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«Ein einziges Foto kann unfassbar kostbar sein»

Leben

«Ein einziges Foto kann unfassbar kostbar sein»

Kerstin Birkeland hat ihren Sohn verloren – und sich dennoch nicht vom Thema Tod und Trauer abgewandt. Mit ihrem Verein Herzensbilder will sie betroffenen Familien helfen – und ihnen ein Foto schenken.

annabelle: Kerstin Birkeland, es war ein Gedanke, der Ihnen im grössten Moment des Schmerzes kam, der Ihnen die Idee für Herzensbilder gab.
Kerstin Birkeland: Genau. Als ich merkte, dass ich alles dafür geben würde, um ein Foto mit meinem Sohn Till und unserer ganzen Familie zu haben. Wir haben Till viel fotografiert, doch weil meist ich hinter der Kamera bin, gibt es kein inniges Familienbild von uns allen. Das ist mir bewusst geworden, als ich nach seinem Tod eines ausdrucken lassen wollte. Wir waren da aber noch komplett unter Wasser, und ich konnte noch nicht weiter planen, aber der Gedanke, dass einem als Familie ein Bild unglaublich fest fehlen kann, der blieb.

Und wann reifte der Gedanke zu der Idee, etwas daraus zu machen?
Ich hatte immer wieder Kontakt zu anderen Eltern, die auch ein Kind verloren hatten, und denen ging es ähnlich. Manche hatten sogar nur Handybilder, die sie nicht verwenden konnten, weil die Auflösung nicht mal für eine Trauerkarte reichte. Und jedes Mal, wenn ich hörte, dass jemandem ein Foto fehlte, wurde dieser Gedanke grösser und wichtiger, und dann habe ich irgendwann an einem Abend einfach gedacht: Gut, dann packe ich dieses Problem jetzt an.

Wie sind Sie vorgegangen?
Ich war hochschwanger mit meiner Tochter Neele und sass abends vor dem Computer. Ich habe 80 Fotografinnen und Fotografen angeschrieben. Ich schrieb: Ich suche Fotografen, die Kinder, die sterben werden oder schwer krank sind, fotografieren. Ich habe kein Geld, und ihr kommt aus einer anderen Welt, denn normalerweise haltet ihr glückliche Momente fest, und das, was ich machen will, ist das absolute Gegenteil. Als ich das Mail abgeschickt hatte, war ich sicher, dass sich niemand melden wird.

Aber es kam anders.
Diese Nacht wurde zu einer Märchennacht für mich. Ich war nur wenige Tage vor meinem Kaiserschnitt und dachte: Okay, ich geh das Projekt ganz langsam an. Vielleicht, bis die Kleine im Kindergarten ist, habe ich dann das Team zusammen. Aber das Team hatte ich schon in der ersten Nacht beieinander! Über 70 Fotografinnen und Fotografen haben sich gemeldet.

Mittlerweile fotografieren Ihre Fotoengel nicht nur schwer kranke Kinder, sondern auch Sternenbabies, also Kinder, die tot geboren wurden, oder schwer kranke Eltern.
Aus meiner eigenen Erfahrung entstand das Projekt mit den schwer kranken Kindern, dann kamen die still geborene Babies dazu, weil sich Hebammen bei uns meldeten. Oft sind sie dafür zuständig, die Babies zu fotografieren. Mit dieser schwierigen Aufgabe sind sie verständlicherweise überfordert. Es ist schwierig, in diesem Spitallicht ein schönes und würdevolles Bild von einem toten Kind zu machen. Also war es für uns klar, dass wir auch diese Einsätze übernehmen. Und dann kamen noch die kranken Eltern dazu. Die erste Anfrage erhielt ich von einer Mutter, die mir schrieb, dass sie eine schlimme Diagnose erhalten habe und vielleicht nur noch kurze Zeit leben dürfe. Sie habe zwei kleine Kinder zuhause und sie würde ihnen gern ein schönes Familienfoto hinterlassen. Ich habe grossen Respekt vor diesen Frauen und Männer, die uns schreiben. Was müssen das für starke Personen sein, die in so einer Situation so klar denken und handeln können.

Wie kommt man mit all dem Schmerz zu recht, den Sie täglich sehen?
Wichtig ist, nicht den Fokus zu verlieren und sich immer daran zu erinnern, dass man dieser Familie etwas schenkt. Ein Foto, das ihr gebrochenes Herz nicht heilen kann, das irgendwann aber vielleicht unfassbar kostbar sein wird. Man fokussiert sich darauf und nicht auf den Schmerz, den diese Familie erlebt. Nicht jede Familie wird so eine Katastrophe überstehen, das wissen wir. Wir können diese Schicksale aber nicht mittragen, wir sind einen Moment da und dann wieder weg. Das auszuhalten ist nicht einfach, aber es ist der einzige Weg, um diese Arbeit zu machen.

Trotzdem begleiten Sie manche Familien noch länger.
Ich beantworte Fragen, wenn sie mir gestellt werden, vor allem von Eltern, die ihr Kind palliativ daheim begleiten, wie wir es damals gemacht haben. Und zwar, weil ich aus eigener Erfahrung weiss, wie wichtig es ist, jemandem diese Fragen stellen zu können. Ich hatte damals kaum andere Leute, an die ich mich wenden konnte. Aber einmal traf ich eine Mutter, die ihr Kind verloren hatte. Sie sagte mir, sie plane grad eine Reise nach Amerika. Für mich war das unvorstellbar, dass man den Tod des Kindes überhaupt überleben kann. Es tat gut, dieser Frau in die Augen zu schauen und von ihr zu hören, dass man das schaffen kann. Ich kann jedoch nicht mit allen Familien in Kontakt bleiben. Ich habe meine eigene Geschichte, meine Familie, meine Arbeit.

Sie haben selbst so viel Schmerz erleiden müssen. Wäre es nicht einfacher gewesen, sich nicht noch all dem Leid anderer zu stellen?
Doch, wahrscheinlich schon. Wir bekommen per Mail tatsächlich das Leid der ganzen Schweiz mit. Ich finde das auch völlig legitim, wenn jemand sagt: Ich will mit dem Thema nichts mehr zu tun haben. Ich habe mir nach Tills Tod auch überlegt, was ich machen könnte. Ich habe gern schöne Sächeli, so Dekokram. Also dachte ich, ich könnte einen Job in so einem Einrichtungsladen annehmen und nur Schönes verkaufen. Aber es hat mich halt in eine andere Richtung gezogen. Vier Jahre lang war meine Tochter krank, dann vier Jahre Till – das war meine Ausbildung. Ich musste so vieles lernen, was ich niemals hätte lernen wollen und daraus musste ich irgendwas machen. Und vielleicht macht es ja Sinn, dass sich nicht alle Leute von diesem Thema abwenden, sondern manche sich weiter damit befassen. Mein Weg war es, Herzensbilder aus all dem zu realisieren und für die da zu sein, die diesen Albtraum, ein geliebtes Kind in den Tod begleiten zu müssen, noch vor sich haben.

Herzensbilder besteht schon seit über sechs Jahren und ist nach und nach gewachsen. Wie geht es weiter?
Finanziell ist es nicht einfach, wir bekommen ganz viele Kleinstsspenden, die wertvoll sind und die uns berühren. Wir brauchen jede Spende, damit wir unsere Ausgaben decken können. Wir versuchen überall zu sparen: Wir haben ein günstiges Lager, wir arbeiten zum grössten Teil ehrenamtlich, und dennoch haben wir einen Aufwand von rund 300 000 Franken im Jahr. Ich möchte, dass die Frauen, die ganze Tage fix arbeiten, eine Entschädigung bekommen, da sie harte Arbeit leisten, die mit viel Verantwortung verbunden ist. Und ich will auch, dass die Fotografen immerhin ihre Spesen verrechnen können und dass sie vesichert sind. Wir brauchen ausserdem Material vor Ort in den Spitälern, um die Fotos liebevoll aussehen zu lassen, Decken, Mützchen und so weiter. Wir arbeiten mit viel Herz, damit jedes Detail stimmt, und das können wir nicht mehr tun, wenn wir die Kosten noch mehr senken müssen. Ich merke, dass ich nach sechs Jahren langsam müde werde, nie zu wissen, ob die Spenden reichen werden oder nicht.

Heisst das, dass Sie darüber nachdenken, aufzuhören?
Es wäre wirklich ein super schönes Märchen, wenn irgendjemand auftauchen und sagen würde: Das ist so toll, was ihr jeden Tag macht, das will ich unterstützen. Mein Team und ich, wir hoffen jeden Tag, dass ein Millionär an die Türe klopft. (lacht) Es würde uns so viel Entspannung geben, wenn wir wüssten, dass wir die nächsten zwei Jahre finanziell abgesichert sind. Wir waren schon weit mehr als 1000 Mal ein Licht im Dunkeln für Familien in diesem Land. Wir haben uns einen so guten Ruf in den Spitälern erarbeitet und es braucht uns. Es gibt immer wieder Leute, die mir vorschlagen, wie wir effizienter arbeiten könnten. Ich will aber nicht, dass Herzensbilder eine Fabrik wird. Wir arbeiten in einer Ausnahmesituation, Effizienz ist nicht immer die beste Lösung. Ich will nicht, dass wir Herzensbilder je schliessen müssen. Ich wünschte mir einfach, dass das Projekt irgendwann auf finanziell ganz stabilen Säulen stehen darf und ich es vielleicht ein wenig loslassen könnte.

Was würden Sie dann als nächstes in Angriff nehmen?
Ich mache im Moment Ausbildung in Notfallpsychologie, und vielleicht möchte ich mich dann auch in diesem Bereich vertiefen. Ich weiss, dass es dieses Thema ist, mit dem ich mich auskenne. Wenn mir eine Mutter schreibt, dass sie zum ersten Mal einkaufen ging nach dem Tod des Kindes, dann weiss ich, wie sie sich das anfühlt.

Wie fühlt es sich an?
Ich wollte damals im Volg einkaufen und alle Menschen gingen mir aus dem Weg. Das war entsetzlich. Ich wusste, ich habe nun zwei Möglichkeiten: Entweder ich gehe ab sofort zum Einkaufen in ein anderes Dorf oder ich bin es, die auf die Leute zugehen muss. Aber dann hätte ich, die gerade ihr Kind verloren hatte, den anderen die Hand reichen und jeweils auch noch ihre Tränen trocknen müssen. Aber es war irgendwie der einzige Weg, die Erstarrheit der anderen zu brechen. Dabei wäre es so einfach.

Was kann man denn sagen in so einer Situation?
Man kann nur schon sagen: Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Als ich damals vom Volg nachhause lief, war es der Buschauffeur aus Sri Lanka, der kaum Deutsch kann, der auf der Strasse anhielt, und durchs offene Fenster sagte, dass er gehört habe, dass mein Sohn gestorben sei und ihm das sehr leid tue. Das hat gut getan. In der Schweiz fehlt noch viel in Sachen Trauerarbeit.

Zum Beispiel?
Ich bin keine Trauer-Wissenschafterin, aber ich weiss, dass es bestimmt nicht gut ist, wenn eine Lehrperson einem Kind, das grad sein Geschwisterchen verloren hat, sagt: Gell, das ist hier im Klassenzimmer kein Thema! Das erlebt man aber genau so in der Schweiz. Wenn die pädagogischen Hochschulen nur einen Nachmittag dazu aufwenden würden, mit den Studenten über Trauerfälle zu sprechen, wäre das schon viel wert. Ich würde diese Ausbildung gern übernehmen! In Deutschland gibt es ganze Häuser für Kinder, die ein Geschwisterchen verloren haben. Dort können sie spielen, reden, andere Kinder treffen, die Ähnliches erlebt haben. Wir haben nichts dergleichen in der Schweiz, wir haben noch nicht mal Kinderhospize. Aber all diese Dinge sind auch in unseren Nachbarländer nicht entstanden, weil der Staat es wollte. Es waren Leute, die die Initiative ergriffen haben. Und genau das gibt mir die Kraft zu sagen: Doch, ich mach weiter.

Kerstin Birkeland gründete 2013 den Verein herzensbilder.ch. Die Mutter von drei Kindern musste mit ihrer Familie einen grossen Schicksalsschlag erleiden. Zuerst kämpfte ihre Tochter Malin vier Jahre lang gegen eine Krankheit und dann, als Malin gerade gesund war, wurde bei ihrem Sohn Till Krebs festgestellt. Vor acht Jahren starb Till an einem Hirntumor. Nach seinem Tod merkte die Familie, dass ihr von den Jahren der Krankheit etwas Wichtiges fehlte – nämlich ein Familienfoto. Das war für Birkeland der Auslöser für Herzensbilder. Der Verein ist auf jegliche Spenden angewiesen. herzensbilder.ch

 

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