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«Technologie veraltet, Mechanik ist ewig»

Leben

«Technologie veraltet, Mechanik ist ewig»

  • Interview: Monique Henrich; Fotos: Fabian Unternährer

Wie fit ist die Schweizer Uhrenindustrie in Zeiten von Smartwatch, Währungsunsicherheit und weltweiter Terrorangst? Wir fragten Jean-Claude Biver (67), VR-Präsident Uhren beim Luxusgüterkonzern LVMH – ein Opinionleader in der Branche.

annabelle: Gratuliere, Jean-Claude Biver, Sie sind schlank und rank und, wie Sie sagen, rund zwanzig Kilo leichter.
Jean-Claude Biver: Dankeschön. Ja, ich habe selten so viel Energie und Lebensfreude verspürt wie im Moment. Auch Vorfreude auf die Zukunft, und wenn man die spürt, dann spielt auch das Alter im Pass keine Rolle mehr.

War Ihr Coach beim Abnehmen Googlefit auf Ihrer Smartwatch?
Nein! Mein Coach waren mein Wille und meine Disziplin: Ich habe am 1. Mai gesagt: «So, jetzt höre ich auf Alkohol zu trinken.» Das hat mir niemand geglaubt.

Weil Sie als Weingeniesser und -kenner bekannt sind.
Ich liebe den Wein wirklich und habe einen grossen Weinkeller, aber jetzt versuche ich eben ohne Alkohol zu leben. Ich bin früher Marathon gelaufen, ich weiss, was Diät halten bedeutet, das habe ich intus. Was es wirklich braucht, ist Disziplin. Ich kann Ihnen sagen, das war eine Herausforderung.

Und wie fit ist die Uhrenindustrie?
Im Moment nicht so fit wie ich! Die Industrie war Ende September mit 12 Prozent im Minus. Das ist kein Drama, denn 12 Prozent weniger als im Vorjahr sind noch keine Katastrophe. Wenn die Steuern um 12 Prozent steigen oder wenn Löhne um 12 Prozent sinken, tut das weh. Der Uhrenindustrie tut es nicht genauso weh, aber es ist ein unangenehmer Zustand. Einer, der den meisten 40- bis 45-jährigen CEOs Sorgen bereitet, weil sie bis jetzt immer nur gutes Wetter hatten, weil sie jedes Jahr immer nur steigende Zahlen erlebt haben. Das hat ihnen Sicherheit und Mut gegeben und hat sie auch etwas arrogant gemacht. Ich glaube aber, dass wir im nächsten Jahr aus dieser Minusperiode rauskommen werden und es wieder aufwärtsgeht.

Arrogant, weil sie nicht an die Zukunft der Smartwatch glaubten?
Apple ist umsatzmässig zum weltweit zweitgrössten Uhrenanbieter aufgestiegen – ein Konzern, der normalerweise keine Kompetenz in der Uhrenherstellung hat.

Wurde die Smartwatch unterschätzt?
2017 wird Apple zwanzig Millionen Smartwatchs herstellen. Das heisst, der Uhr wird eine neue Rolle zuteil. Bis anhin hatte sie die Funktion der Zeitanzeige. Mit der Applewatch ist die Uhr zu einem Informationssystem geworden: Die Informatiker im Silicon Valley benutzen sie neu als Billboard, als Informationsträger. Apple hat das Handgelenk erobert und nimmt uns damit wahrscheinlich einen Teil unseres Business weg. Nicht alles, denn wir haben ja auch Argumente.

Zum Beispiel das Etikett Swiss Made, das ab Januar 2017 in Kraft tritt und nach dem ein Produkt zu mindestens 60 Prozent in der Schweiz hergestellt sein muss. Neues Erfolgsrezept oder bürokratisches Diktat für die Uhrenfirmen?
Das ist kein Diktat, sondern ein Bekenntnis, das zu 80 Prozent von der Schweizer Uhrenindustrie geteilt wird.

Warum war das so wichtig?
Wir können uns nicht erlauben, diese Bezeichnung zu benutzen, wenn sie nicht der Wahrheit entspricht. Bis anhin waren es 50, neu sind es 60 Prozent. Das ist ja schon ein erster Schritt.

Verspricht man sich damit einen höheren Vermarktungswert?
Wenn Sie eine Uhr der Top-Ten-Schweizer-Uhrenmarken kaufen, gehen Sie davon aus, dass das Produkt in der Schweiz hergestellt wurde. Die ganz starken Marken haben den Status Swiss Made, so oder so. Trotzdem müssen wir das Etikett stärken und pflegen.

Spielt das Herkunftsland in der globalisierten Welt noch eine Rolle?
Jawohl! Es spielt eine Rolle, weil das Lokale immer bedeutender wird.

Auch bei den Millennials oder bei Menschen in einem so enormen Land wie China?
Das Lokale wird je länger, je mehr an Wichtigkeit gewinnen. Wir kommen immer wieder zurück auf das Authentische, wir sehnen uns nach Tradition und Kultur. Je globaler die Welt, desto mehr wächst der Wunsch nach Individualität.

Die Stimmung in der Branche ist nervös: Die Zahlen zeigen nach unten. Es gibt Entlassungen. Was steht der Uhrenindustrie bevor?
Wie kann die Stimmung heiter sein? Wir leben in einer Welt mit teilweise korrupten Politikern, die nicht immer wie Schweizer Politiker an das Wohl des Landes denken. Wir haben Arbeitslosigkeit auch in Europa. Wir stehen in einem Kampf der Währungen: Die Länder drücken ihre Währungen nach unten, um höhere Exportzahlen vorzulegen, wir haben Terrorismus, wir haben Krieg, wir haben ein Embargo mit Russland. Wie könnte die Stimmung da fröhlich, munter und optimistisch sein? Unsere Branche leidet unter der global schlechten Stimmung, die den Leuten die Freude am Kaufen und Reisen nimmt.

Vorhin haben Sie gesagt, dass Sie an ein Ende der Minusphase glauben. Was könnte die Wende sein?
Wir werden das Syrien- und das Einwanderungsproblem lösen müssen. Wir müssen das Embargo mit Russland aufgeben, Putin muss ein Partner werden. Wir müssen mit der Türkei zusammenarbeiten. Es ist höchste Zeit, etwas zu tun für das Klima und das Meer. Ich sehe Fortschritte, und weil ich sie sehe und spüre, sage ich: Nächstes Jahr wird besser.

Sie haben in den Achtzigerjahren als Eigentümer von Blancpain neue Marketingstandards gesetzt mit dem legendären Slogan «Seit 1735 gibt es bei uns keine Quarzuhren. Es wird auch nie welche geben.»
Jawohl, der Slogan war legendär und genial.

Damals provozierten Sie gegen die Quarzuhrenflut aus Asien. Jetzt verkaufen Sie selbst – als VR-Präsident der Uhrensparte bei LVMH – die TAG Heuer Connected, Made in Germany …
Nein!

… Made in Silicon Valley …
Nein, Quatsch!

… und auch ein bisschen Made in Switzerland. Haben Sie kein Herz mehr für unsere Uhrentradition?
Wir haben das Recht, die TAG Heuer Connected Swiss Made zu nennen, weil 60 Prozent der Uhr in der Schweiz hergestellt werden.

Auch wenn der Mikroprozessorenhersteller Intel aus Deutschland anliefert?
Das Problem wäre tatsächlich Intel gewesen, aber seit dem 1. November bilden im Spezialatelier bei TAG Heuer zwölf Fachleute von Intel bis zu fünfzig Angestellte aus, um die Mikroprozessoren in La Chaux-deFonds zusammenzubauen. Ab 1. Januar wird Swiss Made auf der TAG Heuer Connected stehen. Wir haben einen Kompetenztransfer vom Silicon Valley in die Schweiz gemacht.

Das hat nicht mehr viel mit der Schweizer Uhrentradition zu tun, oder?
Mir ist beides wichtig: Tradition und Industrie. Auch die Schweizer Uhrenbranche hat diese beiden Zweige. In der Industrie werden Millionen Uhren gebaut. Angefangen mit der Swatch von Hayek. Man sagt immer, die Swatch habe die Schweizer Uhrenindustrie gerettet. Das heisst nichts anderes, als dass eine geniale 50-Franken-Quarzuhr die Industrie gerettet hat.

Wird die TAG Heuer Connected jetzt diese Rolle übernehmen?
Diese Rolle kann sie gar nicht spielen, weil es nichts zu retten gibt. Es geht uns ja allen relativ gut. Was die Tradition anbelangt: Ich kenne die heute wichtige Industrie, und ich kenne die Kunst. Die Uhrmacherkunst zeichnet sich aus durch ewige Beständigkeit. Eine Technologieuhr wird obsolet, sobald eine Innovation ansteht.

Jungen Menschen hat man geraten, sich im Uhrmachermetier auszubilden. Sollten sie jetzt ins Informatikfach wechseln?
Nein, nein, sie sollen sich weiter auf die Uhrmacherkunst konzentrieren, denn diese Kunst ist ewig. Die Millionen von mechanischen Uhren, die jedes Jahr hergestellt werden, werden Service brauchen. In zehn Jahren wird die diesjährige Produktion in den Service kommen. Wir brauchen 2026 so viele kompetente Uhrenfachleute wie heute – allein schon für den Service!

Das stellen Sie sogar mit der TAG Heuer Connected sicher.
Genau: Wir können den Zeitpunkt des Veraltens in die Ewigkeit hinauskatapultieren, indem wir in derselben Uhr nach zwei Jahren gegen Bezahlung die Technologie gegen ein mechanisches Werk austauschen. Das ist ein Wunder. Wir sind dem Ewigkeitsprinzip treu geblieben: Wir sind Schweizer, und wir sind Uhrmacher.

Werden mechanische Uhren als Statussymbol noch wichtiger?
Ja, weil wir keine Konkurrenz haben, denn die Uhr ist das beste Mittel, um Status zu zeigen, weil wir sie immer mit uns tragen. Dagegen kommen kein Auto und keine Jacht an.

Sollten sich die Schweizer Uhrenmanufakturen dann nicht besser nur noch auf das Hochpreissegment konzentrieren?
Warum? Wir wollen nicht den gleichen Fehler machen, den Hayek korrigieren musste. Als Hayek kam, war das untere Segment, der Einstiegsmarkt, den Japanern überlassen. Wir müssen die Basis der Pyramide unbedingt erhalten. Das gibt Volumen und erzeugt neue Produktivität, so können wir wieder mehr in die Kreativität investieren.

Genau diese Basis wird jedoch durch die Smartwatchs abgelöst.
Dagegen müssen wir uns wehren und Lösungen finden. Was sind die Lösungen? Die grösste Uhrengruppe der Welt (Swatch Group, Anm. d. Red.) gehört den Schweizern, und auch sie werden Lösungen in der Schublade haben. Man muss sich eher Sorgen machen um Marken, die nicht zu einer so grossen Gruppe gehören.

Warum?
Weil es viele Mittel braucht. Früher, bei Blancpain zum Beispiel, hatten wir keine Mittel, nur Kompetenz, Ideen und manuelle Geschicklichkeit. In der Technologie gibt es aber nur eine Antwort: grosse Mittel für Innovationen. Das ist ein vollkommen anderes Business. Diese Ressourcen können nur ganz grosse Konzerne zur Verfügung stellen.

Eigentlich schade, wenn alle nur noch Einheitsuhren tragen.
Nächstes Jahr produzieren wir bei TAG Heuer 100 000 Stück – viel für uns, aber lächerlich im Vergleich zu 20 Millionen Applewatchs. Unsere Kollektion wird jedoch eine schöne, echte Kollektion sein, farbig, mit Diamanten und Schweizer DNA.

Wird die Smartwatch weiterhin die Welt erobern?
Wir haben die teuerste Smartwatch der Welt mit Modellen bis zu einer halben Million Franken. Wir können uns das leisten, weil die TAG Heuer Connected keine Wegwerfuhr ist. Das ist genial. Das ist meine Antwort, aber ich weiss nicht, was die anderen kochen.

Bedeutet die Smartwatch nicht auch eine kulturelle Verarmung?
Ja, wenn man davon abhängig wird. Die ganze Technologie kann ein Vorteil sein, solange man nicht süchtig wird. Das ist eine Erziehungsaufgabe der Gesellschaft. Im Silicon Valley, wo wir jetzt eine Niederlassung haben, fordern die Eltern in den Elite-Schulen bereits ein Handy- und Computerverbot.

Sie sagten einst: «Eine handgefertigte Uhr hat eine Seele.» Wo liegt sie?
Wenn der Uhrmacher eine Schraube einsetzt, hat er positives Denken, weil er seinen Job liebt, seine Kunden liebt, seine Firma liebt, und wenn er das 70-mal macht und am Schluss Gehäuse und Glas draufsetzt, sind alle diese Liebesspuren in diesem Werk eingefangen.

Wie setzt man bei Fliessbandarbeit Liebesspuren?
Indem alles so eingerichtet wird, dass die Mitarbeitenden positive Gedanken haben können. Man muss Möglichkeiten für einen Kindergarten am Arbeitsplatz mit flexiblen Arbeitszeiten schaffen. Blumen in der Nähe des Fliessbands blühen lassen. Die Mitarbeitenden sollen in einer Atmosphäre des Respekts arbeiten können. Respekt macht Menschen glücklich. Das ist die Dimension der Uhrenseele.

Von der Pike auf

Jean-Claude Biver (67) ist gelernter Uhrmacher und studierte in Lausanne Betriebswirtschaft. 1982 erwarb der gebürtige Luxemburger für 22 000 Franken die stillgelegte Uhrenmarke Blancpain, die er zu einer der erfolgreichsten Luxusmarken der Schweiz machte. Er verkaufte die Firma an die Swatch Group, nahm Einsitz in der Konzernleitung und übernahm die Verantwortung für die Marke Omega, deren Umsatz er verdreifachte. 2004 wurde er Miteigentümer der Marke Hublot. Mit dem Verkauf von Hublot an den französischen Luxusgüterkonzern LVMH ist Jean-Claude Biver dort nun VR-Präsident Uhren und verantwortlich für die Marken Hublot, TAG Heuer und Zenith.

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«Ich glaube, dass wir im nächsten Jahr aus dieser Minusperiode herauskommen»: Jean-Claude Biver