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«Sie waren wild und laut»

Leben

«Sie waren wild und laut»

  • Text: Sven Broder; Foto: GettyImages, Büttner & Devènes

Frauen sorgten 1991 für eine der grössten Protestaktionen der Schweizer Geschichte. An vorderster Front: SP-Politikerin und Feministin Christiane Brunner aus Genf.

Als die Gleichstellung von Mann und Frau 1981 in der Verfassung verankert wurde, dachten in der Schweiz viele, dass das Thema Gleichberechtigung damit erledigt und die Frauen zufriedengestellt seien. Doch weit gefehlt – «Wenn Frau will, steht alles still»: Unter diesem Motto protestierten zehn Jahre später, am 14. Juni 1991, Hunderttausende Frauen, weil der Verfassungsartikel weitgehend toter Buchstabe geblieben war. Insbesondere von gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit konnte nach wie vor nicht die Rede sein. Aber auch in vielen anderen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens waren Frauen weiterhin diskriminiert.

Die Idee zum ersten landesweiten Frauenstreik hatten ein paar Uhrenarbeiterinnen im jurassischen Vallée de Joux, die sich über die Lohnungleichheit in ihrer Branche empörten. Der Schweizer Gewerkschaftsbund war anfangs wenig angetan davon – so ein Frauenstreik war ja eigentlich kein richtiger Streik –, die Gewerkschaftsbosse liessen sich aber letztlich von den Frauen in ihren Reihen umstimmen.

Von Anfang an treibende Kraft hinter der Protestaktion war Christiane Brunner. Die Genfer Anwältin und SP-Politikerin schaffte es, Frauen unterschiedlichster Provenienz und politischer Couleur für die gemeinsame Sache zu begeistern. Und so kam, was niemand erwartet hatte – nicht Christiane Brunner selber und schon gar nicht die Männer in den helvetischen Teppichetagen –, zumindest nicht in dieser Grössenordnung: Der nationale Frauenstreiktag wurde zur grössten politischen Manifestation seit dem Generalstreik von 1918. Überall in der Schweiz legten Frauen (und einige Männer) ihre Arbeit nieder und tauchten Strassen und Plätze in ein Meer aus Pink und Lila. In Bern stürmten sie, ausgerüstet mit Trillerpfeifen und Transparenten, den abgesperrten Bundesplatz, auf dem sich nationale und internationale Prominenz aus Politik und Diplomatie an jenem Tag zu einer Feier der 700-jährigen Eidgenossenschaft versammelt hatte. In Freiburg bügelten solidarische Männer öffentlich ihre Hemden.

annabelle: Christiane Brunner, an welches Gefühl erinnern Sie sich, wenn Sie an den 14. Juni 1991 zurückdenken?
Christiane Brunner: An die Angst! Die Vorstellung, wir rufen lautstark zum Streik auf und niemand macht mit, bereitete mir regelrechte Albträume. Damals gab es ja noch kein Internet und keine Social Media, über die man die Frauen hätte mobilisieren können. Wir mussten Plakate drucken, Flyer verteilen, erklären und begeistern. Wie das alles herauskommen würde, war sehr ungewiss. Als ich dann am Abend im Fernsehen die ersten Bilder von protestierenden Frauen in der ganzen Schweiz sah, war das wunderbar. Sehr emotional!

Hatten Sie auch Angst, angesichts der mobilisierten Massen könnte die Lage irgendwo eskalieren?
Ja, vor dem Bundeshaus. Damals stand mitten auf dem Bundeshausplatz eine alte Telefonkabine. Als es aussah, als würde die Polizei demnächst mit Tränengas und Gummischrot auf die demonstrierenden Frauen losgehen, kramte ich mein Münz aus der Hosentasche und telefonierte herum. Am Ende hatte ich Bundespräsident Otto Stich am Telefon und bat ihn, unter keinen Umständen zu intervenieren. Die Frauen waren wild und laut, aber niemals aggressiv.

Am 14. Juni findet der zweite Frauenstreik statt. Wissen Sie schon, was Sie an diesem Tag tun werden?
Ich bin jetzt 72 Jahre alt und nicht mehr so gut zu Fuss unterwegs, deshalb werde ich zuhause bleiben in Genf und den Frauenstreik über das Internet mitverfolgen. Aber ich bin überzeugt: Es wird super! Die Aktivistinnen sind gut vorbereitet – und vor allem: Wir Frauen sind sichtbarer geworden, haben sowohl gesellschaftlich als auch politisch den Zeitgeist auf unserer Seite. Der Begriff Feminismus ist heute kein Schimpfwort mehr, sondern er steht für Fortschritt und mehr Gerechtigkeit. Zudem haben internationale Proteste wie die #MeToo-Bewegung den Frauen auf der ganzen Welt vor Augen geführt, welche Macht sie besitzen, wenn sie zusammenhalten.

Die politische Situation ist für Frauen in der Schweiz nicht mehr dieselbe wie 1991. In vielen gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Bereichen sind die Geschlechter einander gleichgestellt. Glauben Sie, dass der Leidensdruck trotzdem gross genug ist, um die Frauen für den Streik zu mobilisieren?
Ja, wir waren 1991 bereits wütend, dass wir Frauen auch zehn Jahre nach Einführung des entsprechenden Verfassungsartikels für die gleiche Arbeit nicht gleich viel verdienten wie die Männer. Inzwischen sind wie viele Jahre vergangen? 38? Das ist lang genug. 

In der Lohngleichheit sehen Sie also nach wie vor die Hauptforderung?
Ja, aber es geht dabei ja längst nicht nur ums Geld. Die Lohnungleichheit strahlt negativ in viele Bereiche der Gesellschaft aus und greift unmittelbar ins Leben der Bürgerinnen und Bürger ein. Sie beeinträchtigt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Altersvorsorge der Frauen und zwingt letztlich auch viele Männer in die undankbare Rolle des Alleinernährers.

Soll also auch ich als Mann streiken?
Wenn Sie durch Ihr Erscheinen am Arbeitsplatz einer Arbeitskollegin ermöglichen, am Streik teilzunehmen, gehen Sie arbeiten. Wenn nicht, streiken Sie und gehen Sie auf die Strasse. Aber laufen Sie nicht vorn mit, sondern vielleicht ein bisschen weiter hinten. (lacht)