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Postkarte vom grossen St. Bernhard

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Postkarte vom grossen St. Bernhard

  • Redaktion: Frank Heer; Text: Ruth Schweikert; Fotos: Fabian Unternährer

In den Bergen spielt Zeit keine Rolle. Kein Telefon, kein Alltagsrauschen: Der grosse St. Bernhard ruht.

Was in Erinnerung bleibt, sind weder Touristenmassen noch knuffige Bernhardinerwelpen, sondern die grosse Stille abends um halb neun – wir sind die einzigen Gäste im Hôtel de l’Hospice, die Bernhardiner noch unten in Martigny, das (wohl sehenswerte) Hospizmuseum geschlossen, das Handy funktioniert weder zum Telefonieren noch zum Surfen; nicht nur das Alltagsrauschen ist verstummt, auch die Zeit scheint stillzustehen auf dem Grossen St. Bernhard, auf 2472 Meter über Meer.

Das doppelte Echo

Einzig der Blick aus dem Fenster bezeugt, dass es tatsächlich Juni ist, denn noch ist es beinahe taghell draussen, erstreckt sich der Himmel silberweiss und weit über der tief verschneiten Passhöhe, dem schneebedeckten, zugefrorenen See, dem Grenzposten und einer Handvoll Häuser, der unter Schneemassen kaum erahnbaren Strasse, die ins italienische Aostatal führt. Am Nachmittag sind wir eineinhalb Stunden im Schnee herumgestapft und haben dabei das doppelte Echo entdeckt; aus zwei verschiedenen Himmelsrichtungen und in zwei Klangqualitäten kamen unsere Rufe zurück, und ich stelle mir das Stimmenkonzert vor der zweiundvierzigtausend Soldaten, die Napoleon im Mai 1800 über den Grossen St. Bernhard folgten; ich sehe das Schneemeer und denke an die Augustiner Chorherren, die Chanoines, und ihre Bernhardiner, die im Lauf der Jahrhunderte gar manch Erschöpften, Entkräfteten, unter Schneemassen Begrabenen aufgespürt und gerettet haben.

Der Schweizer Nationalhund, einst zu diesem Zweck von den Augustinern hier auf dem Pass gezüchtet, ist mittlerweile zu gross und zu schwer geworden, um mitzufliegen im Rettungshelikopter, erzählt Chanoine Raphael; als Lawinenhunde werden heute Deutsche und Belgische Schäfer eingesetzt, die Bernhardinerzucht wurde 2005 ins Tal an die Fondation Barry verkauft. Mitte Juni wird ein Teil der Hunde für drei Monate auf den Pass gekarrt, wo ihre handlicheren, pflegeleichten Klone sie schon ungeduldig erwarten, in den Schaufenstern der Souvenirshops zu braun-weissen Plüschhaufen drapiert. Die Chanoines betreiben das Hospice du Grand-St-Bernard, unserem Hotel direkt gegenüber, seit beinahe tausend Jahren; das Haus mit zirka 130 Schlafplätzen ist immer und für alle offen, 365 Tage im Jahr; für dreissig Franken gibts ein Bett im Schlafsaal inklusive Frühstück.

Obwohl der Pass im Winter nur mit Schneeschuhen oder Tourenski zu erreichen ist, ist das Hospice oft bis auf den letzten Platz belegt, trampeln sich Pilger, Sportler und Ruhesuchende auf den Füssen herum; wie das im (kurzen) Hochsommer ist, möchte ich mir lieber nicht vorstellen. Für uns hat der Wettergott, Jupiter – der dem Pass den ursprünglichen Namen gab, Mons Jovis, bevor Bernhard von Aosta um 1050 sein Refugium draufsetzte –, ein anderes Abenteuer vorbereitet: Als wir am nächsten Morgen erwachen, schneit und windet es heftig; der Busbetrieb ist eingestellt, die Strasse auch auf Schweizer Seite offiziell gesperrt, sogar für Fussgänger; Lawinengefahr, sagt Raphael, der uns dennoch fährt; mit überwachen Sinnen rast er den Berg runter, dass es uns schwindlig wird und wir bei Jupiter und dem heiligen Bernhard geloben, dass wir wiederkommen und sämtliche Plüschbernhardiner aufkaufen, wenn wir nur Orsières sicher erreichen; siehe da, wir werden erhört.

Unter Männern

Wer Zeit hat, macht auf dem Pass nicht nur halt, sondern übernachtet. Traditionell bei den Augustiner Chorherren im Hospiz, www.gsbernard.ch – auf der Website sind weitere Angebote zu finden, etwa geführte Pilgerreisen und Wanderwochen mit den Augustinern. Wer es etwas glamouröser mag, steigt im Albergo Italia auf der italienischen Seite ab, wie einst Truman Capote und Ernest Hemingway; nur im Sommer geöffnet, zirka Mitte Juni bis Ende September, www.gransanbernardo.it