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Dschungelkind: Eine Begegnung mit Marina Chapman, die mit Affen lebte

Leben

Dschungelkind: Eine Begegnung mit Marina Chapman, die mit Affen lebte

  • Text: Claudia Senn, Fotos: Philipp Ebeling

Die Kolumbianerin Marina Chapman wurde als Kind im Dschungel ausgesetzt und schloss sich jahrelang einer Horde Kapuzineraffen an. Ihre Rückkehr in die Menschenwelt geriet zum Martyrium. Ein Besuch bei einer Überlebenskünstlerin.

Welches sind die frühesten Erinnerungen, die Menschen normalerweise aus ihrer Kindheit mitnehmen? Das Reiten auf den Knien der Mutter vielleicht, ein zu Weihnachten bekommenes Lieblingsspielzeug, die Ankunft des kleinen Geschwisterchens. Marina Chapman hat keine Ahnung, wie die Stimmen ihrer Eltern klangen, wo sich ihr Zuhause befand und ob sie dort glücklich war. Das Einzige, das ihr aus jener Zeit geblieben ist, ist die Erinnerung an ihre Entführung. Das etwa fünfjährige Mädchen sitzt in einem Gemüsegarten. Es erfreut sich an dem herrlichen Ploppen, mit dem es die Erbsenschoten in seiner Hand aufplatzen lässt, um an die süss schmeckenden grünen Kugeln im Inneren zu gelangen. Da nähert sich plötzlich eine schwarze Hand mit einem weissen Stück Stoff. Der beissende Gestank einer Chemikalie sticht in die Nase. Jetzt muss ich sterben, denkt das Kind noch, dann wird alles dunkel. Marina Chapman ist heute etwa 63 Jahre alt. Wann genau sie geboren wurde, weiss sie nicht. Mit ungefähr 15 Jahren wurde sie zu einem Arzt gebracht, der aufgrund des Knochenwachstums ihr Alter schätzte. Wahrscheinlich ist sie Kolumbianerin, doch auch das steht nicht mit Sicherheit fest. Entführungen seien zu jener Zeit in ihrer Heimat ein lukratives Geschäft gewesen, sagt sie. «Vier Millionen Kinder sind in derselben Zeit verschwunden wie ich. Mein Schicksal ist nichts Besonderes.»

Was auf die Entführung folgte, ist allerdings so unglaublich und einzigartig, dass Marina Chapmans Geschichte wohl bald um die Welt gehen wird: Ihre Entführer setzten sie mitten im Dschungel aus, vielleicht, weil bei den Eltern kein Lösegeld zu holen war. Die völlig auf sich allein gestellte Fünfjährige schloss sich einer Horde Kapuzineraffen an, schlief neben ihnen in Baumnestern, verständigte sich mit ihnen durch Kreischlaute, ass, was sie frassen, und lief auf allen vieren. Als sie fünf Jahre später von Wilderern entdeckt wurde, hatte sie jegliches menschliche Verhalten abgelegt. Immer wieder geistern Fälle von sogenannten Wolfskindern durch die Medien, die über Jahre im Wald lebten, ganz allein oder in der Gesellschaft von Tieren. Die meisten halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand, und den wenigen echten Wolfskindern gelingt es später kaum, den Weg in die menschliche Gesellschaft zurückzufinden. Verwirrt und hilflos vegetieren sie in psychiatrischen Kliniken dahin. Marina Chapman jedoch führt das Leben einer höchst vitalen Hausfrau. Kann ihre Geschichte tatsächlich wahr sein? Wir treffen Marina in der britischen Industriestadt Bradford, wo sie seit gut dreieinhalb Jahrzehnten lebt, gemeinsam mit ihrem Mann John, der bis zu seiner Pensionierung in einer Firma für Mikroskope und andere optische Präzisionsinstrumente tätig war.

Lausen und Klettern

Die erwachsenen Töchter Joanna und Vanessa sind längst aus dem Haus. Das Ehepaar bewohnt eines jener bescheidenen Einfamilienhäuschen, in denen auch im Sommer stets ein Feuer im Kamin brennt, um die klamme Dauerfeuchtigkeit zu vertreiben. Es ist das Heim einer ganz normalen Mittelstandsfamilie, vollgestopft mit Familienfotos, Büchern und Musikinstrumenten. Nichts deutet auf die exotische Vergangenheit der Hausherrin hin. Als Erstes fällt auf, wie winzig Marina Chapman ist: 1.44 Meter – das ist die Körpergrösse einer Elfjährigen. Eine Folge der Mangelernährung in frühen Jahren? «Vielleicht», sagt sie leichthin, als verschwende sie selbst keinen Gedanken an dieses Thema. Ihr Gang ist seltsam ungelenk. «Das liegt daran, dass ich so lange auf allen vieren gegangen bin.» Sie ist zierlich, wirkt aber so zäh wie einer dieser kenianischen Langstreckenläufer, deren sehnigen Körpern ein überraschendes Mass an Kraft innewohnt. Noch immer klettert sie bei jeder Gelegenheit auf Bäume. «Schauen Sie sich ihre Unterarme an», sagt John mit dem Stolz eines Mannes, der weiss, dass seine Frau etwas Besonderes ist, «bisher hat sie noch jeden beim Armdrücken besiegt, sogar die stärksten Bauarbeiter.» Die beiden machen einen glücklichen Eindruck, seit 36 Jahren sind sie verheiratet. «Er ist der Besonnene, und ich bin die Wilde», sagt Marina und kichert wie ein kleines Mädchen.

Ihre südamerikanische Herzlichkeit und ihr Humor wirken ansteckend, doch man ahnt auch, dass ihr unkonventionelles Wesen für manche Menschen gewöhnungsbedürftig sein dürfte. Stets sagt sie, was sie denkt, manchmal irritierend direkt. «John tut sein Bestes, um aus mir eine Lady zu machen», gesteht sie später, als das Gespräch darauf kommt, wie schmerzlich sie sich ihrer Andersartigkeit bewusst ist. «Aber ich werde es wohl nie schaffen.» Erst nachdem Marinas Töchter von zuhause ausgezogen waren, wurde ihnen bewusst, dass andere Mütter nicht mit den Worten «Kinder, ich fange euch jetzt ein Haustier!» aus dem Auto sprangen, um wenig später mit einem verängstigten Wildkaninchen zurückzukommen. Dass nur die Mitglieder ihrer Familie sich stundenlang wohlig lausten und mit schönstem Affenkreischen um Leckerbissen bettelten. «Ich bin wirklich froh, dass das Jugendamt nie bei uns vor der Tür stand», schreibt Vanessa lakonisch im Vorwort zu dem Buch, das sie gemeinsam mit ihrer Mutter über deren Kindheit verfasst hat und das nun auch auf Deutsch erhältlich ist. Ehemann John, ein Vorbild an Toleranz, wunderte sich zwar gelegentlich über die exzentrischen Gewohnheiten seiner Gattin, doch auch er wusste bis vor wenigen Jahren nicht über Marinas Kindheit im Dschungel Bescheid. «Sie sprach zwar immer wieder von Affen, doch ich begriff nicht, dass sie mit ihnen zusammengelebt hatte.»

John bereitet in der Küche Latte macchiato für die Reporterin zu, während Marina beginnt, aus ihrer Zeit im Urwald zu erzählen. Hätte sie ohne die Affen überhaupt überlebt? «Ich glaube kaum», sagt sie. Tagelang irrte sie verzweifelt und halb verhungert durch den Urwald, bevor sie auf die Kapuzineraffenhorde traf. Liebe auf den ersten Blick scheint es nicht gewesen zu sein. Die Affen – etwas kleiner als das Mädchen, schokoladenbraun, mit caramelfarbenem Bauch und buschigen grauen Ohren – schrien und zerrten an dem Eindringling herum. «Ich hatte schreckliche Angst. Doch sie waren die einzige Gesellschaft, die ich hatte.» Aus reinem Überlebenswillen beobachtete sie, welche Früchte sie pflückten, und machte es ihnen nach. Bald begann sie auch, einzelne Affenlaute nachzuahmen. «Ich wünschte mir so sehr, eine Antwort zu bekommen.» Einmal landete ein Affenjunges versehentlich auf ihrer Schulter. Als die anderen sahen, dass sie ihm nichts tat, fingen sie an, das Mädchen zu tolerieren. Gab es einen Moment, in dem das Eis endgültig gebrochen war? «Als einer der älteren Affen begann, mich zu lausen. Meine Haare waren da schon in einem schrecklichen Zustand, voller Dreck und Ungeziefer. Ich hatte es wirklich nötig.»

Einmal hatte sie sich mit einer Frucht vergiftet, die der köstlichen Tamarinde ähnelte. Da führte ein älterer Affe das sich in Krämpfen windende Mädchen zu einem Tümpel und bedeutete ihm, das schlammige Wasser zu trinken. «Ich übergab mich heftig und erholte mich danach wieder. Ohne die Hilfe dieses Affen wäre ich wohl gestorben.» Schliesslich pinkelte ihr einer der Anführer aufs Bein. Marina verstand auch das als eine Art Auszeichnung, obwohl ihr Jahre später ein Primatenexperte verriet, es könne sich dabei auch um das genaue Gegenteil gehandelt haben. Es hat etwas Bizarres, Marina von ihrer Kapuzineraffenfamilie sprechen zu hören, als wären es Freunde, zu denen vor langer Zeit der Kontakt abgebrochen ist. Vermisst sie ihre Affensippe? John kichert. «Wenn ich sie liesse, würde sie das ganze Haus mit Affen und anderem Viehzeug füllen.» Marina (peinlich berührt): «Ja, das ist mein Traum.» John: «Wenn wir im Wald spazieren gehen, rennt sie auch immer gleich mitten hinein ins Gebüsch.» Marina (lächelt entschuldigend): «Weil es so schön ist, sich darin zu verstecken, so behaglich.» Wenn sie sich entscheiden müsste, ob sie lieber ihre Familie oder die Affensippewiederfinden würde, so gäbe sie eindeutig den Affen den Vorzug. «Das ist die Wahrheit», sagt Marina Chapman, «eigentlich schrecklich, dass ich so fühle.»

Zweifler und ein Affenbaby

Immer wieder schimmert durch, dass sie sich für ihre Vergangenheit schämt. Das spricht für Marina Chapmans Glaubwürdigkeit. Würde sie nicht selbstbewusster auftreten, wenn sie eine Hochstaplerin wäre? Trotzdem hatten zahlreiche Verlage das Buchmanuskript abgelehnt aus Angst, den Lügenmärchen einer Betrügerin aufzusitzen. Auch in den Internetforen der englischen Zeitungen tobt eine heftige Kontroverse. Sämtliche grossen Blätter des Landes hatten sich auf ihre Geschichte gestürzt. Manche Reporter baten um einen Crashkurs in Affensprache, andere liessen ihre Aussagen von Primatenspezialisten und Experten für frühkindliche Traumata durchleuchten. Die Boulevardzeitung «Sun» brachte zum Fototermin ein einsames Affenbaby mit, was Marina vor Mitgefühl in Tränen ausbrechen liess. Der seriöse «Sunday Telegraph» setzte ein ganzes Rudel Reporter auf die Geschichte an, um Marina als Fälscherin zu entlarven. Vergeblich. Die Recherchen ergaben vielerlei Hinweise darauf, dass ihre Geschichte wahr ist. Sie selbst reagiert auf die Skeptiker gelassen. «Was zählt, ist, dass mir meine Familie glaubt», sagt sie. Alles, was sie an ihrem Buch verdient, geht an eine Primatenschutzorganisation und ein Strassenkinderprojekt in der Dritten Welt. «Für mich ist das ein Schloss hier», sagt sie, während sie den Blick durch ihr enges Wohnzimmer schweifen lässt, «ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.»

Mittagszeit. Das Gespräch wird in die Küche verlegt, wo Marina und John das Essen zubereiten. John hat frisches Brot gebacken und widmet sich nun den Pakoras, frittierten Gemüseküchlein, die es zur Vorspeise geben soll. Marina bereitet eine Fischsuppe zu sowie das Dessert, eine selbst gebackene Torte mit frischen Erdbeeren und Schokolade. Bald wehen köstliche Düfte durch die Küche. Marina ist in ihrem Leben keinen Tag zur Schule gegangen und hat auch keine Berufsausbildung absolviert. Trotzdem arbeitete sie als Chefköchin im Restaurant des wichtigsten Museums von Bradford, wo während eines Filmfestivals sogar Pierce Brosnan zu ihren Gästen gehörte und Richard Kiel, der Beisser aus den James-Bond-Filmen. Als sie ein Gewürz aus einem der oberen, für sie unerreichbaren Küchenschränke braucht, steigt Marina in atemberaubender Geschwindigkeit auf einen Barhocker. «Wenn Sie nicht da wären, würde sie direkt auf die Arbeitsfläche springen», sagt John, der den erstaunten Blick der Reporterin aufgefangen hat. «Den Stuhl benutzt sie nur, um Sie nicht zu erschrecken.» Marina lächelt entschuldigend. Am Tisch schlingt sie das Essen in rasendem Tempo hinunter, als könne ihr der Teller jederzeit weggenommen werden.

Das liegt nicht nur daran, dass ihr im Dschungel niemand Tischmanieren beibrachte, sondern auch daran, dass ihr Überlebenskampf nach der Rückkehr aus dem Urwald erst richtig losging. Als die beiden Wilderer sie im Wald aufgriffen, hingen ihr die Haare bereits wie ein verfilzter Umhang bis weit über den Po. Mithilfe von Haarwuchsstatistiken rechnete sie später aus, dass sie etwa fünf Jahre lang gewachsen sein mussten. Ihre Haut starrte vor Dreck, sie lief auf allen vieren und verständigte sich mit Tierlauten. Trotzdem spürte sie instinktiv, dass die Jäger, ein Mann und eine Frau, zur selben Tierart gehören mussten wie sie. Ohne Zögern ging sie mit ihnen mit. Die Jäger dankten ihr das Vertrauen, indem sie das völlig verwilderte Mädchen an ein Bordell verkauften. Während Marina von ihrer Rückkehr aus dem Dschungel erzählt, werden noch immer die Panik und die Verlorenheit spürbar, die sie damals empfunden hat. «Ich war komplett verstört», sagt sie. «Nachdem sie mich abgeschrubbt, eingekleidet und mir die Haare geschnitten hatten, sah ich zwar aus wie ein Mensch, aber ich fühlte mich den Affen zugehörig. Ich hatte keine Sprache. Ich wusste nicht, was man von mir erwartet. Am liebsten wäre ich in den Dschungel zurückgegangen.» Noch zu klein, um Freier zu bedienen, musste die etwa Zehnjährige, die nun Gloria genannt wurde, im Bordell als Haussklavin schuften.

Die Verwirrung über die völlig unbekannte Welt trieb ihr Ana-Karmen, die Chefin, mit Schlägen aus. Wie macht man eine Schranktür auf? Was ist Staub, und weshalb ist es notwendig, ihn zu entfernen? Für Marina war alles ein Rätsel. Am liebstenhockte sie in Ecken, denn die gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit. Einzig mit den im Garten weidenden Ziegen kam sie einigermassen klar. Noch immer ist Marina voller Wut über die Gewalt, die ihr die Chefin des Bordells damals angetan hat. Gemeinsam mit ihrer Tochter Vanessa und begleitet von einem Filmteam, reiste sie vor kurzem nach Kolumbien, um die Schauplätze ihrer Kindheit wiederzufinden. Zitternd vor Angst stand sie vor Ana-Karmens Tür, in einem Nest im Norden Kolumbiens. «Ich beruhigte mich erst, als mir jemand sagte, Ana-Karmen sei vor zwei Jahren gestorben.» Als sich der erste Freier für das Mädchen interessierte, ergriff es die Flucht und lebte ein paar Jahre in der nahen Stadt Cúcuta auf der Strasse. Weil es so dünn und dunkel war wie die Flasche einer beliebten kolumbianischen Malzlimonade, nannten die anderen Strassenkinder es Pony Malta. «Ich war richtig gut im Stehlen», sagt Marina nicht ohne Stolz. Besonders Frauen im Minijupe seien ein leichtes Opfer gewesen. «Ich schlich mich von hinten an sie heran und zog ihnen dann – zack – das Höschen runter, um ihren Hintern zu entblössen.

Eine eigene Identität

Panisch liessen sie ihre Einkäufe fallen, um den Slip wieder hochzuziehen. Ich brauchte mir nur noch die Taschen zu schnappen.» Marina grinst. Zermürbt vom Leben auf der Strasse, suchte die inzwischen 13-Jährige eine Stellung als Hausmädchen – und geriet erneut vom Regen in die Traufe. Sie landete in einer Familie von Kriminellen, die das Mädchen, das sie Rosalba nannten, einsperrten und als Sklavin missbrauchten. Wie ein Gespenst habe sie sich gefühlt, sagt Marina, «zur Kenntnis nahmen sie mich nur, wenn sie mich schlugen». Nun, wo sie den Kontakt zu ihren Freunden auf der Strasse verloren hatte, fühlte sie sich einsamer als je zuvor. Den Wendepunkt brachte schliesslich Maruja, eine Nachbarin mit Zivilcourage und grossem Herzen, die ihr zur Flucht verhalf und sie als Haushaltshilfe zu ihrer Tochter María nach Bogotá schickte. «Weisst du, was du brauchst?», fragte María, als sie die ausgemergelte 14-Jährige am Flughafen empfing. «Einen eigenen Namen, einen, den du dir selbst ausgesucht hast.» Inspiriert von einer kolumbianischen Schönheitskönigin, nannte sie sich fortan Luz Marina, Licht des Meeres. Der neue Name war viel mehr als ein verheissungsvoller Klang. Endlich fühlte sie sich wie ein richtiger Mensch. «Ich weiss noch, wie ich dachte: Das bin ich. Das ist meine Identität.» Kaum zu glauben, dass so viel Drama in ein einziges Leben passt.

«In Kolumbien ist das nichts Besonderes», sagt Marina noch einmal, als wolle sie auf keinen Fall mehr Aufmerksamkeit beanspruchen, als ihr gebührt. Als die Reporterin fragt, welche Spuren das Übermass an Angst und Gewalt in ihrem Leben hinterlassen hat, gibt sie sich keine Mühe, ihre Traurigkeit zu verbergen. «Ich war als Kind ein schreckliches Biest», sagt sie. «Ich konnte sehr gemein sein, weil ich so eifersüchtig war auf das, was die anderen hatten.» Noch immer sind ihr viele soziale Codes und Benimmregeln ein Rätsel. Um in Gesellschaft nicht aufzufallen, kopiert sie das Verhalten der anderen. Auch komplexe Handlungen wie Banküberweisungen oder die Bedienung der Waschmaschine lassen sie verzweifeln. «Ich fühle mich so nutzlos, wenn ich sehe, wie meine Enkel mühelos Dinge tun, zu denen ich nicht fähig bin.» Hat sie jemals Auto fahren gelernt? «Hahaha», lacht sie bitter. Jahrelang habe sie es versucht. Ohne Erfolg. Trotz all dieser Schwierigkeiten scheinen die Beziehungen zu ihrem Mann und den Töchtern intakt zu sein. Wie kann jemand, der seine gesamte Kindheit hindurch auf niemanden zählen konnte, als Erwachsene tragfähige Bindungen entwickeln? «Vielleicht gelang es mir, weil mich Maruja gerettet hat?», sagt Marina. Grenzenlos dankbar sei sie auch Marujas Tochter María, die sie später adoptierte.

Aus Bogotá kam sie nach Bradford, als sie mit 27 Jahren reiche Verwandte von María nach England begleitete, um ihnen während ihres Aufenthalts im Haushalt zu helfen. Eines Abends, bald nach ihrer Ankunft, begegnete sie in der Kirche John, der damals als Mikrobiologe im Spital arbeitete. Was war es, das sie zu ihm hinzog? Marina kichert. «Er roch so schön antiseptisch nach Krankenhaus und trug diese weisse Uniform. Da wusste ich gleich: der oder keiner.» Sechs Monate später war das Paar verheiratet. Dass Marina so gut wie gar kein Englisch sprach, schien das junge Glück nicht zu beeinträchtigen. Das Feuer im Kamin ist niedergebrannt, das Interview neigt sich dem Ende zu. Erst jetzt begreife sie wirklich, wie sehr ihre abenteuerliche Kindheit ihr Leben geprägt habe, sagt Marina nachdenklich. Vom instinktiven Verhalten der Affen habe sie vieles gelernt, das sie später auf der Strasse brauchen konnte. «Wann immer ich angegriffen wurde, habe ich zuerst zugeschlagen, bevor der andere mich schlagen konnte. Nur so hat man eine Chance zu überleben. Man wird hart. Ich bin ein harter Mensch.» «Du musst jetzt nicht mehr kämpfen, Sweetie», sagt John. Die Erleichterung darüber lässt ihr Gesicht für einen Moment aussehen wie das eines jungen Mädchens.

Mehr dazu

Marina Chapman, mit Vanessa James und Lynne Barrett-Lee: Das Mädchen, das aus dem Dschungel kam. Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld, Rowohlt Polaris, Reinbek 2013, 288 S., ca. 22 Fr.

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