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Sexuelle Gewalt: Kritik zur Netflix-Doku «Athlete A»

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Sexuelle Gewalt: Kritik zur Netflix-Doku «Athlete A»

Der Missbrauchsfall des ehemaligen US-Arztes Larry Nassar erschütterte die Sportwelt. Der Netflix-Dokumentarfilm «Athlete A» erzählt die berührende und bestürzende Geschichte seiner Opfer. 

Beim Presse-Termin eines Tech-Unternehmens in Kalifornien stand sie in einem Raum voller fremder Gesichter plötzlich vor mir. Aly Raisman, US-Kunstturnerin, Gewinnerin von zwei Olympia-Goldmedaillen und eine von Hunderten Überlebenden des inzwischen verurteilten Sexualstraftäters Larry Nassar. Rund ein Jahr zuvor ging die Aufnahme von Aly Raismans wütender Rede, die sie beim Prozess von Nassar vor Gericht hielt, um die Welt. Die Bilder der Frau, die ihrem Peiniger 2018 im Gerichtssaal als eines von 156 Opfern mutig entgegentrat, hatten sich in mein Hirn gebrannt. Raisman in echt zu sehen, berührte mich auf eine seltsame Art und Weise. Wie Larry Nassar über Jahre lang Mädchen missbrauchen konnte, ohne von Verantwortlichen gestoppt zu werden, ist mir ein Rätsel. Dementsprechend gespannt war ich auf den neuen Netflix-Dokfilm «Athlete A».

Verantwortliche hielten Nassar den Rücken frei

Im Fokus des Films stehen Geschichten von Turnerinnen wie Aly Raisman, Maggie Nichols, McKayla Maroney oder Simone Biles: Der Film erzählt vom Fall Larry Nassars, der vor seiner Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger jahrzehntelang als Arzt des Gymnastikverbands USA Gymnastics tätig war und vier Mal zum US-Olympiateam gehörte. «Athlete A» schlüsselt auf, warum Nassar über Jahrzehnte ungestört sexuelle Übergriffe auf minderjährige Turnerinnen verüben konnte – und zeigt, wie Journalisten des «The Indianapolis Star» den seriellen Missbrauch 2016 endlich ans Licht brachten. Der Film beleuchtet, dass unzählige Verantwortliche, Betreuer oder Trainer über die sexuellen Misshandlungen Nassars Bescheid wussten. Und ihm trotzdem durch Vertuschung den Rücken freihielten. Obwohl Turnerinnen Verantwortlichen bereits in den Neunzigerjahren Nassars übergriffiges Verhalten meldeten, trennte sich USA Gymnastics erst 2015 vom Arzt.

Es ist kaum aushaltbar, wenn Überlebende in der Doku von der unfassbar perfiden Art erzählen, auf die Nassar sie in seiner Praxis oder bei sich zuhause missbrauchte. Wurden seine minderjährigen Klientinnen von einem Elternteil ins Untersuchungszimmer begleitet, platzierte er sich bewusst so, dass die Eltern nicht mitbekamen, wie ihr Kind direkt vor ihrer Nase auf dem Behandlungstisch missbraucht wurde. Nassar führte Mädchen ohne Handschuhe seine Finger ein und gab seinen Opfern an, dass es sich dabei um eine übliche medizinische Behandlungsform handelt. Er manipulierte die Kinder teilweise über Jahre: Opfer erzählten, dass er als einer der wenigen Erwachsenen im harten Trainingsumfeld nett zu ihnen war, Witze machte und sie mit Snacks versorgte. Die Mädchen vertrauten Nassar – er nutzte dies eiskalt aus.

Opfern sexueller Gewalt glaubt man nicht

Der Dokfilm zeigt nicht nur gut auf, wie sich Sexualtäter das Vertrauen ihrer Opfer erschleichen und sie manipulieren. «Athlete A» illustriert eine weitere traurige Realität: Opfern sexueller Gewalt glaubt man nicht. Ihre Geschichte wird infrage gestellt, ihnen wird das Gefühl vermittelt, sie müssten sich schämen – und so werden sie zum Schweigen gebracht. Die Ex-Turnerinnen Rachael Denhollander und Jamie Dantzscher sprachen 2016 im Artikel des «The Indianapolis Star» als erste Frauen öffentlich über den sexuellen Missbrauch durch Nassar. Beide wurden im Netz und in der Presse dafür beschimpft: Dantzscher wurde «Hure» genannt, Denhollander eine «verbitterte alte Ex-Turnerin». «Es war eine unglaublich düstere Zeit. Die Leute sagten viel über mich. Dass ich es (den Missbrauch, Anm. d. Red.) doch gewollt habe. Oder dass ich nur Ruhm wolle», erklärt Denhollander im Film. Die ersten Reaktionen nach der Veröffentlichung ihres Traumas liessen sie hungern. «Ich war zu krank, um zu essen. Ich habe jedes Stück Privatsphäre und Würde verloren.»

Er missbrauchte mehr als 265 Mädchen und Frauen

Larry Nassar wurde im November 2016 wegen 22 sexueller Übergriffe auf Kindern zwischen 1998 und 2005 angeklagt. Sein jüngstes Opfer war sechs Jahre alt. Im Dezember 2016 fand das FBI mehr als 37 000 kinderpornografische Aufnahmen bei Nassar. Bis im Januar 2018 hatten sich mehr als 265 Mädchen und Frauen als Opfer Nassars identifiziert – wie viele Betroffene schweigen und sich bis heute nicht öffentlich geäussert haben, ist unbekannt. Nassar wurde im Januar 2018 zu 40 bis 175 Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger verurteilt. «Ich bin hier, um dir gegenüberzutreten, Larry. Damit du sehen kannst, dass ich wieder zu Kräften gekommen bin, dass ich nicht länger ein Opfer bin. Ich bin eine Überlebende», sagte Aly Raisman vor Gericht zu Nassar. Er misshandelte sie, als sie gerade mal 15 Jahre alt war – auch an den Olympischen Spielen in London. «Dein Missbrauch begann vor dreissig Jahren, aber das sind nur die ersten Fälle, die gemeldet wurden. Wenn nur ein Erwachsener in all diesen Jahren zugehört und den Mut und Charakter gehabt hätte, um zu handeln, hätte diese Tragödie verhindert werden können.»

«Athlete A» ist ein wichtiger und verstörender Film, bei dem es einem ob der groben Vernachlässigung der Verantwortlichen, die die Opfer jahrzehntelang leiden liessen, die Sprache verschlägt. Es ist die Geschichte von starken Frauen, die durch ihren Mut und ihren Zusammenhalt ihren Peiniger und das gesamte Umfeld, das ihn jahrelang schützte, zu Fall brachten. Ein berührender Film, über den man noch lang nachdenkt.

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Berührend und bestürzend: «Athlete A» schlüsselt auf, warum Larry Nassar über Jahrzehnte ungestört sexuelle Übergriffe auf minderjährige Turnerinnen verüben konnte – und zeigt, wie Journalisten des «The Indianapolis Star» den seriellen Missbrauch 2016 endlich ans Licht brachten.

Sie sprach als eine der Ersten: Die Ex-Turnerin Rachael Denhollander warf Nassar 2016 in einem Artikel des «The Indianapolis Star» als eine der ersten Frauen öffentlich sexuelle Misshandlung vor. Die Übergriffe fanden statt, als sie 15 Jahre alt war.

Die Ex-Turnerin Jamie Dantzscher äusserte sich ebenfalls 2016 als eine der ersten Frauen öffentlich über den sexuellen Missbrauch durch Nassar. Dantzscher wurde dafür etwa im Netz als «Hure» beschimpft.

Larry Nassar wurde im Januar 2018 zu 40 bis 175 Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger verurteilt.