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Sonderfall Heimatort

Leben

Sonderfall Heimatort

  • Text und Foto: Jrene Rolli

Von ihrem Wohnort Bern joggt unsere Autorin zu ihrem Heimatort Belp und macht sich Gedanken über diesen Schweizer Sonderfall.

Wenn das verschwitzte T-Shirt auf meiner Haut klebt, unter mir die hölzerne Auguetbrücke knarzt und über mir Propellermaschinen des Flugplatzes surren, ist mein Heimatort nicht mehr weit. Eher zufällig verbringe ich auf meiner sonntäglichen Joggingrunde entlang der Aare einige hundert Meter in meiner Heimatgemeinde Belp. In diesem Moment fühle ich mich stärker mit meinem schweissnassen Funktionsshirt verbunden (das seine Funktion mässig erfüllt) als mit meinem Heimatort. Dessen Funktion ist nämlich fraglicher.

Das Konzept des Heimatorts ist ein Schweizer Sonderfall und weltweit einzigartig. Andere Länder führen stattdessen auf amtlichen Dokumenten den Geburtsort auf. Hierzulande erhält ein Kind bei seiner Geburt den Heimatort des Elternteils, dessen Nachnamen es trägt. Hat nur ein Elternteil das Schweizer Bürgerrecht, erhält es diesen. Der Heimatort geht dadurch von Generation zu Generation weiter und hat etwas Verbindendes.

26 Jahre lang glaubte auch ich, dass ich mich mit meinem Heimatort nicht verbunden fühle. Dann fusionierte die kleine Gemeinde Belpberg mit dem grossen Nachbarn Belp. In meinem neuen Pass stand nun Belp statt Belpberg. Ich war entrüstet, fühlte mich meiner Identität beraubt. Mit diesem Gefühl war ich nicht allein. Da es in den letzten Jahren öfter zu Gemeindefusionen kam, häuften sich schweizweit bei den Ämtern die Reklamationen: Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger wollten ihren alten Heimatort zurück. Seit kurzem wird auf Gesuch hin der alte Heimatort in Klammern dem neuen angefügt.

Trotz dieser Möglichkeit steht bei mir im Pass noch immer Belp, ohne -berg. Ich kann mir nicht erklären, wieso ich mich anfangs über diese Änderung derart geärgert hatte. Weder für Belpberg habe ich jemals etwas empfunden, noch für Belp tue ich es. Ich fühle einzig die müden Muskeln auf meiner Joggingrunde durch das Waldstück von Belp und die Vorfreude, bald zurück in meinem Geburts- und Wohnort Bern zu sein. Dort ist meine gefühlte Heimat.

Dass der Heimatort hierzulande mit dem Geburtsort, wie in andern Ländern üblich, ersetzt wird, lehnte das Schweizer Parlament 2001 ab. Müsste ich zwischen Heimat- oder Geburtsort wählen, der Fall wäre klar. In Bern bin ich geboren. Diese Stadt hat mein Leben nicht nur in den ersten Tagen geprägt, sondern tut es heute als mein frei gewählter Wohnort mehr denn je. In Belpberg lebten vor zig Jahren zwar meine Vorfahren, ich weiss jedoch nicht, wer die waren, wie sie lebten und wieso sie sich genau dort niederliessen. Belp ist lediglich ein Ort, der in meinem Pass steht.

Das ist quasi auch die einzige offizielle Funktion, die der Heimatort heute noch hat: in Dokumenten zu stehen und sinnstiftend zu sein. Mussten früher Heimatgemeinden ihre verarmten Bürger aufnehmen und unterstützen, ist dies seit 2012 nicht mehr der Fall. Auch die bis 2004 von den Gemeinden geführten Familienregister sind mittlerweile geschlossen und heute digitalisiert.

Einzig für Auslandschweizer kann der Heimatort eine Rolle spielen: Wer auswandert, wählt, ob er zukünftig die Abstimmungsunterlagen aus seiner Heimatgemeinde oder dem letzten Wohnort erhalten will. Die Vorstellung, auf eine karibische Insel auszuwandern und Kokosnusswasser schlürfend die Abstimmungen von Belp zu beeinflussen, amüsiert mich. Und löst bei mir damit stärkere Emotionen aus, als dass dies mein Heimatort je zuvor getan hat.

Wie in der Schweiz wohnhafte Ausländer kann auch ich als Schweizer Bürgerin in einer der insgesamt 2222 Schweizer Gemeinden ein (zusätzliches) Bürgerrecht beantragen. Von A wie Aeugst am Albis bis Z wie Zwischbergen im Wallis steht alles zur Wahl. Nächsten Sonntag werde ich mich entscheiden, ob ich zuhause sitze und ein Einbürgerungsgesuch für Bern ausfülle oder entlang der Aare jogge, beim Anblick der abfliegenden Maschinen des Flughafens Bern-Belp unweigerlich die Songzeile von Patent Ochsner «Bälpmoos, schpick mi furt vo hie» trällere und schnurstracks Richtung Bern trabe.

Wahrscheinlich Zweiteres. Zumindest solang mein Funktionsshirt den grösseren Nutzen erfüllt als mein Heimatort.