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Kultur gegen den Quarantäne-Koller

Popkultur

Kultur gegen den Quarantäne-Koller

  • Text: Claudia Senn; Foto: Wozniak

Alle Kulturinstitutionen sind geschlossen. Doch das ist nicht das Ende, sondern vielmehr ein neuer Anfang – von kreativen Notlösungen und virtuellen Events. Streaming ist das neue Hingehen!  

Tja, jetzt ist es soweit: Alle Museen, Kinos und sonstigen Kulturinstitutionen haben dicht gemacht. Manche kämpfen sogar schon heftig um ihre Existenz. Doch während ich diese Zeilen schreibe, wird auch überall im Land darüber nachgedacht, wie wir trotz Corona-Virus kulturell nicht auf dem Trockenen sitzen. Die Museen arbeiten fieberhaft an Online-Angeboten für ihre Kundschaft. In der Berliner König-Galerie gibt es jetzt schon virtuelle Rundgänge, «by appointment only». Eine Gruppe von Autorinnen und Autoren hat ad hoc das Literaturmagazin «Stoff für den Shutdown» gegründet, finanziert per Crowdfunding. Es soll erscheinen, «bis wir uns alle wieder bedenkenlos umarmen können». Autorinnen und Autoren des Magazins «Glitter» stellen gar ein ganzes Literaturfestival auf die Beine («Viral», jeden Abend live auf Facebook). Die Comedienne Patty Basler strahlt auf ihrem Youtube-Kanal täglich eine Folge «Apokalypso TV» aus. Gianna Nanini gibt Live-Konzerte auf Instagram, der Starpianist Igor Levit auf Twitter – in Socken. Manche Kinos bieten ihre Filme nun auf Home-Streaming-Plattformen an (z.B. cinefile.ch und myfilm.ch). Ja, Streaming ist das neue Hingehen. Selbst mein Yogalehrer macht mit mir jetzt per Zoom Cloud Meeting den herabschauenden Hund. Namaste! Ich hoffe bloss, dass wegen Netzüberlastung keine «nicht relevanten Online-Dienste» abgeschaltet werden, wie bereits angedroht. Und wenn doch: Darf ich bitte mitreden, was relevant ist?

Ohne Youtube zum Beispiel ist zur Zeit keine lohnenswerte Existenz vorstellbar. An den singenden Italienern auf ihren Balkonen kann ich mich einfach nicht satt sehen – obwohl ich jedesmal wie auf Knopfdruck losschluchze. Ich glaube, meine Rührung kommt daher, dass diese spontanen Darbietungen uns so exemplarisch vor Augen führen, was uns in schwierigen Zeiten wirklich hilft: Miteinander, Solidarität, Improvisationsgabe, Kultur. Kultur ist viel wichtiger als Klopapier!

Kultur ist der Leim, der die Gesellschaft selbst dann noch zusammenhält, wenn alles andere den Bach runter geht. Auch Netflix dürfen die Behörden keinesfalls abstellen, andernfalls droht die Volksdepression. Es gibt hier so viele Möglichkeiten, sich die Welt ins Haus zu holen! Soeben habe ich den Briten Reggie Yates und seine Reportagen-Serie «Outside Man» entdeckt. Reggie ist ein supersmarter schwarzer Fernsehjournalist, der dank seines unvergleichlichen Reggie-Charmes in den krassesten Millieus Zugang findet: bei der Queer-Bewegung im homophoben Russland, in den Slums der ins Prekariat abgestürzten ehemaligen weissen Mittelschicht Südafrikas, in der Christal-Meth-Szene Australiens oder den Teen-Modelfabriken in Sibirien. Reggie kann mit jedem reden, selbst mit russischen Schwulenhassern und stinkreichen Wunderpredigern und bürstet so manches Vorurteil gegen den Strich. Grossartige Kopfreisen für die Erweiterung des Horizonts in den eigenen vier Quarantäne-Wänden!

Noch mehr Quarantäne-Angebote auf Twitter unter #Streamkultur

Nützt auch in Härtefällen

Tanzen

Googeln Sie die Videos der Hamburger Band Meute. Meute sind elf Jungs in abgetragenen St. Pepper-Uniformjacken, die aussehen wie die Hipster-Version der guten alten Dorfkapelle. Doch statt Marschmusik spielen sie Techno – mit Pauken und Trompeten! Unmöglich, dabei auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben.

Singen

Hören Sie die umwerfend komischen, beinahe hundert Jahre alten Lieder der besten A-Capella-Truppe ever, der Comedian Harmonists. Singen Sie lauthals mit. «Ich wollt, ich wär ein Huhn. Dann hätt’ ich nix zu tun.» – Wer kann da noch depressiv sein?

Lesen

Andere haben viel Schlimmeres durchgemacht als wir: zum Beispiel der Iraner Behrouz Boochani, der als Flüchtling vom australischen Staat sechs Jahre lang auf einer abgelegenen Insel unter menschenunwürdigen Umständen interniert wurde. Er schrieb darüber ein Buch, heimlich getippt auf einem geschmuggelten Handy, in tausenden von Whatsapp-Nachrichten. Letztes Jahr bekam er dafür den höchst dotierten Literaturpreis Australiens – des Landes, das er nie betreten durfte. Behrouz Boochani: «Kein Freund ausser den Bergen – Nachrichten aus dem Niemandsland». Btb-Verlag, ca. 34 Franken.

Gucken

«Shaun das Schaf», eine liebenswürdige Trickfilm-Kreatur aus der Wunderkammer der Aardman-Studios, erheitert mit seinem Anarcho-Humor einfach alle, die Grossen und die Kleinen, die Apokalyptiker und die Unerschütterlichen. Die meisten Episoden dauern bloss wenige Minuten. Bauen Sie sie als Ritual in den Alltag ein: Jeden Tag nach der «Tagesschau» zehn Minuten Shaun – als Gegengift.