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Nicht Resort, sondern Dorfleben: Das Tourismusprojekt «Tribewanted» in Sierra Leone

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Nicht Resort, sondern Dorfleben: Das Tourismusprojekt «Tribewanted» in Sierra Leone

  • Text: Barbara Achermann Fotos: Flurina Rothenberger

Das Tourismusprojekt «Tribewanted» im westafrikanischen Sierra Leone zieht junge Intellektuelle, Umwelttechniker und Heimwerker aus aller Welt an. Davon profitieren auch die Einheimischen.

Ein kleines Tourismusprojekt im westafrikanischen Sierra Leone zieht junge Intellektuelle, Umwelttechniker und Heimwerker aus aller Welt an. Davon profitieren auch die Einheimischen.
 

Katherine hat einen Strand gefunden, der so perfekt ist, dass sie sich ein Leben lang nach ihm sehnen wird. Er liegt in Sierra Leone und ist dramatisch schön. Aber das Beste daran: Katherine wird hier nicht zum Faulenzen verdammt. Zusammen mit Reisenden aus aller Welt baut sie Lehmhäuser, fischt Hummer, spielt Volleyball und pflanzt Bäume. Sie lebt in einem Dorf inklusive drahtlosem Internetanschluss und neusten Ökotechnologien, Tür an Tür mit den einheimischen Fischern und ihren Familien.

Die junge Frau liegt in einer Hängematte, die zwischen zwei Palmen pendelt, eine Krabbe flitzt vorbei, und die Wellen rollen im Reggaerhythmus ans Ufer. Auf den Knien balanciert sie ihren Laptop und lädt ein Foto ihres Mittagessens auf Facebook: frischer Barracuda mit Kartoffelblätter-Palmöl-Sauce. Kathy, wie sie hier alle nennen, hat sich einer Gruppe angeschlossen, die Tribewanted heisst: «Volk gesucht». Ihr Ziel ist ein umweltbewusster Tourismus, der Einheimische und Gäste zusammenbringt, «zu einem einzigen Volk macht». Das klingt naiv. Und doch, hier am John Obey Beach ist die Stimmung einzigartig.

Kathy hat ihren Laptop zum Laden ans Solarpanel angeschlossen und wäscht nun Tomaten aus dem hauseigenen Garten. Ihre hellgrünen Augen sind stets weit aufgerissen, als fürchte sie sich davor, etwas zu übersehen: eine Schildkröte, die ihre Eier im Sand vergräbt, oder eine reife Banane, die man pflücken sollte. Katherine Cacavas ist 25 Jahre alt, trägt Ketten und Kettchen am ganzen Körper und ein kurzes Kleid. Eine typische Abenteuer-Touristin, nur hilfsbereiter und intelligenter als die üblichen Backpacker. Daheim arbeitete die Australierin als Ernährungswissenschafterin und reiste durch Europa und Südamerika.
 

Seit zehn Jahren herrscht Frieden

In Sierra Leone möchte sie ihr Wissen anwenden und weitergeben, aber auch Spass haben, sagt sie. Ihre Destination ist aussergewöhnlich. Bei Sierra Leone denkt man zunächst nicht an Kokosnüsse und kitschige Sonnenuntergänge, sondern an illegalen Diamantenhandel und Kindersoldaten. Das Land erlebte einen der brutalsten Bürgerkriege, doch seit zehn Jahren herrscht Frieden, und seit sieben Jahren ist das Land politisch stabil, wenn auch sehr arm. Obwohl Sierra Leone für vernünftig Reisende sicher ist, konnte es den Ruf als Bürgerkriegsland noch nicht ablegen. Es gibt hier kaum Touristen.

Am nächsten Morgen um halb acht steht die Sonne eine Handbreit über dem Regenwald, und leichter Dunst liegt auf dem Meer. Unweit mündet ein Fluss in den Atlantik, vereinzelte Felsen heben sich dunkel vom goldgelben Sand ab. John Obey ist ein Strand mit eigenwilligem Charakter. Er geht in weitere menschenleere Sandstrände über, die sich über vierzig Kilometer hinziehen und die Halbinsel einfassen, auf der auch die Hauptstadt Freetown liegt. Die Einmillionenmetropole ist nur eine gute Fahrstunde entfernt, aber ein Kontrapunkt zum ruhigen Strandleben. Freetown ist wie ein Wühltisch im Ausverkauf, laut, bunt und wild.

Kathys braune Locken kleben feucht auf ihrem Rücken. Sie ist bei Sonnenaufgang aufgestanden, hat einen Kilometer im warmen Meer gecrawlt und danach Papaya und French Toast gegessen. Nun trifft sie sich mit den übrigen Leuten von Tribewanted unter einem ausladenden Baum, um den Tagesablauf zu besprechen. 25 Bewohner aus dem angrenzenden Fischerdorf arbeiten als Angestellte hier. Heute sind acht Touristen anwesend – an manchen Tagen sind es bis zu 18. «Wer will sich wo einbringen?», fragt sie in die Runde. Wer möchte, kann bei den täglichen Arbeiten helfen, als zahlender Tourist darf man aber auch einfach faulenzen.

Zur Auswahl stehen kochen, bauen, gärtnern oder die Dorfkinder unterrichten. Fotografin Flurina Rothenberger und ich beschliessen, beim Bau neuer Lehmhäuser zu helfen. Wir schlafen selber in einer der hübschen Rundhütten. Sie sehen aus, als seien sie jahrhundertealtes Kulturgut, tatsächlich ist der Baustil der Lehmhäuschen aber brandneu. Ein Zögling des iranischen Ökoarchitekten Nader Khalili war im vergangenen Jahr neun Monate lang hier und hat einer Gruppe einheimischer Männer beigebracht, wie man sie baut. Es hat sich herumgesprochen, dass die Häuschen nicht nur robust, sondern auch billig in der Herstellung sind. Bereits drei Nachbarn wollen eins haben. Einige Arbeiter spielen nun mit dem Gedanken, sich als Bauunternehmer selbstständig zu machen. Und genau das ist die Idee: Wissen weitergeben, damit aus Arbeitslosen selbstständig Erwerbende weden.

Abbas ist unser Vorarbeiter, ein stiller Sierraleoner mit definierten Muskeln und endloser Ausdauer. Unter seiner präzisen Anleitung schaufeln wir gemeinsam mit elf Einheimischen bei dreissig Grad acht Stunden am Tag rote Erde, sieben und mischen sie mit Zement und füllen sie in leere Reissäcke ab. Diese schichten wir in einem Halbkreis auf und legen zwischen jede Schicht Stacheldraht. Dann tapezieren wir den Rohbau mit Teer und Lehm. Zunächst schwitzen wir stumm vor uns hin, aber gegen Abend fangen wir an, miteinander zu reden. Nach dem dritten Tag werden die Gespräche persönlicher. Die meisten sprechen die Amtssprache Englisch.
 

Lange oder kurze Ärmel?

John hat zwei Frauen und erläutert uns die Vor- und Nachteile der Polygamie. Abu träumt von einem Leben als Superstar – er rappt und singt stets halblaut vor sich hin. Wir reden über Religion, den Fischfang, Waschmaschinen, die Liebe. Und über den Krieg. Lange oder kurze Ärmel?, fragten die Rebellen, bevor sie den jungen Männern entweder beide Hände oder einen Arm abhackten. Alle Arbeiter haben im Krieg Angehörige und Freunde verloren und mussten sich ständig verstecken. Einer verbrachte vier Nächte mit seiner Familie in der Sickergrube einer Toilette. Ein interkultureller Austausch auf Augenhöhe, so abgedroschen das klingen mag, Tribewanted macht das möglich. Die Arbeit verbindet, wir unterhalten uns gut und lachen viel.

Gleichwohl herrscht in diesem globalen Dorf keine einträchtige Ethnoharmonie. Es gibt Spannungen und Streit, meist wegen fehlender Disziplin. Arbeiter erscheinen zu spät oder gar nicht, tischen Mahlzeiten zur falschen Zeit auf oder schlafen während ihrer Securityschicht ein. Hier scheint die Basisdemokratie an ihre Grenzen zu stossen. Die Probleme werden hierarchisch gelöst: Fortuma, der Buchhalter und lokale Chef der Truppe, redet Einzelnen ins Gewissen. Wenn er nicht mehr weiterweiss, ruft er Ben in London an, und der droht auch mal mit Kündigung.

Ben Keene ist der Mann hinter Tribewanted. Der Engländer war Mitte zwanzig, als er sein erstes Tourismusprojekt auf Fidschi lancierte. Er mietete auf einer kleinen Insel ein Stück Land und suchte im Internet Mitbewohner. Die BBC berichtete darüber in einer mehrteiligen Doku, und Keene gewann einen Preis nach dem anderen. Unterdessen hat er das Management des Ökodorfs den Fidschianern übergeben und sich kurz vor seinem dreissigsten Geburtstag von einem Italiener namens Filippo Bozotti überreden lassen, etwas Neues in Sierra Leone aufzuziehen. «Ich sagte Ja, bevor ich nachdachte», erzählt Ben Keene am Telefon. Er und Bozotti verbringen abwechslungsweise einige Wochen im Jahr in Sierra Leone. Seit die beiden vor zwei Jahren im strömenden Regen die ersten Wasserleitungen legten, haben gut 1500 Touristen in John Obey übernachtet.

In der Trockenzeit sind es pro Tag durchschnittlich zwölf. Keene und Bozotti möchten die Zahl aber mindestens verdoppeln. Unter anderem durch mehr Mitspracherecht. Für 15 Franken im Monat kann man sich in die Kooperative einkaufen und bei wichtigen Entscheidungen online abstimmen. Nachdem die Sonne aufsehenerregend ins Meer getaucht ist, trinken wir mit den Sierraleonern den lokalen Palmwein Poyo, der wie ranzige Magermilch aussieht und auch so schmeckt. Die Touristen am langen Holztisch sind zwischen 25 und 45, gut ausgebildet, selbstbewusst, eigenständig. Am Kopfende sitzt Lauren aus Australien, sie ist von Beruf Ingenieurin und hat heute den Schülern aus dem Dorf eine Schwimmlektion in der Lagune erteilt.
 

Frank aus Kanada hat versucht, ihr dabei zu helfen, der Philosoph weiss aber mehr mit Wittgenstein anzufangen als mit zappelnden Kindern. Janine aus Deutschland und Amber aus Südafrika, zwei religiöse Krankenschwestern, haben den Tag mit Sonnenbaden und Beten verbracht. Nathalie aus London hat von der Küchencrew gelernt, wie man Fische ausnimmt und afrikanische Spezialsauce kocht. Sie will alle Rezepte aufschreiben und zu einem Kochbuch zusammentragen. Kathy aus Australien war heute auf dem Markt, um Maniok und Kochbananen einzukaufen. Zu ihrer Überraschung hat sie einen Bund Radieschen gefunden.

Tribewanted verspricht nicht, dass man mit seiner Freiwilligenarbeit die ganze Welt retten wird. Allen hier ist klar, dass sie vor allem als zahlende Touristen zur Entwicklung der Region beitragen und nicht, indem sie ein paar Säcke Erde aufschichten. Dennoch ist jedem wichtig, Teil eines nachhaltigen Tourismusprojekts zu sein, wo keine Klimaanlagen laufen und drei Viertel des Abfalls recycelt wird. Unter den Touristen gibt es einige professionelle Techniker und begabte Handwerker, die wichtige Ökotechnologien ins Projekt eingebracht haben: etwa Solaranlagen und Komposttoiletten oder ein Verfahren, um aus vertrockneten Blättern Kohle herzustellen.

Kommende Woche werden drei kalifornische Meeresbiologinnen anreisen und den Fischbestand vor dem John Obey Beach untersuchen. Fotografin Flurina Rothenberger ist vor über einer Stunde mit Kamera und Taschenlampe im Dickicht verschwunden, um Babykrokodile aufzuspüren. Langsam beginnen wir uns Sorgen zu machen. Ein Fischer, der sich Perfect Man nennt, lacht uns aus: «Diese Krokos sind harmloser als Eidechsen!» Er hat für Kathy eine Kokosnuss mitgebracht, und die junge Frau klopft ihm dankend auf die Schultern. Sie ist hier mindestens so populär wie Bob Marley.
 

Ein Brunnen und eine Toilette für die Dorfbewohner

Während der Mangosaison bekam sie von ihren vielen Verehrern mehr Früchte geschenkt, als sie essen konnte. Auch die Frauen im Dorf mögen Kathys herzliche Art. Eine Köchin hat ihr Neugeborenes nach ihr benannt. Die meisten Tribewanted-Gäste sind bei den Einheimischen beliebt: Sie bringen Abwechslung, Knowhow und vor allem Geld. Mit den Einnahmen aus dem Tourismus renovierte Tribewanted das Schulhaus und installierte einen neuen Brunnen und eine Toilette für die Dorfbewohner. Tribewanted ist ein gemeinnütziges Unternehmen, siebzig Prozent der Einnahmen kommen direkt der lokalen Bevölkerung zugute. Zudem wurden bereits mehrere Mikrokredite vergeben. Ali hat sich davon einen Generator und einen Fernseher anschaffen können. Er betreibt jetzt im Dorf ein Kino und hat seine Schulden bereits abbezahlt.

Flurina kommt unversehrt, aber enttäuscht zurück. «Die Krokodile tauchten unter, bevor ich sie fotografieren konnte.» Am nächsten Morgen überredet uns Kathy, den Muskelkater mit Yoga zu lindern. Sie ist eine begnadete Lehrerin, und wir fragen uns, ob es auch etwas gibt, was diese Frau nicht kann. Längst nicht jeder Tag ist ein Arbeitstag. Einmal fahren wir mit den Fischern aufs Meer, sitzen danach am Strand und stecken stundenlang neue Köder an rostige Haken. Kinder hocken neben und auf uns und lachen lauthals über unsere ungeschickten Finger. Oder wir paddeln mit dem Holzkanu den Fluss hinauf, fahren über holprige Strassen nach Freetown auf den Markt, spielen Volleyball.

An unserem letzten Tag stehen wir vor dem Morgengrauen auf. Wir wollen den Picket Hill besteigen, der sich hinter unserem Strand erhebt. In einer Holzofenbäckerei am Fuss des Hügels kaufen wir warme Butterküchlein, gut drei Stunden später stehen wir oben. Vom felsigen Kamm auf 888 Meter über Meer überblicken wir weite Teile der Halbinsel. Unter dem üppigen Grün graben sich Bäche durch die Buschlandschaft, Flüsse stürzen hohe Wasserfälle hinunter, und Trampelpfade verbinden die im Regenwald verstreuten Dörfer. An den Atlantik grenzen Mangrovensümpfe und Postkartenstrände wie John Obey. «A taste of paradise» hiess es im Werbespot für den Bounty-Schokoriegel, der hier in den Siebzigerjahren gedreht wurde. Es ist an der Zeit, dass Touristen wieder auf den Geschmack von Sierra Leone kommen.

Weitere Informationen finden Sie auf der nächsten Seite.

 

 

Sierra Leones schweres Erbe

Potenzial ist ein bittersüsses Wort in Sierra Leone. Das westafrikanische Land ist knapp doppelt so gross wie die Schweiz und hat immense Bodenschätze und viel fruchtbares Land. Trotzdem zählt es zu den ärmsten Ländern der Welt. Die Portugiesen waren die ersten Europäer in Sierra Leone. Sie handelten zunächst mit Gold und Elfenbein, ab 1550 mit Menschen. Auch die Briten mischten beim Sklavenhandel mit, der erst 1928 endete. Noch heute kann man die Sklavenfestung auf der Insel Bunce besichtigen.

Ein weiteres dunkles Kapitel in der Geschichte des Landes ist der Bürgerkrieg, der von 1991 bis 2002 dauerte und durch illegalen Diamantenhandel finanziert wurde. Rebellengruppen kämpften mit Unterstützung des liberianischen Warlords Charles Taylor gegen die wechselnden Regierungen von Sierra Leone. Beide Seiten, Rebellen wie Regierungsarmee, rekrutierten Kindersoldaten, und man vermutet, dass zwei Drittel aller Mädchen und Frauen wurden. Charles Taylor wurde im April dieses Jahres vom Sondergerichtshof in Den Haag zu fünfzig Jahren Gefängnis verurteilt.


Das Schweizer Reisebüro Aquaterra Travel ist spezialisiert auf Afrika. Beste Reisezeit für Sierra Leone ist November bis April. Man kann den Aufenthalt am John Obey Beach bei Aquaterra Travel buchen und mit einer Sierra-Leone-Rundreise verbinden. Preise: Vollpension ab 339 Franken pro Woche pro Person, Flug ab ca. 1200 Franken; www.aquaterra-travel.ch
Mehr Infos zum Projekt: www.tribewanted.com

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