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Lady gaga: Yvonne Eisenring über seltsame Spleens und Macken

Leben

Lady gaga: Yvonne Eisenring über seltsame Spleens und Macken

  • Text: Yvonne Eisenring, Foto: Yves Bachmann

Unsere Autorin bestreicht ihre Brote immer halb-halb; halb mit Butter, halb mit Konfi. Das ist nur eine von vielen Macken. Ist das normal?

Können Sie einschlafen, wenn Ihre Füsse unter der Decke hervorlugen? Echt? Mir käme das nicht in den Sinn. Es könnte ja jemand kommen und sie abhacken. Auch im Sommer bleiben sie zugedeckt. Dann wird es zwar ungemütlich heiss, aber das ist immer noch besser, als ohne Füsse aufzuwachen. Ich kann auch nur schlafen, wenn das Fenster offen steht. Nicht sperrangelweit offen, nur einen Spaltbreit. Wegen der Sauerstoffzufuhr. Ich will doch keine Angst haben müssen, dass mir plötzlich der Sauerstoff ausgeht. Mitten in der Nacht. Ohne dass ich es merke!

Ich habe mir nie überlegt, dass das ein bisschen gaga ist. Ich dachte, das sei völlig normal. Also, ich meine, ich bin normal. Ehrlich. Gut-normal. Unkompliziert, locker. Vergessen Sie das nicht. Aber ja, wenn ich es mir genau überlege, ist es unsinnig, mich unter der Decke zu verkriechen und das Fenster offen zu lassen, nur weil ich denke, dass ich sonst ersticke oder dass meine Füsse abgehackt werden. Aber ich mache das einfach so, schon immer. Ich stelle auch seit eh und je die Joghurts ins zweitoberste Kühlschrankfach, die Butter ins oberste, den Käse in die Tür. Macht es mein Freund aus Versehen anders, räum ich es um. Nicht dass ich besonders ordentlich bin – mein Kleiderschrank gleicht einem Wühltisch, und mein Pult ist mit Papierschnipseln und Zeitungen tapeziert –, aber im Kühlschrank habe ich gern den Überblick. Ich bestreiche meine Butterbrote auch immer halb-halb. Halb mit Konfi, halb nur mit Butter; weil die Konfi macht den ganzen Butterbrotgeschmack kaputt, aber nur Butter wär auch langweilig. Ich esse zwar selten nur ein Brötli, aber was, wenn ich nach einem plötzlich keinen Hunger mehr hab und bis dann nur ein langweiliges Konfi- respektive Butterbrot gegessen habe? Und sehe ich jemanden Pommes frites essen, überlege ich immer, wie er reagieren würde, wenn ich ihm im Vorbeilaufen eines wegnähme. Ich berühre auch jedes Mal die Flugzeugwand beim Einsteigen. So verhindere ich, dass wir abstürzen. Sitze ich dann an meinem Platz, überlege ich, wer bei einem Flugzeugabsturz Ruhe bewahren würde und wer in Ohnmacht fiele. Meine Vertrauenspersonen präge ich mir dann ein. Einfach für den Fall, dass meine Safety-Berührung beim Einsteigen nichts genützt hat.

Ist das eigenartig? Es ist, oder? Ja, es ist. Gopf! Und ich dachte immer, dass ich so normal bin. Ich wollte aufgemuntert werden. Wollte wissen, dass alle so sind, dass alle Spleens haben. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Also fragte ich jeden, der mir begegnete, nach seinen Macken. Familie, Freunde, Arbeitskollegen. Wirkte zwar schräg, aber darauf kam es auch nicht mehr an. Meine Ausbeute war klein, aber fürs Erste schon mal genugtuend: Meine Schwester sortiert die Müsterli in Hotelbadezimmern. Die kleinen Shampoos in eine Reihe, die Duschgels, die Mini-Nagelfeilen, alles muss symmetrisch liegen. Meine Mutter ordnet Weihnachtsguetsli. Die Brunsli auf eine Seite der Box, die Mailänderli auf die andere. Verirrt sich einmal ein Brunsli zu den Mailänderli, wird es sofort in seine Schranken verwiesen. Mein Freund trinkt keine Milch, die länger als zwei Tage geöffnet ist. Ein Freund schaut jedes Mal in den Kühlschrank, wenn er Zähne putzt, und kann nur rückwärts Zug fahren. Ein Arbeitskollege addiert die Zahlen auf Autoschildern. Ein anderer stellt seinen Wecker nie auf eine gerade Uhrzeit.

Ein Blog voller Spleens

Und dann gibt es noch Leute, die immer, wenn sie eine Dose Erdnüsse essen, als Erstes die halben herausnehmen. Und wenn einer mitisst und wahllos herauspickt, flippen sie aus. Und einige können kein Brot halbieren, weil es ihnen leidtut. Andere zupfen Haare von den Jacken der Menschen, die ihnen begegnen. Ganz egal, wo sie sind, und egal, ob sie die Person kennen oder nicht. Warum ich das alles weiss? Dank dem gutmütigen World Wide Web, genauer gesagt, dank dem Blog Spleen24. Anders als wenn man eine Krankheit googelt und nach der Recherche so gut wie tot ist, ist die Suche nach kleinen Zwangsstörungen sehr beruhigend. Andere spinnen auch. Das gefällt mir. Das gefällt auch vielen anderen. Der Blog Spleen24.tumblr.com wurde im Januar gegründet und hatte innert kürzester Zeit eine riesige Fangemeinde. Jeden Tag kommen neue Spleens dazu, es sind schon mehrere Tausend. Wer die gleiche Marotte wie der anonyme Urheber hat, drückt den «Ich auch!»-Button. Der Spleen mit dem grössten Wiedererkennungseffekt ist dieser: «Beim Einkaufen greife ich nie nach der ersten Packung im Regal. Es muss mindestens die zweite sein.» 1845 Personen haben «Ich auch!» gedrückt. Fast so viele Personen, nämlich 1623, müssen ihren Schlüssel schon mehrere Meter vor der Haustür aus der Tasche nehmen und so lange festhalten, bis sie bei der Tür ankommen. Andere Macken sind bizarrer. Sechs Personen trinken Tee, indem sie den Teebeutel aussaugen – das tun sie so lange, bis die Tasse leer ist. 13 Menschen müssen beim Anblick von Handtüchern daran denken reinzubeissen. Und es gibt eine Person, die manchmal in den Garten «kacken geht», damit potenzielle Einbrecher denken, sie hätte einen grossen Hund. Okay, vielleicht hat dieser User eher eine blühende Fantasie als einen Spleen. Aber diesen – mein Favorit – glaube ich gern: «Wenn ich eine Spinne mit dem Staubsauger aufsauge, muss ich danach immer einen kleinen harten Gegenstand aufsaugen.

Meistens lege ich mir im Vorfeld schon ein 5-Cent-Stück bereit. Erst wenn ich das Geldstück im Staubsaugerrohr klimpern höre, bin ich beruhigt, dass die Spinne auch wirklich tot ist. Das Geld erschlägt sie ja.» Ich könnte Zeile um Zeile mit all den Spleens füllen. Der Blog macht süchtig. Zu lesen, was andere für Macken haben, ist sehr beruhigend. Wobei, wenn die Person hinter diesem Eintrag keinen Spleen, sondern eine Tatsache beschreibt, bin ich nicht mehr ganz so beruhigt: «Wenn ich hier einen Spleen lese, habe ich sofort Angst, dass ich den Spleen auch bekomme.» Stimmt das? Sind Spleens vielleicht ansteckend? Sind sie bösartig? Also, muss ich befürchten, dass ein kleiner Spleen irgendwann zu einer grossen Zwangsstörung wird, wenn ich ihn nicht bekämpfe? Ich brauche Antworten, richtige. Ein ärztliches Rezept quasi, keine digitalen Beruhigungspillen mehr von anderen Verrückten.

Professor Michael Rufer ist am Apparat. Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich. Herr Rufer, Sie können ehrlich sein, wie schlimm steht es um mich? Füsse unter der Decke, Kühlschrankordnung, halb-halb bestrichene Brötchen, Pommes-frites-stibitz-Gedanken, da kommt einiges zusammen, muss ich mir Sorgen machen? Was denken Sie, machen Sie sich Sorgen?, fragt er. Das ist ja mal ein Arzt, lässt einen die ganze Arbeit selber machen. Nun, nein, ich mache mir eigentlich keine Sorgen, ich lebe ja gut damit. Aber bin ich nicht vielleicht die falsche Person für eine Einschätzung? Ob sich mein Umfeld Sorgen mache, fragt er. Nein, eigentlich auch nicht. Dann ist ja alles gut. Die persönliche Bewertung sei entscheidend. Wenn ich nicht unter meinen Macken leide, müsse ich auch nichts ändern. Auch unsinnige Gedanken sind normal. Die haben neunzig Prozent der Menschen. Und über die Hälfte hat ausgewachsene Spleens. Mit richtigen Zwangsstörungen sind sie aber nicht zu vergleichen. Daran leiden nur zwei Prozent der Bevölkerung. Der Klassiker bei Frauen: Wasch- und Reinigungszwänge. Ununterbrochen den Boden schrubben, hundertmal die Hände waschen. Bei Männern sind es eher Kontrollzwänge. Mehrmals umkehren und schauen, ob der Herd abgestellt ist. Das ist ja in gewisser Hinsicht nachvollziehbar, es gibt aber auch absurde Zwänge. Jemand musste immer viermal das Licht ein- und ausschalten, weil er sonst befürchtete, dass einem Onkel etwas zustösst. Aber eben, das gehöre in die Sparte Zwangsstörungen, die behandelt werden müssen. Das sei ein anderes Thema. Macken hingegen seien ja auch sympathisch. Die müsse man nicht behandeln. Schön und gut, aber was, wenn ich meine Spleens laufen lasse und sie sich zu schlimmen Zwangsstörungen auswachsen? Kann nicht passieren. Um eine Zwangsstörung zu entwickeln, muss mehr zusammenkommen. Komische Angewohnheiten allein reichen nicht. Okay. Und darf ich weiter auf dem Spleens-Blog surfen, oder muss ich dann befürchten, dass ich mir noch mehr Macken aneigne? Rufer lacht. Ich deute es als Nein. Zum Glück. Wenn ich mich durch die Einträge auf Spleen24 klicke, fange ich nämlich wieder an zu glauben, was ich ursprünglich dachte: Ich bin normal. Also gut-normal. Habe ich das schon erwähnt?

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