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Rendez-vous mit dem Täter

Leben

Rendez-vous mit dem Täter

  • Text: Claudia Senn; Fotos: Flavio Leone

Als Jugendlicher vergewaltigte der Australier Tom Stranger die Isländerin Thordis Elva. Heute treten die beiden gemeinsam in der Öffentlichkeit auf, um über sexuelle Gewalt aufzuklären. Eine gute Idee?

Im Konferenzraum eines Berliner Hotels sitzen ein Mann und eine Frau. Beide sind auffallend attraktiv und im selben Alter. Doch ihre Stühle stehen weit auseinander, sodass auf keinen Fall der Eindruck aufkommen könnte, sie seien ein Paar. Die Frau wirkt angespannt und kontrolliert, wie jemand, der unbedingt alles ganz besonders gut machen möchte. Der Mann spricht leise und zurückhaltend, so, als wolle er jede Nuance in seiner Stimme vermeiden, die andere als aggressiv oder machohaft interpretieren könnten. Beide lächeln nur wenig und wählen jedes Wort mit Bedacht. Denn ihre Mission ist eine heikle: Vor zwanzig Jahren hat der Mann die Frau vergewaltigt. Und trotzdem sitzt er hier mit ihr am Tisch.

Thordis Elva, das Opfer, und Tom Stranger, der Täter, haben einen ungewöhnlichen Weg gewählt: Nach einem zwölf Jahre dauernden Versöhnungsprozess haben sie ihren Frieden miteinander gemacht. Erst schrieben sie sich Hunderte von E-Mails, dann trafen sie sich für eine Woche in Kapstadt – auf halbem Weg zwischen Thordis Elvas Heimat Island und Tom Strangers Heimat Australien –, um zu besprechen, was man sich nicht schriftlich sagen kann. Ihre Hoffnung auf Aussöhnung hat sich erfüllt. Und weil sie glauben, ihre Erfahrungen könnten auch für andere interessant sein, haben sie gemeinsam ein Buch darüber geschrieben. Im vergangenen Oktober traten sie zudem an der Ted Women Conference in San Francisco auf. Ihr Ted-Talk, der Standing Ovations bekam, aber auch seltsam einstudiert wirkte, wurde im Internet dreieinhalb Millionen Mal angeklickt. Es ist nicht nur der voyeuristische Aspekt, der den Beitrag so erfolgreich macht, das Drama der gemeinsamen Geschichte, die heftigen Emotionen, die darin stecken, sondern vor allem die Tatsache, dass sich hier ein Mann vor der ganzen Welt zu einer Vergewaltigung bekennt. Das hat man so noch nie gehört.

Begonnen hat die Geschichte von Thordis Elva und Tom Stranger 1996 als Teenager-Romanze. Die damals 16-jährige Thordis verliebte sich in den zwei Jahre älteren Australier Tom, der als Austauschschüler nach Reykjavik gekommen war. So gut, wie er aussah, konnte er jede haben, glaubte Thordis. Ihr gefielen sein Akzent und das Weltmännische, das er ausstrahlte. Er fand ihre blonden Haare unwiderstehlich, die so gut zu ihrem roten Pullover passten.

Während einer zärtlichen Nacht, über die beide ausschliesslich positiv berichten, verlor Thordis ihre Jungfräulichkeit. Auch Tom war sexuell noch unerfahren, vor Thordis hatte er erst mit einem Mädchen geschlafen. Die beiden Jugendlichen verbrachten jede freie Minute miteinander, händchenhaltend, schwer verliebt. Dann kam der Weihnachtsball – in Island die Party des Jahres. Und die zarte Romanze verwandelte sich in ein Desaster voller Brutalität und Gewalt.

Thordis, ein angepasstes Mädchen, das bisher mit keinerlei Eskapaden aufgefallen war, wollte ihren Freund beeindrucken und liess sich mit Rum volllaufen. Bald hing sie über der Kloschüssel, der Bewusstlosigkeit nahe und mit Schaum vor dem Mund. Der Türsteher wollte einen Krankenwagen rufen, doch Tom winkte ab. Wie einen Kartoffelsack warf er sich seine betrunkene Freundin über die Schulter und trug sie nachhause, stinksauer, weil sie ihm die Party vermasselt hatte. In Thordis’ Mädchenzimmer befreite er sie aus ihrer vollgekotzten Kleidung. Dann vergewaltigte er das noch immer bewegungsunfähige Mädchen während zweier Stunden.

«Anfangs fühlte es sich an, als würdest du mich in zwei Teile spalten», schrieb sie ihm viele Jahre später in einem E-Mail, «als würde mein Körper vom Schritt bis zur Brust aufgerissen. Ganz allmählich ist zwischen meinen Beinen alles taub geworden, aber deine verdammten Hüftknochen haben sich immer und immer wieder in meine Oberschenkel gebohrt, hast du eine Ahnung, wie weh das tut? Ich hatte wochenlang blaue Flecken bis zu den Knien, weisst du das?»

Zwei Tage später, Thordis konnte noch immer kaum laufen, kam er vorbei, um Schluss zu machen. Was geschehen war, erwähnte er mit keinem Wort. Als sie sich danach wochenlang in ihr Zimmer zurückzog, heulend, zitternd, mit allen Anzeichen einer schweren Traumatisierung, hielt ihre Familie das für einen heftigen Liebeskummer. Bald darauf flog Tom nach Australien zurück. Thordis, von der Last ihres Geheimnisses fast erdrückt, litt jahrelang im Stillen, reagierte mit Essstörungen, Alkoholproblemen, Selbstverletzungen, Suizidgedanken. Ihr 17. Lebensjahr hätte sie beinahe nicht überlebt.

Zur Polizei ging sie nicht, «weil ich erst gar nicht kapierte, dass es eine Vergewaltigung gewesen war», sagt Thordis Elva, heute 36 Jahre alt, eine zierliche Frau mit grossen, ausdrucksstarken Augen. Die Vergewaltiger, die sie aus dem Fernsehen kannte, waren fies aussehende Unholde, die hinter einem Busch lauerten, bis ein potenzielles Opfer des Weges kam, «doch bei mir war es meine erste grosse Liebe, und es passierte in meinem eigenen Bett». Als sie schliesslich bereit gewesen wäre, ihren Ex-Freund anzuzeigen, gab es keine Beweise mehr, ihre Verletzungen waren längst verheilt. Kommt dazu, dass die Tat nach damaligem isländischem Recht nicht einmal als Vergewaltigung klassifiziert worden wäre, weil sie sich nicht aktiv zur Wehr gesetzt hatte. «Ich bin durch die Maschen des Justizsystems gefallen», sagt Thordis Elva. «Nicht weil ich ihm nicht vertraut hätte. Sondern weil die Maschen einfach zu gross waren.»

Tom Stranger entspricht nicht dem Bild, das sich die meisten Menschen von einem Vergewaltiger machen. Der heute 38-Jährige wirkt ausgesprochen höflich. Man sieht ihm an, dass er viel in der Natur ist und gern surft. Problemlos könnte er als Model für Outdoorbekleidung arbeiten. Und vielleicht ist die Geschichte von ihm und Thordis Elva gerade deshalb so interessant, weil sie mit einigen Stereotypen zum Thema Vergewaltigung aufräumt.

Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig. Doch die Gefahr lauert nicht in schlecht beleuchteten Unterführungen oder finsteren Tiefgaragen, sondern im eigenen Heim. Jede dritte Frau wird irgendwann einmal in ihrem Leben von einem Mann aus ihrer direkten Umgebung geschlagen oder vergewaltigt, das belegen Statistiken von Uno und Menschenrechtsorganisationen. Warum sollten die Täter alle hässlich, dumm und unsympathisch sein?

Thordis Elva hält es für geradezu verheerend, Vergewaltiger zu dämonisieren. Dieser «Monster-Mythos» nütze niemandem, am allerwenigsten den Opfern. «Als Überlebende von sexueller Gewalt schämst du dich gleich doppelt», sagt sie, «denn du hast ja dem Monster vertraut, es vielleicht sogar geliebt.» Vergewaltiger seien Menschen, die ihre Steuern bezahlen, ihre Familie lieben, Fehler machen, Nachbarn sind.

So wie Tom Stranger. Er kann sich gut ausdrücken, ist in einer warmherzigen Mittelstandsfamilie aufgewachsen, hat keinen Missbrauch oder andere Kindheitstraumata erlitten, die den Boden für die spätere Gewalt hätten bereiten können. Natürlich habe der australische Machismo auch bei ihm Spuren hinterlassen, sagt er, «doch eigentlich wusste ich es besser. Es gab in meinem Leben positive Rollenvorbilder. Ich wusste, was Verantwortung bedeutet. Und trotzdem war ich zu so etwas fähig.»

Viele Männer haben ihn nach dem Ted-Talk angesprochen. Keiner gestand ihm, dass auch er eine Vergewaltigung begangen habe, «aber in den Augen einiger habe ich gesehen, dass es sie zum Nachdenken über vergangene sexuelle Beziehungen gebracht hat». Manche boten ihm Ausreden für seine Tat an: Er sei doch erst 18 gewesen und noch dazu betrunken. «Aber genau das ist ja ein Teil des Problems, solche Taten kleinzureden, nicht bereit zu sein, sexuelle Gewalt in einem männlichen Kontext zu analysieren.»

Tom Stranger ist kein Pseudonym. Der Mann heisst wirklich so, und seine Tat kennt nun die ganze Welt. Auch jeder künftige Arbeitgeber oder Vermieter wird nach drei Minuten googeln Bescheid wissen. Sitzt Stranger tatsächlich aus freien Stücken an diesem Tisch? Oder ist sein öffentliches Bekenntnis eine Art Sühne? Wirft er sich vor seinem Opfer in den Staub, um die Tat wiedergutzumachen? Tom Stranger spricht jetzt noch leiser, er formuliert zurückhaltend und vorsichtig, aber in der Sache deutlich. «Wenn ich hier bloss aus einem Gefühl der Scham heraus sitzen würde, wäre das respektlos», sagt er. Er bettle nicht um Sympathie oder öffentliche Erlösung, «aber ich glaube, dass so jemand wie ich in der Debatte um sexuelle Gewalt fehlt». Vergewaltigung sei kein Frauenthema, sondern ein Männerthema. Die Männer seien es, die lernen müssten, «mit diesen toxischen Energien» umzugehen. «Wenn mein Beitrag nur schon die Denkweise eines einzigen jungen Mannes verändern kann, sodass er seiner Partnerin nicht wie ich Gewalt antut, dann hat sich das alles gelohnt.»

Thordis Elva umgab sich als junge Erwachsene mit einem Panzer aus aufgesetzter Furchtlosigkeit und intellektueller Brillanz. Andere beschrieben sie meist als einschüchternd. In allem, was sie tat, war sie die Beste. Doch letztlich war das Übererfüllen von Erwartungen nur ihre Methode, zu verbergen, dass sie ein gebrochener Mensch war. «In Beziehungen konnte ich nicht ich selbst sein, weil es mich unglaubliche Energie kostete, meinen Schmerz zu verschweigen», sagt sie. Noch immer hatte sie niemandem von der Vergewaltigung erzählt. Sie vertraute keinem, schlief mit Frauen, wurde Go-go-Tänzerin, Autoverkäuferin, Kolumnenschreiberin, Dramatikerin, Fernsehreporterin – «ein Lebenslauf wie ein Schweizer Käse voller Löcher». Einmal schickte sie einem Mann, der sie sitzen liess, aus Rache einen Schuhkarton voller Hundescheisse. Doch auch solche drastischen Massnahmen konnten nicht verhindern, dass sie erneut vergewaltigt wurde. Von anderen Männern, für die Tom Stranger den Boden bereitet hatte – kein seltenes Phänomen bei Opfern von sexueller Gewalt. Ihr Beziehungsleben war eine Katastrophe.

Tom Stranger erging es nicht viel besser. Auch er war unstet, zog dauernd um, konnte nirgends Wurzeln schlagen, trank viel zu viel. Mit keiner Frau war er länger zusammen als zwei Monate. Manchmal kriegte er beim Sex Panikattacken, ohne sich erklären zu können warum. Er arbeitete als Sozialarbeiter mit drogenabhängigen Jugendlichen. Einmal bat ihn eine junge Frau um ein Feuerzeug, um ihr T-Shirt zu verbrennen, in dem sie zuvor vergewaltigt worden war. Tom Stranger ging in sein Büro und brach in Tränen aus.

Bis sich Thordis Elva 2005 – achteinhalb Jahre nach jener Partynacht – wieder bei ihm meldete, hatte er die Vergewaltigung komplett verdrängt. Dann kam das erste E-Mail, und alle Erinnerungen waren wieder da – glasklar. «Ich würde mich am liebsten als krank bezeichnen, aber das bin ich nicht», schrieb er Elva, «ich würde dir gern dafür danken, dass du mich nicht hasst, obwohl ich froh wäre, wenn du es tätest. Das würde es für mich einfacher machen.»

Als Tom Stranger nicht mehr verleugnen konnte, was er getan hatte, versank er in einem Sumpf aus Selbstmitleid. Er wünschte sich, man würde ihn steinigen, denn das schien ihm die adäquate Strafe für sein Verbrechen zu sein. Er verfluchte den Umstand, dass ihn die Justiz für seine Tat nicht zur Rechenschaft ziehen würde, denn er gehörte ins Gefängnis, davon war er überzeugt. «Es hat sehr lange gedauert, bis ich mich selbst wieder respektieren konnte», sagt er, «bis ich zugeben konnte: Das ist ein Teil von mir. Ich bin ein Vergewaltiger.»

Hat er nach den vielen Jahren der Auseinandersetzung und der Selbstvorwürfe eine Erklärung für seine Tat gefunden? Ja, sagt er, er habe sie Schicht um Schicht freigelegt. Doch die Antwort lässt ihn nicht gut dastehen, und es ist auch nach all den Jahren noch spürbar, wie schwer es ihm fällt, sie auszusprechen: «Ich habe mir genommen, was ich wollte. Und es war mir in dem Moment total egal, was ich bei Thordis damit anrichtete.» Thordis Elva hört ruhig und ohne sichtbare Reaktion zu. Seine Antwort schockiert sie nicht, denn sie weiss: So war es.

Wirkliche Heilung konnte sie erst finden, als sie ihm verzieh. Das gab ihr die Kraft, die destruktiven Beziehungsmuster der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Heute ist sie glücklich verheiratet, hat einen kleinen Sohn und zwei Stieftöchter. Sie lebt mit ihrer Familie in Stockholm und arbeitet als Filmemacherin. Gerade dreht sie einen Kurzfilm, der Teenager davor bewahren soll, Opfer von «revenge porn» zu werden, einer besonders perfiden Form von sexueller Gewalt: Gekränkte Ex-Partner laden Nacktfotos oder -videos ihrer Verflossenen im Internet hoch, um so deren Ruf zu ruinieren.

Auch Tom Stranger hat eine Partnerin. «Dass Thordis mir verziehen hat, fühlt sich an wie ein Geschenk, wie die Erlaubnis, den Schmerz hinter mir zu lassen», sagt er. Das mache aber seine Tat nicht ungeschehen. «Was ich in jener Nacht angerichtet habe, lässt sich nicht einfach reparieren.» Erst als er sich selbst nicht mehr darauf reduzierte, ein Vergewaltiger zu sein, und auch seine positiven Seiten wieder wahrnahm, konnte er sich auf eine Beziehung einlassen. Nach drei Monaten beichtete er seiner Partnerin die dunkle Vergangenheit. Sie blieb ruhig und sagte, sie sei froh, dass man einander alles erzählen könne, «das Gute, das Böse und das Hässliche». Seit kurzem sind die beiden verheiratet.

Thordis Elva und Tom Stranger haben gemeinsam beschlossen, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Er war es, der öffentlich sprechen wollte, sie trieb die Idee mit dem Buch voran und hat auch das meiste davon geschrieben. «Es hat etwas sehr Kraftvolles, die Wahrheit laut auszusprechen – gemeinsam mit dem Mann, der mir das alles angetan hat und nun die Verantwortung dafür übernimmt», sagt sie.

Bei einem öffentlichen Auftritt in London wehte ihnen jedoch ein rauer Wind entgegen. Feministische Aktivistinnen warfen ihnen vor, sexuelle Gewalt zu banalisieren. Vergewaltiger dürften keine Plattform bekommen und sich dann auch noch mit einem Buch an ihren Taten bereichern. Das tue er nicht, kontert Tom Stranger. Er spende jeden Cent, den er mit dem Buch verdiene, karitativen Organisationen. Stranger würde in Zukunft gern Vorträge halten und Gruppen für junge Männer leiten, um sie für das Thema zu sensibilisieren. «Es tun sich da gerade einige Türen auf, aber noch ist nichts spruchreif.»

Könnte es passieren, dass er rückfällig wird und wieder eine Frau vergewaltigt? Die Antwort kommt ohne das kleinste Zögern. «Unmöglich», sagt Tom Stranger, «wenn es nicht so wäre, würde ich es nicht wagen, hier zu sitzen und so über das alles zu sprechen.» Was hätten dann all die Jahre der Auseinandersetzung mit seiner Tat für einen Sinn gehabt? «Ich würde nicht mit ihm zusammenarbeiten, wenn auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit bestünde, dass er rückfällig werden könnte», sagt auch Thordis Elva.

Durch ihr schmerzvolles Schicksal werden die beiden wohl für immer aneinandergekettet bleiben. Doch Freunde, nein, das sind sie nicht. Das wäre, nach allem, was passiert ist, schlicht zu viel verlangt.

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