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Wie ist es eigentlich, ohne Geld zu leben?

Leben

Wie ist es eigentlich, ohne Geld zu leben?

  • Aufgezeichnet von Katrin Parmentier; Foto: Getty Images

Charlotte L. (46) lebt ohne Geld und fühlt sich vogelfrei – auch wenn diese Freiheit Angst machen kann. 

Es regnet. Wasser. Das ist umsonst, denke ich. Kräuter sind umsonst, Erde und Pilze sind umsonst, die Luft, Beeren, Blätter und Bäume. Ich sehe Menschen, die Geld für Vasen und Schuhe auf eine Theke legen und später beim Kaffee klagen, dass irgendwie nie was übrig bleibt auf ihrem Konto. Ich verdrehe die Augen und denke: Selbst schuld. Brauchst du denn noch einen Schuh?

Und denke an all die Jahre, die ich jetzt schon ohne Geld und Vasen gelebt habe. Von Luft, Resten, Tausch und Wasser.

Es ist 25 Jahre her, als es anfing mit dem freiwillig leeren Portemonnaie. Ein altes besetztes Bürohaus in London, Rosebery Avenue 99 (heute residiert da Amnesty International), mit 25 Zimmern, oben lebten wir, unten ein Bunch von sogenannten Peace-Punks, also Punks, die auch ohne Bierflasche und Rumgröhlen auskommen. Besetzen war damals in England eine ganz normale Lebensweise. Wer kein Geld hatte, der besetzte, und das waren bei Gott nicht nur Punks, auch Mütter mit Kindern, Familien und so weiter. Und die Peace-Punks taten sich eben gern zu anarchischen Ersatz-Familys zusammen.

Mit Sperrmülltischen, Couchs und Wasserkessel (für Spenden) haben wir da ein Vegan Cafe eröffnet. Wer weiss? Vielleicht hat ein Seattle-Hippie damals seine Idee zu einem Multifinanzkaffeeimperium im Squatter-Ethno-Style bei uns auf einen Block gekritzelt. Und dazwischen «Moby Dick» gelesen, beeindruckt vom Steuermann.

Um fünf Uhr früh gingen täglich ein paar von uns zum Spitalfields Market und sammelten Resten ein, die die Händler liegen gelassen hatten. Gute Ware, nur nicht schön. Nicht bloss ein paar miese Karotten und ollen Fenchel. Nein, Säcke voll mit Rüben, Zucchetti und Süsskartoffeln. Wir füllten die Zucchetti, kochten Ratatouille, Suppen, Kürbis-Eintöpfe und so weiter. Das Essen gab es im Cafe gegen eine Spende, die dann in Nescafé, Sojamilch, Teebeutel, Seife und anderes Zeug investiert wurde, das nicht auf der Strasse rumlag. Wir lebten ohne Geld in unseren Taschen. Nur, das muss ich schamrot zugeben, wenn die Gier nach einem Mars zu gross war, schnorrten wir ein Pfund an der U-Bahn-Station Angel und kauften Schokolade dafür.

Das ist alles lange her, aber ginge das noch heute? Naja, ich treffe auf der ganzen Welt Nachfolger. Und dank dem Internet ist inzwischen alles besser organisiert. Da gibt es etwa die Food Diver, das sind Jungs und Mädels, die – sobald es dunkel wird – aus den Abfallcontainern der grossen Supermärkte die guten Sachen rausfischen. Ablaufdatum überschritten, aber noch ziemlich lange haltbar. Ihr Credo: «Für die einen ist es Abfall, für uns sind es Geschenke.» Oder die riesige Couchsurfing Community, die gratis Schlafplätze (meist Sofas, manchmal auch richtig tolle Betten oder auch nur platte Isomatten) anbietet. Dafür hilft der Gast natürlich beim Hausputz oder repariert den schiefen Wandschrank. Der Gastgeber seinerseits hat dafür ebenfalls Übernachtungsmöglichkeiten auf der ganzen Welt.

Und ich? Ich versuche noch immer, ohne Geld durch die Welt zu streunen. Schliesslich gibt es grosse Tauschbörsen: So male ich zum Beispiel eine Kommode an (malen kann ich Gott sei Dank) und bekomme dafür Spaghetti mit der besten Pestosauce der Welt und einen Rucksack geschenkt.

Und sonst? Natürlich hab ich manchmal auch Angst. Die Angst, völlig unerwartet im Krankenhaus zu liegen und 6800 Franken Schulden zu haben. Aber vielleicht könnte ichs ja abputzen, abarbeiten, was weiss ich? Anderseits kriege ich Sodbrennen, wenn ich glückliche Familien sehe, Krawattenvater, Tag im Büro, Mutter knuddelt Kinderwangen. Und dann erzählt mir ausgerechnet diese Mutter, wie schön sie meine Freiheit findet. Wenn sie nur ausbrechen könnte. Nur zwei Tage. Ja, denke ich, länger wäre wohl schwierig. Denn Sicherheit kommt für die meisten von uns ja noch vor Liebe, Sex und Glück. Ich bin vogelfrei. Sicherheiten habe ich keine. Dafür eine Tonne Abenteuer im geschenkten Rucksack. Es stimmt: Freiheit bedeutet auch Angst. Nur wird mit der Zeit die Panik, das Existenzkillermonster, immer kleiner. Man darf nur nicht um vier Uhr in der Nacht aufwachen. Die Stunde der Milz ist auch die Stunde des Teufels. Die spült alles Schlechte hoch.
 

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