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Wie ist es eigentlich, 32 Stunden lang einen Chevrolet zu küssen?

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Wie ist es eigentlich, 32 Stunden lang einen Chevrolet zu küssen?

  • Aufgezeichnet von Peter AckermannFoto: Getty Images

Kamilla Kolodziej (23) Sekretärin aus Obertshausen (D)

Natürlich übte ich zuhause. Ich küsste ein Glas, eine Tasse und den Kleiderschrank. Mein Freund schaute mir zu und sagte: Schnapp ihn dir. Einen Tag später stand ich dann vor dem Wagen, den ich durch den längsten Kuss der Welt gewinnen wollte.

Planet Radio, das ich während meiner Arbeit höre, hatte zum Wettbewerb aufgerufen und organisierte ein Quiz am Sender. Ich kam durch und musste die Einspielung eines Kussgeräuschs einem Prominenten zuordnen. Ich tippte auf die R&B-Sängerin Kelly Rowland – und wurde die erste Finalistin.

Meine Konkurrenz an der Automobilausstellung in Frankfurt am Main bestand aus fünf Frauen und vier Männern. Morgens um zehn nach zehn gings los. Den Rücken dem Publikum zugewandt, um nicht abgelenkt zu werden und die Kontrolle zu verlieren, stellte ich mich vor die Beifahrertür des Chevrolet Cruze und begann, seinen schneeweissen Türrahmen zu küssen. Das Gefühl war ungewohnt. Das Blech kühlte meine Lippen, und je länger der Kuss dauerte, desto steifer fühlten sie sich an. Ein Mitbewerber machte sich am Heck zu schaffen. Eine Kandidatin hatte sich am Türgriff festgesaugt. Eine weitere presste ihren Mund auf den Scheinwerfer. Wir sahen aus, als würden wir Filmküsse aus den Fünfzigerjahren imitieren. Vier Juroren beobachteten uns. Wer den Kontakt zum Auto verlor, schied aus. Pro Stunde gestand man uns fünf Minuten Pause zu, die man kumulieren durfte. Ich machte alle zwei Stunden zehn Minuten lang eine Unterbrechung, ging auf die Toilette und verpflegte mich am Buffet und bewegte meine Lippen, die kribbelten, als seien sie eingeschlafen.

Die meiste Zeit knutschte ich den Chevy am Kotflügel über dem rechten Vorderreifen. Überlegt habe ich mir nicht viel. Ich wusste, was ich hier mache, ist leicht bescheuert. Aber ich wollte ein neues Auto und dachte nur immerzu: durchhalten, Kamilla, durchhalten.

Nach 16 Stunden gab ein Kandidat auf. Er sah übel aus und beklagte sich über Magenschmerzen. Meinen Gegnern war die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben, aber sie schienen vom selben Ehrgeiz getrieben zu sein wie ich und klebten mit ihren Lippen am Auto wie Scheibenputzerfische am Glas eines Aquariums. Manchmal wandten wir uns brabbelnd einander zu: Kannst du noch? Hör lieber auf, bevor du es zu weit treibst!

Nach 27 Stunden verkündeten die Veranstalter, der bisherige Weltrekord sei gebrochen. Das Publikum applaudierte. Mein Freund und mein Vater riefen mir zu, jetzt erst recht nicht aufzugeben. Ich hielt durch. Wie die acht übrig gebliebenen Gegner auch. Jetzt musste der Gewinner anders ermittelt werden. Kurz vor Ablauf der 32. Stunde hiess uns der Moderator, vom Auto zu lassen. Er zählte die letztenzehn Sekunden rückwärts. Das Publikum feierte uns frenetisch. RTL filmte. Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde! Ich fühlte mich übernächtigt, verschwitzt und enttäuscht: 32 Stunden lang hatte ich mich angestrengt, und jetzt sollte der Zufall entscheiden.

Auf einem Podest wurden neun Zündschlüssel ausgelegt. Nur mit einem würde man den Motor des Chevy starten können. Die Reihenfolge der Schlüsselziehung entschied ein Los. Ich zog die Nummer acht, käme also als Zweitletzte dran, um einen Schlüssel auszuwählen. Sofern das Auto nicht schon weg wäre. Alle meine Hoffnungen sackten ab. Sechs Schlüssel waren bereits gezogen, erfolglos. Mein Herz schlug schneller. Der siebte wurde ins Zündschloss gesteckt und gedreht. Mir war flau im Magen. Das Auto machte keinen Wank. Mit weichen Knien trat ich ans Podest. Jetzt standen die Chancen fifty-fifty. Ohne nachzudenken, griff ich nach dem Schlüssel rechts, setzte mich hinters Lenkrad und steckte den Schlüssel hinein.

Fünf Monate später sprach ich mit meinem Nachbarn. Ein liebenswerter Kerl und ein Autoliebhaber, wie ich. Er war bereit, mir für den voll ausgestatteten Chevrolet einen fairen Preis zu zahlen. Mit dem Geld erfüllte ich mir einen Traum und kaufte ein Audi-Coupé in Schwarz. Noch heute, zwei Jahre nach dem Wettbewerb, werde ich manchmal gefragt, ob ich auch meinen Freund 32 Stunden lang küsse. Nein, sage ich dann, denn dabei gibt es nichts zu gewinnen.