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Nicht-Binarität: Warum wir neue Höflichkeitsformen lernen müssen

LGBTQIA+

Nicht-Binarität: Warum wir neue Höflichkeitsformen lernen müssen

Unsere stellvertretende Chefredaktorin Kerstin Hasse sagt jetzt «hen» statt «er» oder «sie». Während in Schweden schon lange ein geschlechtsneutrales Pronomen existiert, weiss man hierzulande noch nicht viel über Non-Binarität, geschweige denn, wie man damit umgeht.

Paris, diesen Sommer. Ich sass in einer Brasserie mit meinem Freund. Er entschuldigte sich. Und als er von der Toilette zurückkam, bemerkte ich, wie eine Gruppe Jugendlicher zu uns schaute und sich amüsierte. Mein Freund klärte mich auf: Er stand unten vor den Toiletten und versuchte herauszufinden, welche Tür er wählen sollte. Ich selbst hatte an diesem Abend schon das gleiche Problem gehabt. Irgendwann jedoch knackte ich den Code: Auf den zwei roten Türen in diesem schummrigen Soussol klebten mit ebenfalls roter Folie die Umrisse von Unterhosen – die eine mit Rüschen verziert. Während mein Freund noch rätselte, trat aus der einen Türe eine Person, die er nicht lesen konnte. Das alles verwirrte ihn sehr – und das sah man ihm anscheinend an.

Sprach schafft Realität

Die Person, die ihm gegenüberstand und die später neben uns sein verdutztes Gesicht nachahmte, würde ich als non-binär bezeichnen. Also als eine Person, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet fühlt. Wobei diese Vermutung eigentlich bereits unkorrekt ist, denn das Äussere kann auf Non-Binarität hinweisen, muss aber nicht. Mein Freund jedenfalls sass mir nun ganz niedergeschlagen gegenüber. «Jetzt bin ich der alte, weisse Mann», brummte er. Er hätte sich gern entschuldigt, aber unser Französisch ist leider zu schlecht.

Wir diskutieren daraufhin mit Freundinnen darüber. Und mich überraschte, dass selbst in meiner vermeintlich liberalen und progressiven Hipster-Blase viele Leute sehr wenig über Non-Binarität wissen, geschweige denn verstehen, damit umzugehen. Ich wurde dazu erzogen, Erwachsene mit der Höflichkeitsform anzusprechen und nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen. Irgendwann kamen noch andere No-Gos dazu, etwa, dass es alles andere als cool ist, «schwul» als Schimpfwort zu benutzen. Die Umgangsformen mit non-binären Personen aber fehlen – nicht nur meiner Generation, sondern eigentlich allen ausser der Gen Z, die sich bereits in Videos auf Tiktok mit diesem Thema auseinandersetzt. Es ist ja nicht so, dass man sich über das Thema Non-Binarität nicht weiterbilden könnte, ganz im Gegenteil. Die meisten Leute sind dazu aber noch nicht bereit. Dass man etwa auf Pronomen verzichtet und diese durch einen Namen – oder durch ein Ersatzpronomen wie das englische they/them – ersetzt, ist eigentlich einfach. Aber es sorgt anfangs für Verwirrung. Man lacht, man rollt mit den Augen. Muss das sein? Ist das nicht ein bisschen arg sensibel? Nein, ist es nicht. Denn wie immer – der Schokokuss lässt grüssen – ist hier die Sprache entscheidend, sie schafft Realität.

Eine neue Art der Höflichkeitsform

Schweden hat bereits 2015 das Pronomen «hen» ins Wörterbuch aufgenommen – als Ergänzung zu «han» für «er» und «hon» für «sie». Die Schweiz ist von so einem Schritt noch meilenweit entfernt. Auch hier benutzen deshalb manche das schwedische «hen» – auch ich versuche, es in meinen Wortschatz zu integrieren. Ob ich manchmal darüber stolpere? Klar. Aber das ging mir mit dem höflichen «Sie» als Kind nicht anders – und eine geschlechtsneutrale Anrede ist ja eigentlich nur eine neue Art der Höflichkeitsform.

TV-TIpp zum Thema: Am 2. November, um 23:10 Uhr, wird auf 3Sat der Film «Ab 18! – Being Sascha» ausgestrahlt. Weitere Informationen gibt es hier