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Männersachen: Önologische Rückführung

Stil

Männersachen: Önologische Rückführung

  • Text: Walter Vontobel

Im Rahmen unseres Männer-Specials geben die annabelle-Männer etwas aus ihrem Leben preis. Verlagsleiter Walter Vontobel öffnet eine Weinflasche aus dem Jahr 1861 ...

Der Begriff Rückführung wird normalerweise in der Psychologie gebraucht. Mit der Rückführungstherapie hat mein Thema allerdings nichts am Hut. Die Rückführungen, die mich begeistern, sind in Flaschen abgefüllt und warten seit mindestens einem Jahrhundert geduldig darauf, ihre Geheimnisse preisgeben zu dürfen. Es sind vor allem Portweine und Weine aus Madeira, die mich faszinieren. Diese Weine wurden im 19. Jahrhundert gekeltert und wurden zwecks besserer Haltbarkeit mit hochprozentigem Alkohol angereichert. Was es mir wiederum ermöglicht, meinem speziellen Hobby frönen zu dürfen, da diese Weine noch im hohen Alter hervorragend zu trinken sind.

Jahrgänge vor 1900 sind mittlerweile schwer zu finden, und Portweine mit den Jahrgängen 1863, 1896 oder auch 1908 sind beliebte Sammlerobjekte und nicht mehr ganz günstig. Es ist sicher ganz chic, eine Flasche aus dem 19. Jahrhundert im Weinkeller an einer gut sichtbaren Stelle zu lagern. Nur verpasst man als Sammler eben die kulinarisch-önologische Rückführung. Ich bin der Meinung, dass sich auch eine leere Flasche ausstellen lässt. Keine Sammlerleidenschaft dieser Welt kann mich davon abhalten, diese Zeitzeugen aus ihrem Korsett zu befreien und in die Gegenwart zu holen.

Meine Rückführungen beginnen allerdings schon vor dem Öffnen der Flasche. Ein Blick in die Geschichtsbücher gibt mir ein Bild aus der Zeit, als der Weinbauer mit seinen Gehilfen die Trauben gelesen hat. Nehmen wir den Jahrgang 1861. Das war die erste Flasche aus dem 19. Jahrhundert, ein Madeira, die ich verkosten durfte und mit der meine Leidenschaft quasi zeitgleich entkorkt wurde.

1861 wurde Viktor Emanuel II. erster König im bis auf Venetien und Rom vereinten Italien. In den USA wurden New York und San Francisco durch eine Telegrafenleitung verbunden, während die Südstaaten ihre Unabhängigkeit erklärten – der Sezessionskrieg brach aus. Im selben Jahr wurde in Russland die Leibeigenschaft abgeschafft! Alles festgehalten und fein säuberlich verkorkt in dieser Flasche.

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich diesen uralten Wein kosten durfte. Behutsam öffne ich die Flasche, und meine Nase wandert an die Öffnung. Ich schliesse die Augen, und mein Geruchssinn nimmt einen feinen, vielleicht imaginären, weit, sehr weit entfernten und trotzdem deutlich präsenten Teil des Jahres 1861 auf. Ich schenke eine kleine Menge dieser goldfarbenen und intensiv nach Caramel und Aprikose riechenden Substanz in ein Glas und warte einige Minuten. Ein kleiner Schluck und noch einer, um sicher zu sein. Die Rückführung beginnt! Ein unvergleichlicher und unvergesslicher Trinkgenuss.

Aktuell bin ich übrigens auf der Suche nach einem Wein aus dem Jahr 1912, das Geburtsjahr meines Grossvaters (und das Jahr des Untergangs der «Titanic»). Schauen Sie doch bitte mal in Ihrem Weinkeller, ob da nicht noch ein verstaubter Madeira herumliegt. Ich würde die Rückführung auch gern auf zwei Gläser verteilen.

 


   Das Männerheft erscheint am 8. April 2015