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«Morgen ist es vielleicht bereits zu spät»

Leben

«Morgen ist es vielleicht bereits zu spät»

  • Text: Ines Häfliger; Foto: Barbara Müller

Barbara Müller will sauberes Trinkwasser für Nepal und tüftelt an einem Filter, der das Grundwasser von giftigem Arsen befreit. Dafür klettert die renommierte Geologin regelmässig durchs Hochgebirge – trotz schwindendem Sehvermögen.

Als Frau mit Sehbehinderung habe sie in der Naturwissenschaft nichts verloren. Eine halbe Stunde lang zeterte der ETH-Professor, als Barbara Müller ihn 1992 für die Betreuung ihrer Dissertationsarbeit anfragte, wie sich die heute 55-Jährige erinnert. Der Professor täuschte sich. Barbara Müller ist unterdessen eine renommierte Geologin und international gefragte Expertin in Sachen Gewässerschutz – und dies, obschon die gebürtige Thurgauerin mittlerweile noch weniger sieht als damals. Barbara Müller leidet an Retinitis Pigmentosa, einer vererbten Netzhautdegeneration. Noch verfügt Barbara Müller über ein minimes Restsehvermögen – sie beschreibt es als «Röhrenblick» –, früher oder später jedoch wird sie komplett erblindet sein.

Die ersten blinden Flecken im Sehfeld tauchten bereits als Jugendliche auf. Die Ursache dafür kannte Barbara Müller damals noch nicht. Während ihrer Lehre als Schriftsetzerin – «die ich auf Drängen meiner Eltern absolvierte» – wurde ihre Sehbehinderung erstmals zum Problem, weil sie das starke Licht des Leuchtpults blendete. Da sie sich jedoch ohnehin mehr für Steine und Berge interessierte als fürs Druckhandwerk, holte sie nach dem Lehrabschluss die Matura nach und schrieb sich an der ETH ein. Fachgebiet: Rohstoffgeologie. «Mein Wissen an einen Rohstoffkonzern zu verkaufen kam für mich aber nie infrage», meint sie. Lieber hilft sie Benachteiligten.

Seit 2013 tut sie dies; im rund 7000 Kilometer entfernten Nepal. Dort gelangt vom Himalaja-Gebirge her seit Jahrzehnten hochgiftiges Arsen ins Grundwasser, das die lokale Bevölkerung krank macht. Die Einheimischen leiden überdurchschnittlich oft an Tumoren und Hautkrebs. Verschiedene Organisationen und internationale Forscherteams haben sich bereits um eine Lösung des Problems bemüht. Kanadische Wissenschafter hatten beispielsweise Filter installiert, die das Wasser vom Arsen befreien sollten. Hierfür wurde das Grundwasser an die Oberfläche gepumpt, wo es ein Sieb aus Nägeln durchlief; der Rost sollte das Arsen an sich binden. Das Prinzip ist simpel, die Umsetzung schwierig. Ratlos wandten sich die Kanadier ans ETH-Wasserinstitut Eawag. Dieses wiederum kontaktierte Barbara Müller, die Gebiet und Geologie wie kaum eine andere Wissenschafterin kennt. Seit Mitte der 1980er-Jahre zieht sie als Trekking-Touristin regelmässig durchs nepalesische Hochgebirge. «Und als Geologin drehe ich jeden Stein um – auch in den Ferien.» Daher wusste sie sofort, weshalb die Filter der Kanadier nicht funktionierten: «Das Grundwasser entspringt aus dem Hochgebirge. Dieses besteht aus Leukogranit, einem Gestein, das kaum Eisen enthält. Doch eisenhaltiges Wasser ist die Voraussetzung für die Rostbildung – und somit auch für das Funktionieren der Filter.»

Aus der einmaligen Anfrage wurde eine Berufung. Jedes Jahr zieht es Barbara Müller seither ins Land der Sherpas, um Wasser- und Gesteinsproben zu entnehmen. Ihr Ziel, damals wie heute: sauberes Trinkwasser. Momentan tüftelt sie an einem neuen Filter-Prototyp, nach dessen Vorbild kostengünstig weitere Siebe hergestellt werden können. Die Forschung finanziert sich die mittlerweile freiberufliche Geologin über Stiftungsgelder. Für eine achtwöchige Exkursion benötigt Barbara Müller jeweils rund 20 000 Franken. Damit bezahlt sie unter anderem auch ihre langjährigen nepalesischen Guides: Som Rai und Sung Chiring Rai. Sie assistieren der sehbehinderten Wissenschafterin bei den Feldarbeiten und unterstützen sie bei der Orientierung im teilweise eisigen, holprigen und steilen Gelände. Die Sherpas gehen jeweils voraus, warnen Barbara Müller vor Hindernissen, führen sie bei besonders steilen Passagen am Seil und tragen sie auch mal über einen eiskalten Bergbach. Was den Komfort anbelangt, gibt es für die Schweizerin jedoch keine Sonderbehandlung. «Abgesehen vom Satellitentelefon sind wir jeweils komplett abgeschnitten von der Aussenwelt», betont Barbara Müller. Als Toilette dient ein Loch im Boden, geschlafen wird im Zelt – selbst bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad.

Während der Trekkings im Hochgebirge beweist Barbara Müller Ausdauer. Für die Gesteinsproben wandert sie wochenlang von Hochplateau zu Hochplateau, vorbei an Pässen, die über 6000 Meter hoch sind. Ihre Fitness mag überraschen, doch von ungefähr kommt sie nicht. Trotz ihrer Sehbehinderung klettert die Geologin, fährt Velo, Ski und Snowboard. Möglich machen dies Funksignale von Assistenten – vor allem aber ihr unbändiger Wille. Wegen ihrer Krankheit in Lethargie zu versinken kommt für Barbara Müller nicht infrage. «Ich mache das, was ich noch kann. Morgen ist es vielleicht bereits zu spät.» Bereits im Juni will sie darum zurück nach Nepal und für verschiedene Gesteinsproben die beiden 6000er Mera Peak und Island Peak besteigen. Zu Fuss. Barbara Müller nennt es: «Grenzen ausloten.»

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