Werbung
Der Täter ist häufig der Ex

Leben

Der Täter ist häufig der Ex

  • Text: Verena Edinger, Foto: Unsplash

Die Serie «You – Du wirst mich lieben» läuft bei Netflix in der Kategorie romantische Serie. Doch mit Romantik hat das obsessive Verfolgen einer Person nichts zu tun. Stalking-Opfer leben in Angst und Schrecken – in der Schweiz ist rund jede sechste Frau davon betroffen. 

Kurz vor der Silberhochzeit reicht Martina A.* die Scheidung von ihrem Mann ein. Sie hatten glückliche Zeiten miteinander verbracht, aber immer häufiger kam es in den letzten Jahren zu Streitigkeiten, die eskalierten. Als Urs A.* sie das erste Mal schlägt, verzeiht seine Frau ihm noch. Es tue ihm doch wirklich leid, und schliesslich habe man vier gemeinsame Kinder, verhandelt sie mit sich selber. Da werfe man doch nicht einfach so 13 gemeinsame Ehejahre weg. Als der angesehene Beamte aber immer öfter gewalttätig wird und beginnt, die Kinder zu beschimpfen, zieht sie endgültig einen Schlussstrich. Sie verlässt ihn und zieht in eine neue Wohnung. Doch Urs A.* möchte das nicht akzeptieren und versucht, sie mit zahlreichen Anrufen und SMS zurückzugewinnen. Er versucht es sanft und schreibt ihr, er habe eine Anti-Aggressivitäts-Therapie gemacht und sei jetzt geheilt. Das nächste Mal wird sein Ton bereits wieder drohend: «Du H***, warum nimmst du verdammt noch mal nicht ab? Ich sehe doch, dass du zuhause bist!» Sie will aber endgültig nichts mehr von ihm wissen. Als sie sich aufgrund der andauernden Spionage und verbalen Belästigungen nicht mehr sicher fühlt, zieht sie ins Frauenhaus und wechselt ihre Handynummer. In den folgenden elf Jahre ändert Martina A.* ihre Nummer drei Mal. Aber er findet die neuen Nummern immer wieder heraus, obwohl sie sie nicht ins Telefonbuch eintragen liess. Danach wird ihr die Nummernwechslerei zu blöd: «Man verliert immer wieder auch seine sozialen Kontakte, da einen Freunde oder Bekannte nicht mehr erreichen können.» Martina A.* ersucht mehrmals die Polizei um ein Kontakt- und Aufenthaltsverbot. Allerdings hält sich ihr Mann bis heute nicht daran, obwohl er schon längst neue Beziehungen mit Frauen eingegangen ist. «Es geht ihm nur darum, dass er seine Macht über mich demonstrieren kann.»

Etwa jede sechste Frau in der Schweiz ist mindestens einmal in ihrem Leben von Stalking betroffen, das sagt ein Forschungsbericht des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) aus. Die wichtigste Massnahme bei Nachstellung sei, dass man den Kontakt mit der belästigenden Person einmalig und unmissverständlich abbreche, sagt Natalie Schneiter. Seit sieben Jahren ist sie Stalkingberaterin bei der ersten und einzigen schweizweiten Fachstelle für Stalking der Stadt Bern. Dass ein konsequenter Kontaktabbruch aber nicht immer so einfach ist, weiss sie aus der Praxis. Einerseits fällt es manchen Betroffenen schwer, den Kontakt vollständig abzubrechen, da es viel Energie und Durchhaltewillen benötigt, nicht auf die Belästigung einzugehen. Und andererseits ist eine Kommunikationssperre auch nicht immer praktisch umsetzbar. Da es sich wie bei Martina A.* bei der Hälfte aller Stalker um den Ex-Partner handelt, kommt häufig erschwerend hinzu, dass Verbindlichkeiten wie gemeinsame Kinder oder Immobilien bestehen. So müsse man hier zuerst etwa das Besuchsrecht oder die Gütertrennung regeln. Die Polizei kann zum Schutz von Stalking-Betroffenen je nach Kanton eine Wegweisung, ein Rückkehr-, Annäherungs-, Rayon- oder Kontaktverbot anordnen. In gewalttätigen Fällen während eines Trennungs- oder auch Scheidungsverfahren kann ein Opfer Gebrauch von solch gerichtlichen Eheschutzmassnahmen machen. Nach Ablauf einer 2-jährigen Trennungsphase kann dann eine Scheidung sogar auch gegen den Willen des Ehepartners eingereicht werden. Eine direkte Scheidung hingegen wird nur in extremsten Ausnahmefälle vom Gericht genehmigt, sagt Schneiter. 

Stalking kann gravierende soziale Folgen haben. Aufgrund der obsessiven und andauernden Verfolgungen und Belästigungen misstrauen Betroffene mit der Zeit nicht nur ihren Stalkern, sondern oft auch unbeteiligten Personen. Das führt dazu, dass sie sich immer mehr aus ihrem normalen Sozialleben zurückziehen. Manche Leidtragenden gehen sogar so weit, dass sie ihre Hobbies aufgeben, in eine neue Wohnung ziehen oder den Arbeitsplatz wechseln. So versuchen betroffene Frauen, den in dreiviertel aller Stalkingfällen männlichen Täter durch geänderte Gewohnheiten loszuwerden. Auch Schneiter rät, bei Stalking den Alltagsrhythmus zu durchbrechen. Man könne zum Beispiel einen anderen Weg ins Büro nehmen oder an einem anderen Tag zum Sport gehen. Begleitschutz von Freunden zu Freizeitaktivitäten oder ein Pfefferspray in der Tasche kann das eigene Sicherheitsgefühl bestärken, denn gemäss EBG kommt es in rund einem Drittel aller Stalkingfälle zu Gewaltandrohungen oder Tätlichkeiten. Aber Schneiter weist auch klar darauf hin, dass man nicht gänzlich auf sportliche und soziale Aktivitäten verzichten sollte, denn gerade diese Kontakte tun der Psyche in dieser chronischen Stresssituation gut. Weiter empfiehlt die Fachstelle, dass Betroffene das soziale Umfeld informieren sollen, da dies nicht nur für Verständnis, sondern auch für mehr Sicherheit sorgen kann. Etwa, wenn es darum geht, Zeugenaussagen aufzunehmen oder persönliche Daten wie Adresse oder Telefonnummer sicher zu behandeln.

In nicht wenigen Stalkingfällen händigen die Opfer ihren Tätern selbst die Nummer aus – ohne zu wissen, was das für Folgen hat. Wie zum Beispiel die Berufsschülerin Lara R.* Im Ausgang lernt sie über gemeinsame Freunde Kevin W.* kennen. Sie verstehen sich auf Anhieb und entwickeln ein freundschaftliches Verhältnis – zumindest fühlt es sich so an für Lara R.* Kurze Zeit später jedoch gesteht ihr Kevin W.* seine Liebe. Da die Berufsschülerin aber nicht an einer Paarbeziehung interessiert ist, erteilt sie ihm eine Abfuhr – der Anfang einer 14-monatigen Odyssee. Er lauert ihr mehrmals vor der Schule auf, passt sie bei der Einstellhalle für Roller ab und sendet ihr täglich Hunderte von Messages. Lara R.* hätte gern wie Martina A.* ein Aufenthalts- und Kontaktverbot im Rahmen der Gewaltschutzverfügung durchgesetzt. Allerdings kann dies im Kanton Zürich nur erwirkt werden, wenn zwischen der stalkenden Person und dem Opfer eine familiäre oder partnerschaftliche Beziehung besteht. Da die Berufsschülerin nur von einem Bekannten verfolgt wird, greifen die polizeilichen Schutzmassnahmen bei ihr nicht.

Erschwerend kommt bei Lara R.* hinzu, dass ihr Stalker sie auch über Facebook und Whatsapp kontaktierte. Das Internet hat die Art und Weise, wie Stalking ausgeführt wird, verändert – und verschärft. Nicht nur, dass Opfer zu jeder Tageszeit ohne grossen Aufwand belästigt werden können, auch Aufenthaltsorte werden von vielen Nutzern bedachtlos in den sozialen Netzwerken geteilt. Zudem ist die Hemmschwelle für Beleidigungen niedriger, da es online zu keinem direkten Kontakt kommt. Diese Netzanonymität erschwert den Daten- und Persönlichkeitsschutz im Internet und auch die Bekämpfung von Cyberkriminalität.

Im Offline-Leben, wenn auch nur in 8 bis 25 Prozent aller Fälle, kennen Stalkingbetroffene ihre Täter nicht – so wie Agatha S.* Die Bankangestellte wurde vier Jahre lang von einem Unbekannten gestalkt. Anfangs wird sie immer wieder mitten in der Nacht von einer ihr unbekannten Nummer angerufen. Wenn sie das Telefon annimmt, bleibt die andere Seite aber stumm. Agatha S.* blockiert zwar die Anrufe, findet aber nicht heraus, welche Person dahintersteckt. Es ruft immer wieder eine andere Zahlenabfolge an. Als die Bankangestellte später nachts durch einen Unbekannten mittels ihrer Türklingel geweckt wird, überlegt sie, Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. Die Hoffnung, dass das etwas nützen würde, bezweifelt sie und lässt es sein. Agatha S.* hat Glück: Nach ein paar Monaten hört das Stalking wieder auf.

Nicht bei allen Fällen endet das Stalking so glimpflich. Deshalb empfiehlt die Kantonspolizei Zürich dringend jedem, der von einer anonymen Person belästigende Telefonanrufe oder ungebetene Besuche erhalte, Anzeige zu erstatten. Denn auch wenn der Täter nicht bekannt ist, ist es rechtlich notwendig, innerhalb von 3 Monaten nach einer Tat einen Strafantrag zu stellen. Denn nach Ablauf der Frist kann keine Strafuntersuchung mehr eingeleitet werden. Zudem könnten gewisse Handlungsmuster oder Überschneidungen bei einer anderen Straftat auch einen unbekannten Täter entlarven.

Aufgrund der Verordnung für Fernmeldedienste bietet sich Betroffenen wie Agatha S.* ausserdem die Möglichkeit, bei ihrem Netzanbieter Auskunft über den unbekannten Anrufer zu erhalten. Annina Merk, Mediensprecherin von Swisscom, erklärt das Vorgehen: «Der Anschlussinhaber muss innerhalb von drei Monaten eine Liste ausfüllen, welche die genauen Angaben von Datum und Uhrzeit aufführt, wann der belästigende Anruf oder SMS entgegengenommen wurden. Stimmen die Angaben bei mindestens drei Anrufen oder SMS mit unseren Systemdaten überein und erfolgten diese Verbindungen vom gleichen Anschluss aus, dürfen wir Auskunft geben.» Liegt eine Strafanzeige wegen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage vor, können die Daten auch nach nur einer oder zwei Verbindungen ermittelt werden.

Obwohl der Bundesrat klar der Ansicht ist, dass es neben den derzeitigen Gesetzen weitere braucht, um Betroffene zu unterstützen und Stalker in die Verantwortung zu nehmen, stellt Stalking in der Schweiz derzeit keinen eigenen Straftatbestand dar. Im Gegensatz zu 19 anderen Ländern wie zum Beispiel Österreich oder Deutschland, in denen Nachstellung und Beharrliche Verfolgung seit über 10 Jahren im Strafgesetzbuch zu finden sind, können Opfer hierzulande nur einzelne Taten wie Beschimpfung, Drohung oder Nötigung zur Anzeige bringen. Auch Schneiter sieht mehr Handlungsbedarf. Sie plädiert für ein eigenes Stalkinggesetz, um gerade auch das sogenannte weiche Stalking wie bei Lara M.* und Agatha S.* ahnden zu können. Denn auch wenn die Frauen durch ständige Textnachrichten und Anrufe belästigt wurden, so kann diese Form von Stalking nicht immer strafrechtlich erfasst werden. Werden keine Drohungen ausgesprochen, liegen die einzelnen Handlungen unter der Schwelle der Strafbarkeit. Wäre Stalking eine Straftat gemäss dem Opferhilfegesetz, hätten Betroffene zudem auch gesetzlichen Anspruch auf Beratung und finanzielle Unterstützung.

Mit oder ohne Gesetz – die Fachstelle Stalking Bern bietet gratis telefonische und persönliche Beratung bei Stalking an, denn es ist wichtig, dass Betroffene frühzeitig Hilfe suchen können. Auch Martina A.* möchte sich einer Selbsthilfegruppe speziell für gestalkte Frauen in Aarau anschliessen, sobald ein Platz frei wird. Denn für sie ist es wichtig, sich auch mit anderen Betroffenen austauschen zu können und voneinander zu lernen. Auch Lara M. * versucht ihr Umfeld für Stalking zu sensibilisieren und vermittelt zum Beispiel ihrer jüngeren Cousine einen vorsichtigeren Umgang mit persönlichen Daten in Social Media. Denn Stalking quält Betroffene nicht nur zum Tatzeitpunkt, sondern verfolgt manche auch noch Jahre später – das weiss Agatha S.* Sie leidet bis heute an Schlafstörungen und Angstzuständen.

*Name geändert, der Redaktion bekannt