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Das Puff in meiner Wohnung

Leben

Das Puff in meiner Wohnung

  • Text: Leandra Nef

Christine Zeller hatte sich lange darauf gefreut: Vier Monate Südamerika, vier Monate Abenteuer. Abenteuerlich ging es dann aber vor allem zuhause in Zürich zu, wo ihre untervermietete Wohnung zum Bordell umfunktioniert wurde.

Es war ein kalter, verregneter Tag in Potosí, im Süden Zentralboliviens. Nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit, es war Anfang Februar, und doch schien Christine Zeller dieser Donnerstag besonders düster. Als hätte sie geahnt, was noch passieren sollte. Die Kommunikationsplanerin war vor einem Monat zu ihrem grossen Abenteuer aufgebrochen. Vier Monate Südamerika: Argentinien, Patagonien, Nordchile, Atacamawüste, Bolivien, Peru, Osterinsel. Raus aus Zürich, wo sie seit acht Jahren lebte und arbeitete. Eine Auszeit, nur für sie. Viel Wandern. Und weil es ein kalter und verregneter Tag war, checkte sie nicht in ein günstiges Hostel ein, sondern in ein Hotel. Für einmal entspannt im eigenen Zimmer duschen. Für einmal eine stabile Internetverbindung.

Christine lag auf dem Bett und scrollte sorglos durch ihr E-Mail-Postfach, als sie die Nachricht entdeckte. Der Absender: Stadtpolizei Zürich. An den Betreff kann sich die 30-Jährige nicht mehr erinnern. Sie sah nur Fragen. Zu viele Fragen. Ohne das Mail genauer zu lesen, rief Christine bei der Stadtpolizei an.

«Frau Zeller, Ihre Wohnung wird als Bordell benutzt.» Bitte was? Sie dachte, sie hätte sich verhört. Ob das ein Verdacht sei, fragte sie. «Nein, bewiesen.» Der Polizist am anderen Ende der Leitung hatte die Wohnung selbst kontrolliert. 120 Franken für dreissig Minuten würden die Prostituierten verlangen, ein branchenüblicher Preis. Christine war fassungslos. Die beiden vereinbarten, am nächsten Tag nochmal zu telefonieren, wenn sie ihre Gedanken etwas geordnet hatte. Zum Abschied mahnte der Polizist: «Frau Zeller, nehmen Sie sich einen Anwalt.»

Da sass sie nun, 10 500 Kilometer entfernt von ihrer schmucken Zweizimmerwohnung, – und weinte. Ihre Wohnung? Ein Bordell? Christine hatte sie für die Zeit ihrer Reise extra über eine Agentur untervermieten lassen, damit sie sich nicht um die Formalitäten kümmern musste. Die Agentur war seriös, hatte mehrfach zwielichtige Bewerber abgelehnt. Aber Frau W., so schien es, war eine Nette. Eine, der man gerne seine Wohnung anvertraut. Die die Pflanzen giesst und die Nachbarn grüsst. Dass Frau W. wohl nur als Mittelsfrau diente und die Wohnung einem Mann überliess, der für seine dubiosen Machenschaften bereits stadtbekannt war, fand Christine erst heraus, als es längst zu spät war.

Allein im Raum Zürich soll ein Mann namens Heiko S. – weil die Boulevardpresse Alliterationen so mag, nennt sie ihn nur «Huren-Heiko» – rund zwanzig Wohnungen zu temporären Bordellen umfunktioniert haben. Gut möglich also, dass dieser Heiko auch hinter ihrem Fall steckte. Auf Anfrage bestätigen darf es die Polizei wegen des Amtsgeheimnisses nicht. Sie erklärte lediglich: In der Stadt Zürich sind diverse Fälle bekannt, in denen untervermietete Wohnungen als Bordell zweckentfremdet wurden, Tendenz in den letzten Jahren steigend.

In Bolivien verbrachte Christine die nächsten Tage anstatt mit Wandern damit, abwechslungsweise mit der Polizei, der Agentur, dem Anwalt und ihrer Verwaltung zu telefonieren. Letztere hatte sie vor ihrer Abreise ordnungsgemäss über die Untervermietung informiert.

Die Lage war verzwickt, das Mietrecht in der Schweiz klar: Ein Untermietvertrag ist im Grundsatz ein gewöhnlicher Mietvertrag. Die Kündigungsfrist beträgt auch hier mindestens drei Monate. Eine fristlose Kündigung sieht das Gesetz nur in krassen Ausnahmefällen vor – wenn der Untermieter zum Beispiel vorsätzlich Feuer legt. Auch der Stadtpolizei waren die Hände gebunden: Sie kann zwar Bussen aussprechen, etwa wegen Betreibens eines Bordells ohne polizeiliche Bewilligung, das Mietverhältnis auflösen kann sie jedoch nicht. Das ist eine zivilrechtliche Angelegenheit, keine strafrechtliche.

Christine musste also selber aktiv werden. Wenn auch aus der Ferne – und über ihren Anwalt: Dieser drohte Frau W. zunächst mit der ausserordentlichen Auflösung des Mietvertrags, ehe er ihr im Februar auf Ende des darauffolgenden Monats tatsächlich kündigte. W. aber dachte gar nicht daran, vorzeitig auszuziehen, und machte von ihrem Recht Gebrauch, gegen die Kündigung vorzugehen. So erhielt Christine Ende März eine Vorladung von der Schlichtungsbehörde des Bezirksgerichts Zürich. Verhandlungstermin: der 9. Mai 2018. Ein Witz, dachte Christine im fernen Südamerika – an diesem Datum würde sie schon zurück in Zürich und die reguläre Laufzeit des Untermietvertrags mit Frau W. seit drei Wochen abgelaufen sein. Sie musste das Treiben in ihrer Wohnung also ohnmächtig erdulden. Selbst wenn sie sofort nachhause geflogen wäre, hätte sie nichts ausrichten können. Das Betreten ihrer eigenen Wohnung wäre Hausfriedensbruch gewesen.

Unterdessen war Christine beim Titicacasee an der Grenze zu Peru angelangt. Er kam ihr fast so weit vor wie ein Meer, und als ihr Blick über das tiefblaue Wasser schweifte, entschied sie, sich ihre Reise von den Geschehnissen zuhause nicht verderben zu lassen. Sie liess ihre Verzweiflung in Bolivien, ein Land, das wohl auch deswegen nie ihr Lieblingsland werden sollte, und zog weiter nach Peru. Wenn Christine schon nichts tun konnte, wollte sie wenigstens Machu Picchu sehen. Sie begann, ihre Reise wieder zu geniessen.

Währenddessen in Zürich: Das rege Kommen und Gehen in Christines Wohnung blieb nicht lang unbemerkt. Die Wohngemeinschaft gegenüber wunderte sich über das ständige Läuten der Türglocke, von morgens um elf bis abends um elf. Und spätestens, als eine Frau im kurzen Bademantel und hohen Stilettos mit dem Lift ins Parterre fuhr, um einen Mann abzuholen, war alles klar. Rund 10 bis 15 Freier seien pro Tag vorbeigekommen, «hübsche Männer», wie Christines 85-jährige Nachbarin später meinte: «Die hätten Ihnen gefallen.» Jeder Couleur und jeden Alters seien sie gewesen, einer sei sogar schon am Stock gegangen. Und immer hätten «wahnsinnig teure Chläpf» vor dem Haus parkiert.

Zwei Zimmer hat Christines Wohnung, bis zu vier Frauen sollen darin gleichzeitig ihre Dienste angeboten haben. Zu Beginn seien es sehr junge Frauen gewesen, nicht älter als zwanzig, aus Bulgarien. Später hätten Brasilianerinnen hier angeschafft, etwas älter, vielleicht dreissig. Diese Frauen wussten vermutlich nicht, dass sie sich gegen Christines Willen in deren Wohnung aufhielten. Sie sprachen kaum Deutsch. Sie hätten sie trotzdem nicht so zurichten müssen.

Der letzte Ort auf Christines Reise war Rapa Nui, die Osterinsel. Ein klitzekleiner Fleck Land mitten im endlosen Pazifik. Christine war überwältigt vom Kulturerbe, das die Vorfahren der jetzigen Einwohner auf diesem isolierten Eiland zurückgelassen hatten, allem voran natürlich von den kolossalen Steinstatuen. Überwältigt war sie auch kurze Zeit später, zurück in der Schweiz, und zwar vom Anblick ihrer Wohnung. Die sah aus, als hätte jemand alle Möbel in einen Topf geworfen und einmal kräftig durchgeschüttelt. Wie zwei Monate WG-Party ohne Putzen. Pures Chaos. Und weil Christine nach ihrer Reise kein Geld mehr hatte, um ein Putzinstitut zu engagieren, musste sie selber ran.

Sieben Tage lang hat sie aufgeräumt, geputzt und desinfiziert. Sie fischte verkohlte Pommes frites aus dem Backofen, Zigarettenstummel aus den Blumenvasen, Kondome aus den Küchenschubladen. Sie nahm den Boden viermal feucht auf. Auch beim vierten Mal war der Lappen noch schwarz. Sie entfernte Lippenstiftspuren von den unmöglichsten Stellen, fand haufenweise Schmerzmittel und die Brille eines Freiers. Entsorgte Hundefutter, Bodylotion, Strapse, die Tücher, mit denen die Prostituierten die Zimmer abgedunkelt hatten, und die Wodkaf laschen, die sie leergetrunken hatten. Unzählige 110-Liter-Abfallsäcke hat Christine entsorgt.

Der Parkettboden hatte Brandlöcher, genau wie die Leinenvorhänge. Das Türschloss war mutwillig beschädigt worden, der Vitra-Panton-Chair von 1960 und die Nähmaschine auch. Sie haben Christine die Musikboxen, zwei Freitag-Taschen, Badetücher, die Glühbirnen und das Brotmesser geklaut. Inklusive Anwaltskosten und der Miete, die nicht bezahlt wurde, beläuft sich Christines Schaden auf rund 10 000 Franken.

Und um die Frage aller Fragen zu klären: Nein, die Matratze hat Christine nicht ersetzt. Die hatte sie vor ihrer Reise neu gekauft. Sie hat sie umgedreht, den Bezug gewaschen und neue Bettwäsche gekauft. Und sollte sie etwas Geld zurückerhalten – die Mietagentur möchte einen Teil des Schadens aus Kulanz begleichen –, wird sie sich eine Matratzenreinigung leisten.

Trotz allem würde Christine ihre Wohnung wieder untervermieten. Sie sieht das ziemlich pragmatisch: Shit happens – und es hätte weitaus schlimmer kommen können. Die Mädels hätten ihr mit ihrer Schloterei die Bude abfackeln können. Ist aber nicht passiert. Ist auch niemand gestorben. Und solange sie freiwillig geschieht, hat Christine ja nicht mal was gegen Prostitution.