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Reduced to Max – Julian Schütt über Max Frisch

Kultur

Reduced to Max – Julian Schütt über Max Frisch

  • Text: Julian SchüttFoto: Gian Marco Castelberg

Unser Autor hat die ultimative Max-Frisch-Biografie geschrieben. Dafür befasste er sich jahrelang so intensiv mit der Vita des grossen Schriftstellers, dass seine eigene dabei fast unterging.

Unser Autor hat die ultimative Max-Frisch-Biografie geschrieben. Dafür befasste er sich jahrelang so intensiv mit der Vita des grossen Schriftstellers, dass seine eigene dabei fast unterging.

«Ich bin nicht Max!» Immer wieder muss ich das klarstellen. Denn immer wieder soll ich den Kopf hinhalten für Handlungen, die er begangen hat. Konkret geht es um die Art und Weise, wie er seine Familie verliess. Oder wie er Freundinnen und Freunde, die ihm am nächsten standen und am meisten halfen, als «literarisches Material» benutzte, wie er sie «ausplauderte».

Mein Verbrechen als Biograf besteht darin, dass ich diese Angehörigen, Freundinnen, Freunde gleichfalls als Material benutze. Das lässt sich nicht ändern. Immerhin bringe ich wenn möglich auch ihre Sicht der Dinge ein.

«Ich bin nicht Max!» Ich komme mir jedes Mal lächerlich vor, wenn ich das klarstellen muss. Denn eigentlich ist das ein Satz von ihm. Sein Roman «Stiller» fängt so an: «Ich bin nicht Stiller!» Er fand diesen Anfang, als er das Buch fertig geschrieben hatte. Ich habe lange keinen Anfang gefunden und vergeblich gehofft, zunächst den Rest des Buchs schreiben zu können. Aber ich bin eben nicht Max.

Einmal kam ich mir mit dieser Klarstellung besonders lächerlich vor. Ich traf zufällig eine Freundin, die ich aus den Augen verloren hatte. Oder sie vielmehr mich. Literatur ist nicht unbedingt ihr Spezialgebiet, dennoch gab ich einst viel auf ihr Urteil. Nachdem ich ihr von meinen Nöten und Freuden als Biograf erzählt hatte, sagte sie frei heraus: «Du gleichst ihm bereits!» War die Symbiose wirklich schon so weit gediehen? Ich konnte das natürlich nicht glauben. Zugegeben, ich trug damals eine Hornbrille, aber nicht eine wie Frisch, zu deren Herstellung vermutlich eine ganze Rinderherde dran glauben musste. Mitunter habe ich mich auch für den Autor und gegen die eigene Familie entscheiden müssen. Das bekomme ich von ihr bis heute zu hören.

Doch so paradox es klingt: Gerade weil mir Frisch vertraut ist, versuche ich immer, eine gewisse Distanz zu ihm zu wahren. Er hielt niemanden aus, der ihm zu nahe kam. Nicht einmal Freunde. Erst recht nicht Biografen. Die hielt er sich im Allgemeinen und besonders im eigenen Fall vom Leib. Das war Frisch, reduced to the Max. Sein Ich sollte ihm allein gehören, so wenig er es mochte. In dieser Hinsicht steckte auch in ihm ein kleiner Monopolist. Über sein Ich-Revier wollte er selber schreiben, und er hat das ja mit Leidenschaft getan. Da mochte er, der sonst Fremdes, Unzugehöriges zeitlebens brauchte, keine Eindringlinge. Deshalb bin ich fast froh, ihn nicht mehr persönlich gekannt zu haben. Er hätte mir meine Biografie bestimmt ausgeredet.

«Du gleichst ihm bereits!»

Mir gefällt, wie er nach alter Schule selbst langjährige Weggefährten siezte, obwohl er sie mit dem Vornamen anredete. Und so habe auch ich Max während all der gemeinsamen Jahre gesiezt. All dies hätte ich der Freundin erwidern können nach ihrem leichtfertig dahingesagten Satz: «Du gleichst ihm bereits!» Mir fiel jedoch bloss die Klarstellung ein: «Ich bin nicht Max!»

Diese karge Antwort bewies der Freundin nur, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Und als wollte sie mich trösten, beteuerte sie, wie wichtig für sie im Gymnasium «Der Besuch der alten Dame» und «Der Richter und sein Henker» gewesen seien.

Mich irritierte weniger, dass die Freundin die Bücher von Frisch und Dürrenmatt verwechselte, als dass sie mich für einen Dürrenmatt-Klon hielt. Dann doch lieber wie Frisch aussehen? Dürrenmatt hatte eine mindestens so massive Brille wie Frisch, aber dazu noch ein Massiv von einem Schädel. Von allem etwas zu viel für meine Eitelkeit.

Erstmals in meinem Leben begann ich Linsen zu tragen und auf die Linie zu achten. Wenn die Leute mich fragen, wie Max mein Leben verändert hat, kann ich sagen, dass ich in jeder Hinsicht leichter geworden bin. Er musste teure Diätkliniken und Kurhotels aufsuchen, um abzunehmen. Ich musste nur seine Biografie schreiben, um den gleichen Effekt zu erzielen. Auch im Kopf habe ich davon profitiert, dass dieser Autor beharrlich das Leichte im Leben und in der Literatur suchte.

Natürlich möchte ich nichts schönen: Ich habe auch abgenommen, weil mir angesichts der Fülle der Aufgaben und Erwartungen der Appetit verging. Der Appetit verging mir, als ich abschätzen konnte, wie viel ich recherchieren, lesen, verdauen, formulieren muss. Er verging mir, als ich erkannte, wie Frisch umso rätselhafter wurde, je besser ich ihn zu kennen glaubte.

«Jedermann erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.» So lautet einer seiner berühmtesten Sätze. Der Versuch, hinter den Erfindungen die wirkliche Biografie zu entdecken, erwies sich oft als Kampf gegen Windmühlen – nicht von ungefähr liebte Frisch «Don Quijote».

Wie ein Mensch ohne Biografie

Am meisten verging mir der Appetit, wenn ich aufgezeigt bekam, wie lebenssüchtig Max war, wie er alles selber bestimmen und in jedem Augenblick intensiv haben wollte. Während ich meine beste Lebenszeit damit vergeudete, dass ich das Leben eines andern zusammenpuzzelte.

Manche Biografen rächen sich, indem sie das Tun und Treiben dieses andern dann ins Kleine und Schäbige herunterdrücken, das einzig ihnen vertraut ist. Sie breiten lustvoll Fehltritte und Schwächen aus. Ich schwor mir stattdessen, das intensive Leben nachzuholen, es zu geniessen, sobald das Buch fertig war. Und Max beziehungsweise sein Ruhm sollte mir gefälligst dabei behilflich sein.

Dann erschien die Biografie endlich, doch zunächst blühte nur meine postnatale Depression auf. Frischs Ruhm ermöglicht mir zwar tatsächlich viele Reisen und faszinierende Begegnungen, gleichwohl fühle ich mich nach einer Lesung oder Podiumsdiskussion meist wie ausgeleert. Wie ein Mensch ohne eigene Biografie eben.

Einmal allerdings war es anders. In Moskau. Wie oft hatten die kalten Krieger der Schweiz den verhassten Frisch hierher verbannen wollen. Nun war ich da und fühlte mich alles andere als verbannt. Nach meinem Auftritt gab mir die schönste Frau im Saal die Hand. Sie war Schauspielerin und studierte mit ihrem Theater gerade ein Frisch-Stück ein. Wir wussten auf Anhieb, worüber wir reden konnten.

Allein schon wegen dieses Augenblicks haben sich die zehnjährigen Strapazen mit Max gelohnt, dachte ich. Und gleichzeitig dachte ich, wie unwirklich diese Begegnung war. Niemals dürfte man so viel Romantik in einer Biografie ausplaudern. Da ist es nur gut, wenn man keine eigene Biografie hat.

Julian Schütt, geboren 1964, arbeitet als Autor und Journalist in Zürich. Er ist Gastrokolumnist von annabelle. 2011 erschien sein preisgekröntes Buch «Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs» im Suhrkamp-Verlag, Berlin

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