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Ägyptische Singlefrauen fordern Selbstbestimmung

Leben

Ägyptische Singlefrauen fordern Selbstbestimmung

  • Text: Helene Aecherli; Fotos: Amélie Losier

Unverheiratete Frauen jenseits der 28 werden in Ägypten gesellschaftlich ausgegrenzt und von Konservativen zur Bedrohung der nationalen Sicherheit erklärt. Trotzdem steigt die Zahl der Singlefrauen rasant an. Die Pionierinnen unter ihnen fordern Unerhörtes: Das Recht auf Selbstbestimmung.

Bist du 19 und hast noch nicht geheiratet, solltest du dich beeilen, denn nun beginnt die Phase des Zerfalls. Bist du 25 und single, fängt man an, um dich zu trauern. Hast du mit 30 noch keinen Mann, erklärt man dich für tot.»

Heba Saad ist 33 und unverheiratet. Für eine Frau, die in den Augen vieler Ägypter seit drei Jahren als tot gilt, hält sie sich erstaunlich aufrecht. Sie sitzt kerzengrad, trägt Kopftuch und einen langen kobaltblauen Mantel. Es ist nicht so, dass Heba keinen Mann gefunden hätte, an Bewerbern mangelt es ihr als Geschäftsfrau nicht. Sie ist single, weil sie schon früh erfahren hat, dass Männer das Leben von Frauen zur Hölle machen können. «Mein Vater und mein Bruder haben immer nur zwei Dinge getan: herumgebrüllt und das Haushaltsgeld verschwendet.» Deshalb hat sie sich geschworen, unabhängig zu bleiben.

Heba produziert Männerkleider, Unterwäsche, um genau zu sein. Standardmodelle in Weiss. Sie beschäftigt elf Näherinnen, ihre Fabrik steht in Menyet Saman ’noud, einer Kleinstadt im Nildelta, 100 Kilometer nordöstlich von Kairo. Für ihren Unternehmergeist wird Heba geachtet, doch mindert er das Stigma nicht, das ihr als Unverheiratete anhaftet. Denn eine Frau, die sich der Ehe verweigert, verstösst gegen die Norm der konservativen Gesellschaft, welche Frauen erst im Rahmen der Ehe soziale Anerkennung und vor allem sexuelle Aktivität zugesteht. Nur verheiratete Frauen sind ehrbare Frauen. Wer sich dem entzieht, wird zur Aussenseiterin, zur schlechten Frau.

Die Leute behaupten, Heba habe den bösen Blick. Sie hatte eine Freundin, die in einem Supermarkt arbeitete. Als diese geheiratet hatte, hörte sie auf, mit Heba zu reden. Eine andere verbot Heba, ihr Baby zu berühren, weil sie fürchtete, sie würde ihr eigenes Unglück auf das Kind übertragen. «Das tut weh. Aber – ich habe mich daran gewöhnt. Schliesslich», fügt sie stoisch hinzu, «war es meine Entscheidung.» Traurig wird sie nur, wenn ihre Mutter ihr Schicksal still beweint und sie anfleht zu heiraten, weil Heba sonst allein sein werde, wenn sie stirbt.

Hebas Geschichte steht für ein Phänomen, das alle Regionen und sozialen Schichten Ägyptens durchdringt: die steigende Anzahl erwachsener Singlefrauen. Spinsters, Jungfern, werden sie in englischsprachigen ägyptischen Medien genannt. Schätzungen gehen von gut 8, andere gar von 12 Millionen aus – bei einer Gesamtbevölkerung von 104 Millionen sind das beachtliche Zahlen. Politiker schlagen Alarm, reden von einer sozialen Zeitbombe. Das Thema wurde sogar auf die Traktandenliste des Nationalen Sicherheitsrats gesetzt. «Wir sind mit einem Phänomen konfrontiert, das zu einem Sicherheitsproblem geworden ist, weil es die Institution und Stabilität der ägyptischen Familie bedroht», liess sich Colonel Ashraf Gamal, Mitglied des Sicherheitsrats, in der renommierten panarabischen Onlinezeitung «al-Monitor» zitieren. Zudem sieht er in der Masse der Singlefrauen einen Auslöser für sexualisierte Gewalt. Denn wo unverheiratete Frauen sind, so seine Logik, sind auch unverheiratete, sexuell frustrierte Männer. Für diese Aussagen wurde er zwar heftig kritisiert. In Ägypten stünden andere Probleme im Vordergrund: Terrorgefahr, Inflation, die Verdopplung der Lebensmittelpreise, Armut. Ein Viertel der Ägypter lebt von kaum mehr als einem Dollar pro Tag. Doch die Konservativen sind unter Druck. Sie befürchten, dass lasterhafte westliche Gepflogenheiten Einzug halten, allen voran voreheliche sexuelle Beziehungen – was dem Image, besonders aber dem Selbstverständnis der Nation als islamische Gesellschaft schaden könnte.

«Warum interessieren dich Singlefrauen?», fragt mich ein langjähriger ägyptischer Bekannter, der als Arzt in einem grossen Spital in Kairo arbeitet, kaum bin ich in Ägypten gelandet. Es ist das Ägypten im April 2018, gut zwei Wochen nachdem Präsident Abdel Fattah al-Sisi in seinem Amt bestätigt worden ist. Das generelle Misstrauen gegenüber all jenen, die sich in die internen Angelegenheiten des Landes einmischen, ist gross. Und es geht einher mit einer Atmosphäre der subversiven Unruhe, wie ich sie in Ägypten noch nie erlebt habe. Menschenrechtsaktivisten führen dies auf die repressive Politik al-Sisis zurück. Heute wird fast jeder als Terrorist verdächtigt, der von der Linie der Regierung abweicht, besonders jene, denen eine Verbindung zur Muslimbruderschaft nachgesagt wird, der Organisation des gestürzten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi. Aber auch Journalisten, Künstler, politische Aktivisten, Mitarbeiter von NGOs. Öffentliche Kritik an Regierung und Militär gilt als Hochverrat. Dies treibt viele Menschen in eine Wachsamkeit, die leicht in Verschwörungsfantasien mündet. Mein Bekannter warnt mich davor, das Thema Singlefrauen mit Passanten auf der Strasse oder gar mit Vertretern staatlicher Institutionen zu diskutieren. Als Westlerin könnte ich schnell in Verdacht geraten, im Auftrag einer dubiosen externen Macht eine der empfindlichsten Schwachstellen der Gesellschaft auszuspionieren.

Doch statt mich zu verstecken, offenbare ich mich – erkläre zu Beginn eines jeden Gesprächs unter Frauen, um das Eis zu brechen, dass auch ich single bin, mit 51 Jahren; quasi eine Schicksalsgenossin – auch wenn mein Beziehungsstatus in der Schweiz natürlich längst kein Politikum mehr ist. Vor wenigen Generationen noch war das anders; da galt Sex vor der Ehe auch hierzulande als moralisch verwerflich. Ohne Trauschein mit einem Mann zusammenzuleben, war bis in die 1970er-Jahre verboten, im Kanton Wallis gar bis 1995. Dies, ebenso wie das Beharren konservativer Kräfte auf dem Ideal der Familie und dem Ideal der Frau als Mutter, wirkt bis heute nach. Auch das erzähle ich jeweils. «Wir müssen zusammenhalten, Schwester!», hatte mir Heba Saad zum Abschied gesagt, in ihrer Stimme schwang ein Lächeln mit – aber auch ein dringlicher Unterton. Es ist ein Satz, den ich noch oft hören sollte.

Natürlich ist die Angst der ägyptischen Konservativen vor einem schleichenden «Sittenzerfall» nicht unbegründet: Allein die hohe Zahl der Singlefrauen ist ein Indiz dafür, dass sich die Gesellschaft verändert. Treibende Kraft ist die Revolution von 2011, der Arabische Frühling. Obwohl im gängigen Narrativ zur Eiszeit erstarrt, blüht er weiter und verändert das Bewusstsein besonders einer Gruppe: der Millennials. «Die Revolution ist das Beste, was uns geschehen konnte», sagt Amina Mansour. «Sie hat uns aufgerüttelt und dazu gebracht, Konventionen zu hinterfragen. Nun fordern wir die Gesellschaft heraus.» Mit dem Ziel: mehr weibliche Selbstbestimmung.

Amina ist 35 Jahre alt, als Freelancerin in der Werbebranche tätig und lebt mit ihrer geschiedenen Mutter in Maadi, einem gepflegten Mittelklassquartier fernab des smog-gesättigten Kairoer Stadtzentrums. Ich treffe sie in einem Café, abgeschirmt von Lavendelbäumen, ein paar Strassen weiter erhebt sich die Graffiti-verschmierte Mauer der Metrostation. Heirat? Ein schwieriges Konzept, Amina streicht sich etwas zu hastig die buschigen Haare aus dem Gesicht. «Wenn ich mir vorstelle: Da sind zwei Menschen, die sich ständig weiterentwickeln, per Vertrag aneinander gebunden – das verstösst doch gegen die Natur des Lebens, oder?» Natürlich sehne auch sie sich danach, geliebt zu werden. «Nur hat das nichts mit Ehe zu tun.»

In einem Land, in dem das Hymen der Frau noch immer als gesellschaftliches Sicherheitsnetz gilt, sind dies Worte, die selbst eine Frau wie Amina nur in einem liberalen, säkularen Umfeld ungestraft aussprechen kann. Heba, die Fabrikbesitzerin im konservativen Nildelta, würden diese Worte wohl in Lebensgefahr bringen. Als ich Amina frage, ob sie denn einen Freund habe, winkt sie ab. Darüber will sie dann doch nicht reden. In Ägypten sei die Familie heilig, es gebe keinen Respekt vor persönlichen Entscheidungen, sagt sie nur – und zitiert ein arabisches Sprichwort, mit dem Mädchen seit je auf die Ehe eingeschworen werden: «Der Schatten eines Mannes ist besser als der Schatten einer Wand.»

Als einer der Hauptgründe für die steigende Anzahl weiblicher Singles gilt die verbesserte Bildung. Zwar sind in Ägypten noch immer gut 26 Prozent der Frauen Analphabetinnen, doch die Ausbildungsmöglichkeiten sind insgesamt vielfältiger geworden. Dass junge Frauen ihre Heimatstadt verlassen, um in einer Grossstadt zu studieren, ist keine Seltenheit mehr. An Universitäten ziehen sie mit den Männern gleich. Und auch wenn Studien zeigen, dass es für Uni-Abgängerinnen ungleich schwieriger ist, eine Stelle zu finden als für Männer, lautet der Tenor: Frauen holen auf. Gerade bei Start-ups, im IT-Bereich, in internationalen Firmen oder Banken sind Frauen begehrt, weil ihnen eine höhere Verlässlichkeit attestiert wird. Wer hier einen Job ergattert, hat die Chance, bis zu 3000 Dollar pro Monat zu verdienen, gut das Zehnfache des ägyptischen Durchschnittseinkommens. Das betrifft zwar erst eine Speerspitze von Frauen, doch hat diese Entwicklung die individuellen Perspektiven verändert – und somit auch die Ansprüche an den künftigen Partner.

«Junge Frauen wollen nicht mehr einfach irgendwen, sondern jemanden, der ihnen mit Respekt begegnet, der liberal ist, gut aussieht und mindestens so viel Geld verdient wie sie selbst», erklärt Iman Bibars, 58 Jahre alt, Politologin und Mitbegründerin der Organisation Adew, die sozial benachteiligte Frauen fördert. Sie hat uns zur Audienz in ihr Büro eingeladen, im sechsten Stock eines dieser gesichtslosen Geschäftshäuser, von denen es in Kairo allzu viele gibt. «Doch während Frauen Gas geben, sind Männer konservativer geworden», fährt Iman Bibars fort und rückt sich in ihrem grünen Ohrensessel zurecht. «Zudem haben sie an Selbstbewusstsein verloren und trauen sich weniger an finanziell unabhängige Frauen heran. Unter dem Strich heisst das: Frauen wollen mehr, Männer was anderes.»

Mittlerweile hat sich sogar die lokale Fernsehindustrie der Singlefrauen angenommen. Letztes Jahr hatte die Serie «Seventh Neighbour» Premiere, das erste TV-Drama der arabischen Welt, das von drei Frauen produziert wurde. Die 60-teilige Serie dreht sich um sieben Menschen, die in Kairo im selben Wohnblock leben – und um die Nöte und Sehnsüchte zweier unverheirateter Frauen. Über 140-Millionen-mal wurde die Serie allein auf dem Youtube-Kanal des Senders angeschaut, was heftige Debatten darüber entfachte, wo die Grenzen dessen liegen, was im Fernsehen gezeigt werden darf. Dabei werden im realen Leben längst Dating-Apps wie Tinder oder OkCupid heruntergeladen, wie die Frauenaktivistin Iman Bibars betont. Die Euphorie darüber hält sich allerdings in Grenzen: Noch seien auf den Profilbildern weniger Konterfeis von potenziellen Ehemännern zu sehen als vielmehr Koranverse und ältere Herren mit Eheringen.

Da die Fotografin und ich keine Lust haben, auf dem Weg nach Downtown Kairo mit einem Taxifahrer über den Verkehr zu schimpfen, steigen wir in die Metro. Wir begeben uns ins Frauenabteil. Schilder, mit «Ladies» und «Gents» beschriftet, weisen schon auf den Perrons auf die entsprechenden Abteile hin. Die Geschlechtertrennung ist jedoch keineswegs sakrosankt. Frauen, die mit ihren Ehemännern unterwegs sind, oder auch Touristinnen dürfen ins Männerabteil. Umgekehrt wird ein Mann, der sich nicht als fliegender Händler ins Frauenabteil verirrt, mit bösen Blicken verscheucht. An diesem Morgen ist der Zug nicht voll besetzt, die Stimmung ist heiter. Eine tiefverschleierte Reisende liest in ihrem Taschenkoran, ihre Nachbarin drückt sich unter dem Hijab die Kopfhörer zurecht, drei junge Frauen blicken mich neugierig an. Als ich zurückblicke, winken sie mich zu sich. Mona, Nagla, Sara. Studentinnen. Ich lasse mich neben sie auf die Bank fallen, schiele auf ihre Finger: Sara trägt einen Ring. «Bist du verheiratet?», frage ich auf Arabisch. «Verlobt», antwortet sie stolz, «und du?» – «Ich bin Single.» – «Single?» Sara schaut mich überrascht an. «Ist das deine eigene Wahl?» – «Jein», entgegne ich, «manchmal entscheidet das Leben. Aber es ist gut so, wie es ist. Ich mag meine Unabhängigkeit. Sonst wäre ich vielleicht nicht hier.» Sara nickt. Als ihre Station naht, zieht sie ihr Handy hervor, wir adden einander auf Facebook. Eine halbe Stunde später erhalte ich eine Nachricht: «Hallo, ich bins, Sara von der Metro. Wann sehen wir uns wieder?»

«Single and proud of it», Single und stolz darauf, so lautet der Slogan einer Kampagne, die letzten Sommer lanciert wurde. Und zwar nicht etwa in Kairo, sondern in Mansoura, einer Stadt im Nildelta. Der Start war begleitet von einer kleinen Demonstration: 20 unverheiratete Frauen zogen durch die Strassen, Freiheitskämpferinnen in eigener Sache. Sie trugen Plakate, auf denen Sätze standen wie: «Ich bin unverheiratet und glücklich.» Viele Frauen und Mädchen, die vom Strassenrand aus zusahen, so erzählt man sich, wären gern mit den Demonstrantinnen mitgezogen – wenn sie es denn gewagt hätten.

Kopf der Initiative ist der Anwalt Reda Eldanbouki, 38 Jahre alt. Er hat sich als Vertreter von Opfern von Genitalverstümmelung und Kinderheiraten international einen Namen gemacht hat. Da seine NGO der Regierung ein Dorn im Auge ist, wird er überwacht. Wir kommunizieren via Whatsapp. Er erklärt die Sprengkraft seiner Kampagne so: «In aller Offenheit zu deklarieren, dass eine Frau das Recht hat, über ihr Leben zu bestimmen, ist wie eine neue Religion einzuführen.» Denn der Ruf nach weiblicher Selbstbestimmung fordert die toxische Mischung aus Religion und Patriarchat heraus. Ganz konkret aber zielt er auch auf den Kult um die Jungfräulichkeit ab. Wie paradox der ist, zeigt das Phänomen der Kinderehe, von der in Ägypten noch immer rund 15 Prozent der Mädchen betroffen sind, trotz des gesetzlichen Mindestheiratsalters von 18 Jahren. «Es ist okay, wenn ein Mann Sex hat mit einem Kind, solang es nur einen Ehevertrag gibt», sagt Reda Eldanbouki. «Aber es ist nicht okay, wenn eine erwachsene Frau selbst über ihren Körper bestimmen will.» Für solche Aussagen hat Reda Eldanbouki schon Morddrohungen bekommen. Doch die beeindrucken ihn wenig. Wenn Ägypten vorwärtskommen will, sagt er, müssen auch die Frauen vorwärtskommen.

Single und stolz darauf – so könnte auch Shaimaa Gabers Credo lauten, würde sie dazu angehalten, eins zu formulieren. Bis jetzt hat sie jeden Kandidaten abgewiesen, der um ihre Hand angehalten hat. Der eine war ihr zu wenig religiös, der andere in seinem Beruf nicht ambitioniert genug, ein dritter hätte ihr als Ehefrau nicht erlaubt, weiter zu arbeiten. Shaimaa ist Medienwissenschafterin, stammt aus der Agrarstadt Bani Suwaif, hat in Kairo studiert. Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich Zeitungen neben einem Laptop und einer Plastikschale mit Tomatensalat. Sie trägt ein Kopftuch, auf dem die Städtenamen London und Paris geschrieben stehen. Mit ihren 28 Jahren nähert sie sich unerbittlich ihrem vermeintlichen Verfallsdatum an. Erst wirkt sie schüchtern, verkrampft die Hände in ihrem Schoss. Doch als ich ihr erzähle, dass ich Single bin – «wie du, nur doppelt so alt» – und dass sich meine Kollegen mehr Sorgen um mein Liebesleben machen als ich selbst, lacht sie laut heraus. Dann sagt sie: «Wir müssen zusammenhalten, Schwester. Weisst du, ich mag mein Leben. Ich liebe meinen Beruf, meine kleine Wohnung. Mir fehlt eigentlich nichts.»

Shaimaa wohnt allein. Abends achtet sie peinlichst darauf, nie später als um zehn Uhr zuhause zu sein, weil der Türsteher und ihre Nachbarn sonst glauben könnten, sie hätte eine Affäre. Einen Freund zu haben – undenkbar, haram, wie sie sagt, verboten. Trotzdem: Irgendwo muss sie Männern doch begegnen? Shaimaa nickt. Bei der Arbeit, im Café, bei Freunden. Es sei banal, meint sie, aber letztendlich Schicksal.

Es gibt jedoch Tage, da hält sie die bösen Blicke fast nicht aus. Jene Blicke, die ihr zu verstehen geben, dass sie eine Versagerin ist, weil sie noch nicht geheiratet hat. Derzeit versuchen Shaimaas Cousins und Onkel, sie in ihre Heimatstadt Bani Suwaif zurückzuholen, um sie dort endlich zu verheiraten. Sie üben auch Druck auf ihre Mutter aus. Doch die stärkt ihrer Tochter den Rücken. «Die Gesellschaft verändert sich, und ich gehe mit gutem Beispiel voran», sagt sie. Ihre Hoffnung ist nicht unbegründet, das erkennt sie an den Signalen ihrer Tanten und Cousinen: Sie betrachten ihre zwar unverheiratete, aber erfolgreiche Verwandte in Kairo als das heimliche Genie der Familie. Sie akzeptieren sogar, dass Shaimaa, sollte sie dann mal Mr. Right gefunden haben, bereit ist, auf das Paket zu verzichten.

Das Paket: die Mitgift. Was einst als Rückversicherung für die Braut gedacht war, ist in Ägypten zu einem knallharten Kalkül geworden. Denn die Tradition sieht vor, dass der künftige Ehemann und seine Familie zwei Drittel der Hochzeitskosten übernehmen. Die umfassen nicht bloss die Festlichkeiten, sondern auch die Kosten für die Wohnung, für elektronische Geräte sowie für den Goldschmuck der Braut. Dreieinhalb Jahre müssen Männer in der Regel sparen, um die Hochzeit finanzieren zu können – falls sie überhaupt einen Job haben; die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 33 Prozent. Neu sollen sogar staatliche Heiratsdarlehen vergeben werden. Denn die Losung lautet: «Erst wenn er eine Wohnung und ein Auto bieten kann, ist er auch ein Ehemann. Liebe allein baut kein Zuhause.»

So verlockend es also wäre, die hohe Anzahl Singlefrauen nur mit einem neuen, emanzipatorischen Selbstverständnis der ägyptischen Frau zu erklären – es würde zu kurz greifen. Denn hinter dem Phänomen der Singles steckt auch ein handfestes finanzielles Problem: Männer können sich eine Hochzeit oft gar nicht mehr leisten. Heiratskandidaten sind rar geworden.

Shaimaa Gaber will sich die Kosten mit ihrem künftigen Ehemann teilen – «klein anfangen». Immer noch besser denn als eine jener Heiratswilligen zu enden, die jahrelang auf einen passenden Mann warten. Sie werden die unfreiwilligen Singles genannt. Shaimaa hat Freundinnen, die sich kaum mehr aus dem Haus wagen. Die sich schämen, der Familie zur Last zu fallen, und sogar bereit wären, Zweitfrau zu werden. Polygamie ist in Ägypten erlaubt, vorausgesetzt, der Mann hat genug Geld, um allen Ehefrauen denselben Lebensstandard zu bieten. Doch ist das Glück meist nur von kurzer Dauer: Schätzungsweise 70 Prozent dieser Vielehen werden geschieden.

Überhaupt hat Ägypten eine der höchsten Scheidungsraten der Welt: Bei den Paket-Ehen beträgt sie 60 Prozent. Ein möglicher Hauptgrund: der Sex. Da die meisten Paare erst nach der Heirat sexuelle Erfahrungen machen, gleichzeitig aber rasch Kinder haben, bleibt wenig Zeit, um die gemeinsame Sexualität zu entdecken und zu leben. Die sexuelle Frustration ist gross. «Viele Frauen raten mir deshalb», so Shaimaa, «mich gar nicht erst auf eine Ehe einzulassen.»

Abends, kurz nach Feierabend, verwandelt sich die Kasr-El-Nil-Brücke, die Downtown Kairo mit der Insel Gezira verbindet, zur Bühne der Sinnlichkeiten. Neben ihren Brückenköpfen liegen Partyboote verankert, die bei Sonnenuntergang ihre Lichterketten anzünden, um die Feiernden bis in die frühen Morgenstunden stromauf- und stromabwärts zu fahren, beschallt von frenetisch hämmerndem arabischem Pop. Am Brückengeländer lehnen Freundinnen, zu zweit oder zu dritt, die Köpfe eng zusammengesteckt, während junge Männer an ihnen vorbeitigern, jeden Ansatz einer anerkennenden Geste taxierend. Die Brücke, so scheint mir, ist ein Laufsteg der Begehrenden – gefangen irgendwo im sexuellen Niemandsland zwischen Ehe, Tabubruch und Enthaltsamkeit.

Wie viele von ihnen haben wohl schon Sex gehabt? Wie viele das Begehren in Arbeit oder Gebet ertränkt oder, wie mir meine verheiratete Freundin Menna erzählt, sich mit romantischen türkischen Soaps abgelenkt? Und wie viele haben eine Urfi-Ehe riskiert, wohlwissend, dass ihnen dadurch das Stigma eines «schlechten Mädchens» anhaftet? Die Urfi-Ehe ist eine inoffizielle Ehe, bei der es genügt, wenn beide ein Stück Papier unterschreiben, auf dem sie ihre Liaison bestätigen. Es ist ein Weg, vorehelichen Sex – oder Seitensprünge – halbwegs zu legitimieren. Die Urfi-Ehe ist gesetzlich nicht verboten, da sie nicht per se gegen die Religion verstösst, aber auch nicht anerkannt. Um sie einzudämmen, werden Religionsvertreter dazu angehalten, Rechtssprüche zu erlassen. Diese sollen Frauen daran erinnern, dass sie in einer Urfi-Ehe weder Rechte haben noch Ansprüche geltend machen können für Kinder, die aus einer solchen Verbindung entstehen. Der Mann, sollte ihm der Urfi-Vertrag nicht mehr behagen, kann ihn einfach zerreissen. 

Als sich Dina Almaghraby nach langem Hin und Her über Whatsapp bereit erklärt, uns zu treffen, schlage ich den Tahrir-Platz vor, den symbolträchtigsten aller Plätze. Dina hatte mir offenbart, dass die Revolution bei ihr einen Prozess ausgelöst hatte, in dem sie alles auf den Prüfstand stellte: ihre Religion, ihre Traditionen, sich selbst. Aber sie bittet mich, zu einer Filiale der Kaffeekette Costa Café zu kommen, an einer Strassenecke hinter dem Tahrir. Dort sei es unauffälliger.

Der Tahrir ist im Vergleich zu früheren Jahren geordneter. An den Kreuzungen stehen LED-Verkehrssignale, das gigantische Rondell inmitten des Platzes, einst sumpfige Zeltstätte der Demonstranten, ist mit Blumen bepflanzt, dazwischen picknicken Familien, um sie herum kurven junge Männer auf Skateboards. Es wimmelt von Polizisten, angeblich auch von Beamten in Zivil. Als ein auffallend gepflegter junger Mann an unserer Seite auftaucht, sind wir alarmiert. Doch der Junge will bloss reden, er brennt vor Neugierde: Woher kommt ihr? Hast du einen Freund? Seid ihr verheiratet? Er ist 26, sagt er, studiert Ingenieurswissenschaften. Ich drehe den Spiess um: «Bist du verheiratet?» – «Nein. Heiraten ist unmöglich.» – «Warum?» – «Kein Geld, mein Studium dauert noch drei Jahre, danach brauche ich einen Job.» – «Heirate trotzdem!» – «Das ist gegen die Tradition.» – «Dann fuck Tradition!», rutscht es aus mir heraus, und ich könnte mich sofort ohrfeigen dafür. Doch der Junge grinst. «Gute Idee», sagt er, «aber dafür müsste ich erst eine Frau finden, die bereit ist, dasselbe zu tun.»

Dina Almaghraby begrüsst uns mit der souveränen Unaufgeregtheit jener Menschen, die in ihrem Leben einen weiten Weg zurückgelegt haben; auf ihrem Oversize-Shirt prangt der Schriftzug «Only Good Vibes». Um ungestört zu sein, verziehen wir uns in ein winziges Lokal in einer ebenso winzigen Gasse. Dina bestellt einen Latte macchiato, vergisst aber, ihn zu trinken.

Dina hat Politologie studiert, ist 33, trug noch bis vor zehn Jahren Kopftuch, war verlobt. Doch dann begann sie für eine Frauenrechtsorganisation zu arbeiten, hörte Sätze wie: «Unsere Körper gehören uns, nicht unserer Familie.» Irgendwann legte sie ihr Kopftuch ab und liebte den Wind in ihren Haaren so sehr, dass sie es nie wieder überstreifte. Ihre Verlobung löste sie auf. Seit dem Tod ihres Vaters lebt sie allein. Während der Revolution stand sie mit Tausenden von Frauen auf dem Tahrir, um den Platz einzufordern, der ihr als Bürgerin zusteht. «Danach habe ich angefangen, männliche Bekannte zur Begrüssung zu umarmen.»

Dina ist eine attraktive Frau, das weiss sie. Doch sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie spürt, dass ein Mann sie attraktiv findet. Ihre Nachbarn denken, dass sie keinen Ehemann findet, weil sie spätabends ab und zu mit fremden Männern um die Häuser zieht. Dina aber geht es wie so vielen: Sie will jemanden, den sie liebt, mit dem sie endlich ihre Sexualität leben kann. Sex ohne Liebe findet sie verwerflich. Hat sie denn schon jemanden im Visier? «Meinen Cousin.»

Tage zuvor hatte ich in einem Restaurant in Downtown eine junge Frau kennengelernt, auch sie single, aus Mansoura, etwa in Dinas Alter. Sie erzählte mir, nachdem das Gespräch zuvor schon viele Wendungen genommen hatte, dass sie kürzlich mit einem Mann ein Bier trinken war, den sie auf Facebook kennengelernt hatte. Er habe sie danach im Lift geküsst. Und – sie hat es genossen. «Wunderbar!», meinte ich – und versuchte zu verbergen, wie verblüfft ich war. Ich hatte das Gefühl, endlich in den Unterbauch Ägyptens hineinzusehen. Daraufhin blickte sie mich verschwörerisch an und verriet, nachdem ich ihr hatte versprechen müssen, ihre Identität nie und niemandem zu verraten, dass sie schon mit sieben Männern geschlafen habe. Und auch wenn diese Männer, so sagte sie, nie ganz in sie eingedrungen seien, um ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, plagten sie tiefe Schuldgefühle. Vor ein paar Monaten wurde sie bei einer Razzia gezwungen, ihre Wohnung innerhalb von 24 Stunden zu räumen. Da sie Bürgerin von Kairo sei, sei sie als Alleinstehende verpflichtet, mit Verwandten zusammenzuleben. Zudem hatten die Polizisten Kondome in ihrem Badezimmerschrank gefunden. «Wozu brauchst du das?», fragten sie. «Wo ist dein Mann? Dein Vater? Dein Bruder?» In der neuen Wohnung, wieder allein, bricht sie nun jedes Mal in Panik aus, wenn die Glocke an ihrer Haustür schrillt. Trotzdem: Ein Leben ohne Sex könne sie sich nicht mehr vorstellen. Sie legte ihre Hand auf meinen Arm und fragte: «Ist das normal?»

Nun frage ich Dina sachte, wie sehr sie denn die Idee von Jungfräulichkeit präge. «Wir werden erzogen zu glauben, dass das Hymen ein Schatz ist, den wir behüten müssen.» – «Glaubst du das wirklich?» – «Natürlich nicht. Aber ich glaube, dass es einen Unterschied macht, wenn man sich die Jungfräulichkeit bewahrt.» – «Inwiefern?» – «Es zeigt, dass ich mein Begehren unter Kontrolle halten kann.» Ich entgegne nichts, erinnere mich aber an eine ägyptische Frauenrechtsaktivistin, die mir sagte: «Wir erziehen unsere Mädchen dazu, ein Doppelleben zu führen.»

Ob sie sich selbst als eine Bedrohung für die nationale Sicherheit sieht? Dina lächelt. «Vielleicht, weil ich versuche, das Leben zu führen, das ich führen will.»

Die Fotografin Amélie Losier ist mit ihrer Kamera der Frage nachgegangen, was es heute bedeutet, eine Frau in Ägypten zu sein: Sayeda. Frauen in Ägypten. Women in Egypt. Femmes d’Egypte. 2017, Verlag Nimbus. 288 S., ca. 40 Fr.

 

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