr kleine Minderheit» betreffen würden. So viel Diplomatie wirkt befremdend auf mich. «Was für ein Eiertanz», entwischt es mir. «Was ist mit dem Einzelschicksal? Zählt das nichts?» Ich frage sie, wie man etwas verändern könne, wenn man es allen recht machen wolle. Sie wisse aus Erfahrung, antwortet sie ruhig, dass sie niemanden vor den Kopf stossen dürfe. «Sonst gehen alle Türen zu.»

Ich muss an die sogenannten Drop-outs denken, von denen Elisabeth Weingarten erzählt hat: Wer mit der Ultraorthodoxie bricht, wird von seiner Familie verstossen.

Zurück in der Redaktion, blättere ich in dem Roman «Ungehorsam» von Naomi Alderman. Die Tochter einer orthodoxen Persönlichkeit ist in einem jüdischen Vorort von London aufgewachsen und hat im preisgekrönten Buch erste homosexuelle Erfahrungen und den Ausbruch aus ihrem Milieu verarbeitet. Wäre so viel Ungehorsam auch in Zürich möglich? «Kaum», sagt Yves Kugelmann. «Unsere orthodoxe Gemeinschaft ist klein und homogen. Der Druck ist grösser als in New York oder London.»

Das Telefon klingelt. Eine orthodoxe Jüdin, die von meinen Recherchen erfahren hat, will mir erzählen, wie sie ihr Leben verändert hat. Sie flüstert. Wir treffen uns in einem Starbucks, sie erscheint schwarz angezogen, die Haare trägt sie offen. Sie wechselt einige freundliche Worte mit andern orthodoxen Jüdinnen, die sich gerade zum Kaffeetrinken hingesetzt haben. In der Hand hält sie ein Rätselheft. Dalit Dreyfus – so sei hier ihr Name – kommt aus einer liberalen jüdischen Familie, in der man weder koscher isst noch Perücke trägt. Sie wuchs in Israel auf und kam als junge Frau nach Zürich, um im Geschäft eines entfernten Verwandten eine kaufmännische Ausbildung zu machen. Fern von ihrer Familie, sehnte sie sich nach einer eigenen Familie. Nach einigen Enttäuschungen wandte sie sich an einen jüdischen Heiratsvermittler. Durch ihn lernte sie einen Mann aus einer frommen Familie kennen. Sie mochte ihn, die beiden heirateten.
Nach der Heirat wünschte sich der Schwiegervater, dass sie eine Perücke trägt, er befürchtete, er könne seine andern Söhne sonst nicht verheiraten. Dalit Dreyfus bedeckte ihr Haar. Als alle Söhne des Schwiegervaters «sehr religiös» verheiratet waren, ging sie, mittlerweile Mutter von fünf Kindern, zu ihrem Ehemann. Sie gestand ihm, dass sie sich mit der Perücke «wie eine Schauspielerin» fühle. Dass sie nicht sie selber sei. Und bat ihn, die Perücke ablegen zu dürfen. Der Ehemann, eine einflussreiche Persönlichkeit in der Gemeinschaft, war einverstanden.

Also zog Dalit Dreyfus die Perücke aus.

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