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Kolumne aus New York: Mister Greenberg und die verschwundene Schildkröte

Leben

Kolumne aus New York: Mister Greenberg und die verschwundene Schildkröte

  • Illustration: Antony Hare

Bruno Ziauddin (48) ist stellvertretender Chefredaktor der annabelle und Buchautor. Er verbringt mit seiner Familie ein Jahr in New York.

Mein New York lässt sich mühelos zu Fuss durchqueren. Von Osten nach Westen misst es 1.8 Kilometer, das ist die Strecke vom Berner Marzilibad zum Bärengraben. Oder in meinem Fall: vom Ententeich am nordwestlichen Ende des Central Park über den Broadway, die wichtigste, aber gewiss nicht schönste Strasse der Stadt, zum Spielplatz mit der quietschenden Hängebrücke am Hudson, dem unterschätzten Hausfluss von New York.

Der Ententeich ist fixer Bestandteil des Sonntagsspaziergangs mit meinem zweieinhalbjährigen Sohn. Je nach Laune will er die Enten streicheln, füttern oder jagen. Wobei unklar ist, ob er weiss, was Jagen bedeutet. Seit mehreren Wochen wartet er zudem auf die Schildkröte, die wir im Spätherbst durchs trübe Wasser paddeln sahen. Manchmal schimpft er, weil sein Vater nicht fähig ist, die Schildkröte zum Auftauchen zu bewegen. Manchmal beschliesst er, dass jetzt fertig ist mit Central Park und er SOFORT zu besagtem «Giigsi»-Spielplatz am Ufer des Hudson muss. Das macht dann: 0.8 Kilometer von zuhause bis zum Ententeich plus 1.8 Kilometer zum Spielplatz plus 1 Kilometer wieder heim. Und alles mit einem lottrigen Buggy. Ziemlich viel Fitnessprogramm für einen Sonntagmorgen.

Von Norden nach Süden misst mein New York 3 Kilometer, die Distanz zwischen Basler Zolli und Badischem Bahnhof. Es beginnt bei der Columbia University, wo meine kluge Frau an ihrer Habilitation arbeitet. Fach: Kulturgeschichte; Thema: Atombunker im Kalten Krieg. Viel mehr habe ich nicht begriffen. Von der Universität, die sich über mehrere Blocks erstreckt und eine Art Kleinstadt mit Studentenunterkünften, Supermärkten und motorisiertem Sicherheitsdienst ist, geht es die Amsterdam Avenue hinunter zum Hungarian Pastry Shop. Das ist ein grossartiges Café mit einer linientechnisch verheerenden Auswahl an Süssigkeiten. Man kennt mich dort mit Namen (was in Amerika bedeutet: mit Vornamen), weil ich mich jeden Morgen an ein wackliges Holztischchen setze, um an einem Buch zu schreiben (Sparte: Roman; Thema: geheim).

Zweimal die Woche verlasse ich mein Stammcafé etwas früher. Vorbei an hawaiianischen Restaurants, kubanischen Coiffeursalons und koscheren Supermärkten gehe ich bis zur 78. Strasse, dem südlichen Ende meines New Yorks. Dort befindet sich das Gym, in dem ich meinen morschen Rücken stärke. Der Besitzer, ein feuriger Typ mit rötlichem Vollbart und eindrücklichem Bizeps, ist eine Mischung aus Hippie und Elitesoldat. Auch die Kundschaft ist interessant. Neulich teilte ich die winzige Umkleidekabine mit Mister Greenberg, einem dürren Männchen, das, während wir uns in Unterhosen aneinander vorbeizwängten, einen gepflegten Smalltalk in Gang hielt. Später stellte sich heraus, dass Mister Greenberg CEO des weltgrössten Versicherungskonzerns AIG war. Er ist 88 und trainiert dreimal pro Woche beim Elite-Hippie.

Auf dem Nachhauseweg hole ich meinen Sohn von der Krippe ab. Turnzeug, Laptop, lottriger Buggy und ein Duracell-Bub, der möglichst rasch heim zu seiner Brio-Bahn will: Nun ist der Moment gekommen, da ich doch noch froh um die Metro bin. Vor dem Zubettgehen wird aus dem Spielzimmer das allgemeine Schlafzimmer. Unsere 1.5-Zimmer-Wohnung misst weniger als fünfzig Quadratmeter. Vieles in New York ist grösser. Aber nicht alles.

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