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Reisebericht aus Brasilien: Rio vor dem Sturm

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Reisebericht aus Brasilien: Rio vor dem Sturm

  • Text: Christoph Dallach; Fotos: Bernd Jonkmanns

Bald wird Brasilien im Fussballwahn fiebern. Aber noch schlägt Ipanema, das ewige junge Herz von Rio de Janeiro, im samtweichen Bossa-Nova-Takt.

Als der Brasilianer Marcos Valle an einem Spätsommerabend in Hamburg daran erinnert wird, dass es jetzt Zeit sei, auf die Bühne zu gehen, lächelt er und schenkt sich ein weiteres Glas Rotwein ein. «Wein ist gesund. Ein Mittel gegen die Hektik», sagt der Bossa-Nova-Star leise. «Hektik zerstört die Lebensfreude.» Valle sitzt mit weit aufgeknöpftem Hemd, Jeans und Sportschuhen an einem kleinen Tisch in den Katakomben des Mojo Clubs. Schwenkt gedankenverloren den Wein, als könne er aus der dunkelroten Flüssigkeit die Sonne Ipanemas filtern. Für die Legende, dass beständiger Weingenuss unsterblich macht, könnte Marcos Valle als Posterboy herhalten; der Musiker mit der schulterlangen, blond gelockten Mähne ist 71 und sieht noch immer atemberaubend frisch aus. Darauf angesprochen, entgegnet er, dass sein guter Zustand allein seiner Heimatstadt Rio de Janeiro zu verdanken sei: «Ich bin am Strand von Ipanema aufgewachsen. Morgens surfte ich, nachmittags spielte ich Fussball im Sand, nachts schaute ich in den Sternenhimmel und sang Lieder für hübsche Mädchen. Ich habe in anderen Städten der Welt gelebt, aber am Ende zog es mich doch immer wieder zurück nach Rio.»

Ich lache. Das ewige Märchen von Ipanema! «Sie glauben mir nicht?», fragt der Künstler gekränkt. «Gut, das Rio meiner Jugend gibt es nicht mehr, aber der Zauber der Stadt ist ungebrochen. Wenn Sie den Strand von Ipanema sehen, werden Sie alles verstehen. Kommen Sie mich besuchen!» Marcos Valle kritzelt seine E-Mail-Adresse auf eine Serviette, nimmt mit geschlossenen Augen einen tiefen Schluck Wein, lächelt und verabschiedet sich Richtung Bühne. Einige verregnete und frostige Monate später stehe ich – nach einem Flug um die halbe Welt – an einer Hotelréception, einen Frisbeewurf vom Ipanema-Strand entfernt. Es ist ein später Nachmittag im Februar, draussen ist es 37 Grad, drinnen surrt die Klimaanlage.

No Stress in Rio

Rio de Janeiro, das alle nur Rio nennen, schien mir immer so weit weg wie der Mond: da und doch unerreichbar. Meine Vorstellung von dieser Stadt war von Musik bestimmt. Von den samtenen Klängen des Bossa Nova, den wehmütig beschwingten Songs von João Gilberto, Antônio Carlos Jobim und Marcos Valle; einem Sound, der Bilder von Ipanema-Mädchen, Fussballzauberern und dem endlosen Strand der Copacabana beschwor. Ein Tagtraumcocktail schöner Klischees – oder eben doch mehr? Die Realität beginnt in der Hotel-Lobby mit einem stillen Mann an der Réception. Wir sind allein, ich habe keine Sonderwünsche, trotzdem dauert es fast eine Stunde, bis er zögernd die Schlüsselkarte zum Zimmer herüberschiebt. Das passt, denn der Rio-Rhythmus ist gelebte Ruhe. Hektische Touristen müssen drei Gänge zurückschalten: «NO STRESS! RIO – BRAZIL» steht als Warnung auf einem beliebten Touristen-T-Shirt. Was die Dinge für manche Gäste verkompliziert, ist die Sprachbarriere: Wer weder Portugiesisch noch Spanisch beherrscht, hat ein Problem, denn Englisch ist in Rio so verbreitet wie Schweizerdeutsch. Mit Geduld, Freundlichkeit und Kreativität kommt man ans Ziel. Nur eben nicht ganz so schnell.

Zuerst muss ich an den Strand. Wohin sonst? Der Küstenabschnitt an der Guanabara-Bucht prägt den Alltag der 6-Millionen-Metropole, er umschmeichelt die Stadt am Zuckerhut, gibt den geschmeidigen Rhythmus vor und ist die Kulisse aller Träume von Rio. Selbst in der Innenstadt spazieren Leute wie selbstverständlich mit einem Surfboard unter dem Arm herum. Wenn die Sonne funkelnd aufgeht, wird bereits Beachvolleyball gespielt, gehen Männer mit hochgekrempelten Hosen der Brandung entlang ins Büro, und Mütter und ihre Kinder nehmen ein erstes Bad im Atlantik. Grüne Kokosnüsse lagern in Netzen neben kleinen Buden, die die gepflasterte Promenade säumen. Für ungefähr einen Euro gibt es sie gekühlt zu kaufen, oben wird ein kleines Loch hineingeschlagen, dann kann der erfrischend milchige Saft mit einem Strohhalm herausgesaugt werden. Die meisten Einheimischen entsorgen danach die leere Kokosnuss, aber auf Nachfrage zerteilen die Budenhändler mit kleinen Macheten die tropische Frucht, denn auch das weiche Fruchtfleisch schmeckt herrlich. Ich liege im feinen Sand und lasse den Blick über den Horizont schweifen; über die Inseln, die urwaldbewachsenen Berge und die Jesusstatue, die hoch oben über Rio wacht. Das Licht strahlt jetzt heller, und es funkelt am Horizont. Mir dämmert, was Marcos Valle gemeint haben könnte.

Je höher die Sonne steht, um so mehr füllt sich der Strand. Hier treffen sich Touristen und Cariocas, wie die Einheimischen genannt werden. Hier will man sein Leben ändern: mit dem Rauchen aufhören, von Fastfood und Schokolade lassen und mehr Sport treiben, denn die meisten Einheimischen sind schlanker, schöner und alterslos. Wer als Fussgänger nicht aufpasst und gedankenverloren die Menschen bestaunt, riskiert die Kollision mit einem der zahllosen Velofahrer, Skater oder Jogger, die unentwegt die Promenade entlangzischen. Den Körper in Form zu halten, gehört auch irgendwie zur Kultur dieser Stadt.

Frühaufsteher sollten Rio auf dem Velo erkunden – bevor es sengend heiss wird. Fahrende Untersätze verleihen viele Hotels und Händler in Strandnähe. Die zahlreichen Velowege entlang der Küste bieten atemberaubende Ausblicke und zwingen zum Halten und Staunen. Eingeteilt ist der Strand von Ipanema bis hin zur Copacabana in Abschnitte, die von einer Bude bis zur nächsten reichen. Ein beliebter Anlaufpunkt ist die Baraka 6, wo sich zum frühen Abend Menschen wie auf einer Party drängen. Es gibt Sekt aus Kartonbechern und kaltes Bier aus der Dose, das die fliegenden Händler hier zu lachhaften Preise offerieren. Man steht lässig herum wie auf einer Vernissage, und wenn die flammende Sonne majestätisch am Horizont versinkt, wird erst dezent, dann immer lauter applaudiert.

Vermutlich war die Atmosphäre ähnlich euphorisch, als sich vor mehr als einem halben Jahrhundert die sanften Rebellen der Bossa-Nova-Bewegung in Wohnungen, Clubs und Hotels rund um die Copacabana trafen, im Stadtteil für gebildete Besserverdiener und Bohémiens. Rio war im Aufbruch, und eine Generation junger Musiker lieferte den Soundtrack: Bossa Nova, dieser geschmeidige Wohlklang, in dem traditioneller Samba mit coolem Jazz und einem Gefühl, dass alles möglich ist, verschmilzt. Es wurde geraucht, getrunken, diskutiert. Man stand auf, wenn die Sonne ihren Zenith überschritten hatte und ging zu Bett, wenn der Morgen dämmerte. Um das Glücksgefühl perfekt zu machen, gewann Brasilien 1958 zum ersten Mal die Fussballweltmeisterschaft, und der Architekt Oscar Niemeyer entwarf in seinem Büro an der Copacabana die neue futuristische Hauptstadt Brasilia als Blaupause für alle Metropolen der Welt. In diese alles umarmende Euphorie stimmten Bossa-Nova-Musiker wie Antônio Carlos Jobim, João Gilberto und Marcos Valle ein. Sie lebten in der sogenannten Zona Sul am Strand und besangen die Wellen, die Blumen, den blauen Himmel und immer wieder Frauen. Die Haltung war klar: Alles wird gut!

Eine der schönsten Metropolen der Welt

An dieser Vision von Rio hat sich bis heute wenig geändert. Kein Wunder, dass Edward Snowden, der weltberühmte Whistleblower, sich ein Exil in Rio vorstellen kann. Die 1515 von Portugiesen gegründete Stadt an der Guanabarabucht ist eine der schönsten Metropolen der Welt. Fast täglich scheint die Sonne, Jahreszeiten sind ein sanfter Witz, selbst im Winter wird es kaum kälter als 20 Grad. Rio ist ein Sehnsuchtsort, verewigt in Filmen, Büchern, in der Musik. Rio ist aber auch ein Ort der Gegensätze, wo sich Reich und Arm, Tradition und Moderne reiben. Dass die Stadt von Dschungel umgeben ist, merkt man selbst im Zentrum. Hohe üppig grüne Bäume säumen die Hauptverkehrstrassen, exotische Vogelschwärme kreisen über dem dröhnend lauten Stadtzentrum. Die Mordrate in diesem Grossstadtdschungel ist exorbitant, aber wer nicht mit umgehängter Leica-Kamera und massiver Rolex am Handgelenk in die falschen Nebenstrassen läuft, lebt nicht gefährlicher als in Zürich oder Tokio. Bis 1960 war Rio de Janeiro die Hauptstadt des Landes. Aber selbst seit Brasilia diese Rolle übernommen hat, ist Rio das kulturelle Zentrum des Landes geblieben, die Hauptstadt des globalen Glamours. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts lockt sie Künstler, Hochstapler, Adlige, Verschwender, Hipster und herzeigbare Menschen an ihre Strände, um die Vergänglichkeit des Augenblicks zu zelebrieren. Gedämpft wurde der Traum, als 1964 eine Militärregierung die Macht in Brasilien übernahm und sich bis Mitte der Achtzigerjahre hielt. Viele Künstler und Intellektuelle, auch Marcos Valle, verliessen das Land. In den vergangenen Dekaden kämpfte Brasilien um den Anschluss an die Moderne und sorgte zuletzt mit spektakulärem Wirtschaftswachstum für Aufsehen. Auch wenn der Boom an Geschwindigkeit verloren hat, Rio sonnt sich weiterhin im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit: In diesem Sommer dient es als Austragungsort der Fussballweltmeisterschaft und 2016 als Gastgeber der Olympischen Sommerspiele.

Interessant ist, dass sich zurzeit kaum ein Mensch in Rio für das anstehende Fussballspektakel zu interessieren scheint. Nirgends hängen Plakate, niemand trägt Trikots, und keiner, den ich frage, hat ein Ticket für eines der Spiele. Das zeigt, dass die Begeisterung in Brasilien für das Spektakel verhalten ist. Vor allem Einheimische klagen, dass der Traum von Rio in den letzten Jahren immer kostspieliger wurde. Während Grossveranstaltungen gehen die Hotelpreise durch die Decke. Die Bilderbuchstrände werden immer voller, die Mieten immer höher. Alteingesessene Cariocas ziehen weg, auch Marcos Valle hat sich aus dem Staub gemacht und ist von Ipanema in ein anderes Quartier gezogen. Er lebt jetzt im stillen Vorort Recreio, eine gute Autostunde vom Zentrum entfernt. Er hat vorgeschlagen, dass ich um 19 Uhr vorbeikomme, damit wir jenen Sonnenuntergang bestaunen können, der das Ziel meiner Reise war.

Termine sehen die Cariocas nicht ganz so eng

Als ich vor Valles Tür stehe, kann ich die Brandung des Meeres hören. Es wäre nur brasilianisch, wenn der Musiker gar nicht da wäre, wurde ich von Kennern der hiesigen Lässigkeit vorab gewarnt, denn Termine sehen die Cariocas nicht ganz so eng. Doch als ich den Klingelknopf drücke, öffnet sich surrend das Gartentor. Von der Dachterrasse winkt der Bossa-Nova-Titan. Später stehen wir schweigend auf der Terrasse und blicken über das Meer und den Strand. Der Lärm von Ipanema weht nur leise aus der Ferne herüber: «Jetzt wohnen dort meine beiden Söhne, da ist einfach mehr Leben, und es ist nicht weit zur Universität. Ich mache mir manchmal Sorgen, weil sie immer so gestresst sind», sagt Valle und lächelt nachsichtig.

1950 war er mit seinem Vater beim legendären WM-Endspiel gegen Uruguay dabei gewesen. Die Niederlage der brasilianischen Wunderelf hatte die Nation getroffen wie ein Atomschlag. «Nach dem Abpfiff legte sich die gespenstischste Stille, die ich je erlebt habe, über das Stadion. Mein Vater zerknüllte wortlos die Tickets, und wir schlichen schweigend nachhause», erinnert sich Valle immer noch bewegt. Jetzt will er mit seinen Söhnen dabei sein, wenn Brasilien endlich im eigenen Land Weltmeister wird. Daran, dass das geschehen wird, hat er keine Zweifel. «Wer immer mit uns im Final steht, muss für neunzig Minuten damit leben, dass unsere Gastfreundschaft vorübergehend aussetzt», sagt er lächelnd.

Ein wahres Bossa-Nova-Wunderkind

Zum Entsetzen seines Vaters, eines erfolgreichen Anwalts, brach Marcos Valle sein Jusstudium ab, als seine Songs ein immer grösseres Publikum fanden. Auch wenn er ausserhalb Brasiliens nur Spezialisten ein Begriff sein dürfte, in Rio galt er Anfang der Sechzigerjahre als Wunderkind. Er sass aufmerksam dabei, wenn sich die Bossa-Nova-Pioniere an der Copacabana zu nächtelangen Sessions trafen. An Orten, die heute beliebte Touristenattraktionen sind, wie die «Pinte», an der die hübsche Heloísa Pinheiro auf ihrem Weg zum Sonnenbad vorbeistolzierte und den Musikern Antônio Carlos Jobim und Vinícius de Moraes so sehr den Kopf verdrehte, dass sie Helo in jenem Song verewigten, der als «Girl from Ipanema» um die Welt ging. Den Laden gibt es immer noch, nur dass da heute Japaner und Deutsche sitzen und neben Kaltgetränken auch T-Shirts und Kochschürzen mit dem aufgedruckten Text des Welthits angeboten werden. Ein anderer Dauerbrenner des Bossa Nova, der «Samba de Verão» aus dem Jahr 1965, stammt von Marcos Valle. Er schrieb ihn mit 16 Jahren am Strand. Virtuos kombinierte er Elemente von Bossa, Pop, Jazz und Easy Listening zu einer aufregenden Melodie, die seither durch Hollywoodfilme wie «Austin Powers» und Serien wie «The Simpsons» surrte. Frank Sinatra oder die Spice Girls liehen dem Song ihre Stimme. Auf Einladung seines berühmten Kollegen Sergio Mendes zog der Star in die USA, um nach turbulenten Jahren in Hollywood und New York seinem Heimweh nachzugeben: «Ich war gerade zu Besuch bei meiner Familie, am Abend vor meinem Abflug sass ich am Strand und war überwältigt von der Erhabenheit dieses Ortes. Am nächsten Morgen flog ich in die USA, packte meine Sachen und kehrte nach Rio zurück.»

Draussen färbt sich der Himmel lila. Marcos Valle blickt auf die Uhr und springt auf: «Wir müssen los, gleich geht die Sonne unter.» Der Strand ist leer. Ein alter Mann liest Zeitung, ein paar Mädchen spielen Federball. Kein Händler weit und breit, der Erfrischungen bereithält, um der sinkenden Sonne zuzuprosten. So muss es vor einem halben Jahrhundert in Ipanema gewesen sein. Laut ist nur die Brandung. Langsam verfärbt sich der Horizont, ein Schwarm Vögel zieht vorbei, und ich verstehe, was Marcos Valle mit der «Erhabenheit dieses Ortes» meint. «Wenn die Sonne untergeht, bleibt in Rio die Zeit stehen», sagt er. «Darauf sollten wir etwas trinken. Gegen die Hektik.»

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