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Starre Geschlechterrollen machen unglücklich

Leben

Starre Geschlechterrollen machen unglücklich

  • Text: Nils Pickert; Bild: Getty Images

Venus und Mars, Yin und Yang – unser Autor Nils Pickert plädiert für mehr Mut zur Vielfalt. Denn stereotypische Rollenklischees schränken ein wie ein Korsett.

‹Ich bin gebürtiger Ossi, esse kein Fleisch, trinke keinen Alkohol, interessiere mich nicht für Autos und Fussball, habe vier Kinder, für die ich mich in der Hauptverantwortung sehe, und bin mit meiner Lebenskomplizin seit über zwanzig Jahren liiert. Wer noch?› Vor ein paar Jahren habe ich mir angewöhnt, Vorträge und Diskussionen mit dieser Frage einzuleiten. Die Antwort ist bislang immer die gleiche: ungläubiges Staunen, verlegenes Hüsteln, Schweigen. Niemand also.

Ich stelle diese Frage, weil es Teil meiner Arbeit ist, mit Menschen über das Für und Wider von Gleichberechtigung zu sprechen. Und in letzter Zeit auch zunehmend darüber, inwiefern Feminismus als politische Idee und Ermächtigungsstrategie nicht auch etwas für Männer sein könnte. Am häufigsten werde ich dabei mit dem Vorwurf der Gleichmacherei konfrontiert. Man wirft mir vor, ich würde die Unterschiede zwischen Männern und Frauen absichtlich ausblenden oder verwischen und eine Art geschlechtsneutralen, politisch korrekten Einheitsbrei anrühren, der gefälligst allen zu schmecken hat.

Mehr gemeinsam mit einer gleichaltrigen weissen Frau

Fast immer kommt dieser Vorwurf dabei von Männern. Deshalb richtet sich meine Frage auch ganz direkt an sie und dreht den Spiess um. Ich will wissen, welcher Mann genauso ist wie ich. Die Antwort wie gesagt: niemand. Das macht mich weder besonderer noch besser oder schlechter als jeden x-beliebigen Mann. Es spielt den erhobenen Vorwurf lediglich zurück, indem es auf ein Phänomen verweist, das man als binnengeschlechtliche Gleichmacherei bezeichnen könnte: Frauen sind nach dieser Logik eben Frauen und Männer bleiben Männer. Venus und Mars, Yin und Yang, Vagina und Penis, passiv und aktiv, schwarz und weiss. Weil ist halt so und schon immer. Für Vielfalt und Facettenreichtum bleibt dabei kaum Raum. Auch nicht für Neugier und Staunen.

Zum Beispiel darüber, dass ich mit einer gleichaltrigen weissen Frau aus Ostberlin, die drei Kinder hat, womöglich sehr viel mehr gemeinsam habe als mit einem schwulen jungen Mann aus Basel, der in seiner Freizeit gern feiern geht oder Fussball schaut. Oder darüber, dass das, was wir als klassisch männlich oder weiblich definieren, sehr viel beweglicher und freier ist, als vielen von uns recht ist. Warum eigentlich? Was spricht denn gegen Flexibilität und Freiheit?

Frauen an den Herd, Männer an den Arbeitsplatz

Leider erstaunlich viel, wenn man es genau betrachtet. Stereotype Rol­lenklischees sind wie ein Korsett. Ich kann noch so sehr darauf hin­weisen, dass es viel zu eng anliegt und uns allen die Luft abschnürt – wenn ich nicht anerkenne, dass es auch stützt und Menschen durch ihren Alltag trägt, werde ich nie jemanden überzeugen können, es abzulegen oder anderen nicht auf­zuzwingen. Männern und Frauen über den Mund zu fahren, weil sie der Auffassung sind, dass Frauen an den Herd und in die Kinderbetreu­ung gehören und Männer an den Arbeitsplatz, ist natürlich verlo­ckend. Sehr verlockend. Aber es ist keine Einladung. Es ist nicht ansatz­weise so erfolgversprechend wie die Patenschaft für eine geschlech­tergerechtere Gesellschaft.

Nehmen wir nur die Corona­-Kri­se. Wie vielen Leuten könnte man jetzt nicht angesichts der problema­tischen Situation ein ‹Das habt ihr jetzt davon!› vor die Füsse knallen. Denn das haben sie und wir alle ja tatsächlich davon, dass wir Gegen­ständen und Tätigkeiten ein Ge­schlecht zuweisen und Menschen auffordern, die eigene Geschlechts­identität zu belegen, indem sie das eine tun und das andere lassen. Aber wenn Frauen immer die sein müs­sen, die sich aufopferungsvoll und fürsorglich um ihre Kinder küm­mern, und Männer stets die zu sein haben, die Leistung zeigen und die Familie ernähren: Was passiert, wenn beide wochenlang zuhause ho­cken, während die Kinder allmäh­lich einen Lagerkoller bekommen und ihm die Kündigung ins Haus flattert, weil seine Firma coronabe­dingt dichtmachen muss? Wie kön­nen sie noch Frau und Mann sein, wie sie selbst, wenn alles was ihnen geschlechtsspezifisch zugeschrieben wurde, einfach nicht mehr möglich ist?

Lieber bunte Vielfalt

Die Antwort auf diese Frage be­steht nicht darin, die Betreffenden auszulachen und aufgrund ihres Schwarzweiss­-Denkens zu Idioten zu erklären. Sie liegt vielmehr in einem Plädoyer für bunte Vielfalt. Wäre es nicht besser, wenn Küm­mern, Pflegen, Trösten und liebevol­le Zuwendung integraler Bestandteil unserer Vorstellung davon sind, was einen Mann ausmachen sollte? Damit die Person die Kinder betreu­en kann, die dazu gerade nervlich in der Lage ist, und nicht die, die qua Geschlecht dazu verpflichtet wird? Und wäre es nicht klug, Leistungs­fähigkeit, Zielstrebigkeit und Kar­rierebewusstsein nicht länger als unweiblich zu deklarieren, damit die Brötchen von den Personen verdient werden können, die dafür in der jeweiligen Situation aus welchen Gründen auch immer am besten geeignet sind? So ganz ohne über­griffigen Geschlechtstest und kurz­sichtiger Zwangsverpflichtung?

Ich finde ja. Ich finde, dass Frau­en und Männer tun können sollten, was sie wollen. Ich bin dafür, dass wir für die Freiheit unserer Würde planen und nicht für die Sicherheit unserer Vorurteile. Ich plädiere für eine Erweiterung von Entweder­ oder, Schwarz oder Weiss. Ich hät­te gern mehr Optionen als «Männer sind vom Mars, Frauen von der Ve­nus». Viel mehr. Wer noch?