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Tierschutz: Benjy, der schwule Stier

Leben

Tierschutz: Benjy, der schwule Stier

  • Text: Antja Joel; Foto: Philipp Ebeling

Er hat das Format eines Zuchtbullen, doch bespringen mochte Benjy nur seinesgleichen. Das brachte ihn in Schlachters Küche – und mitten in ein Drama um Leben, Tod und Geld.

Hier steht er nun also, der so teuer Gerettete, und begreift von seinem Glück und dem Tamtam um ihn nichts. Weiss nicht um seine weltweite, kurzlebige Berühmtheit. Er hat keine Ahnung, dass und wie knapp er dem Tod durch Bolzenschuss in seinen breiten Schädel entkommen ist. Kennt nicht die Bedeutung von «schwul». Weiss nicht einmal seinen Namen.

Glück? Was heisst das schon. Für einen Charolais-Bullen. Der steht wie selbstverständlich da, knietief im frischen Stroh des Tierasyls, zieht mit rauer Zunge Büschel von Heu aus der Raufe zwischen die Zähne und mahlt sie zu verdaulichen Fetzen. Gründerin des Hillside Animal Sanctuary im britischen Norfolk ist Wendy Valentine (65), eine kleine, magere Frau mit tief liegenden Augen und Stroh an den Kleidern und im ergrauenden Haar. Vor zwanzig Jahren unterwarf sie sich der Aufgabe, die oft katastrophalen Bedingungen in der Haltung und Schlachtung von Nutztieren öffentlich zu machen. Misshandelten Nutztieren ein Zuhause geben wollte sie auch, nebenher. Heute beherbergt Hillside 300 Kühe und Ochsen. 1200 Pferde. 800 Hühner, Enten und Gänse. 150 Schweine. Etwa 600 Schafe und Ziegen. 60 Hunde. 50 Meerschweinchen. Kaninchen. Zwei Strausse. Und eben Benjy, den möglicherweise schwulen Bullen.

«Das Erscheinungsbild des Bullen soll ausgesprochen männlich sein. Er soll so ausgestattet sein, dass er seine ausschlaggebenden reproduktiven Aufgaben erfüllen kann. Er sollte zwei grosse Hoden haben, und sein Körperbau muss ihm ermöglichen, sich frei in seiner Kuhherde zu bewegen.» Der Farmer in Mayo, Irland, sah den Rassestandard der Züchtervereinigung in Benjy erfüllt. Er kaufte den Bullen als Kälbererzeuger, Fleischproduzenten, Geldvermehrer. Tatsächlich bewegte Benjy sich unter den Kühen freier als jeder andere Bulle. Denn die Kühe waren ihm egal. Er zeugte nicht ein einziges Kalb. Der Farmer liess das Sperma des Bullen testen. Das Sperma war prächtig. Nur wusste Benjy offenbar nicht oder weigerte sich, es fleischproduzierender-, geldvermehrenderweise zur Verfügung zu stellen. Statt Kühe besprang er Bullen.

Der zu Hilfe gerufene Tierarzt wagte den Befund «schwul». Möglicherweise augenzwinkernd. Eine Art Herrenwitz. Auf jeden Fall trug der Farmer ihn weiter. Er kam einer rotwangigen Reporterin zu Ohren, kurz darauf stand in der Lokalzeitung zu lesen: «Schwuler Bulle soll zum Metzger!» Ein kurzer, pragmatischer Prozess. Der Farmer hatte längst einen neuen Bullen.

Die Schlagzeile traf den irischen Tierschutzrecken John Carmody ins Herz. Er rief internetweit zur Rettung «Klein Benjys» und zu Spenden für «den unschuldigen Jungen» auf: «Als schwuler Mann weiss ich nur zu gut, wie es ist, gleichgültig behandelt zu werden! Darum hoffe ich, wir können Benjy eine zweite Chance geben und auf die Probleme aufmerksam machen, denen alle Schwule auf der Welt gegenüberstehen.» Die britische Schwulenorganisation The Gay UK stimmte ein: «Der arme Benjy soll geschlachtet werden, nur weil er schwul ist. Wo bleibt die Akzeptanz?»

Hillside Animal Sanctuary

John Watson (46), ehemals Steuereintreiber für die britische Krone, seit fünf Jahren Spendeneintreiber für Hillside, sagt: «Andere Tierschutzorganisationen setzen sich ein Limit, die erklären sich mit 100 oder 200 Tieren ausgelastet. Wir nicht. Wir strapazieren Grenzen.» Hillside wächst, wuchert. «Wir mieten immer noch und noch ein paar Hektar Weidefläche dazu.» Im vergangenen Jahr waren es 500 Hektar, in diesem werden es wenigstens 800 sein. Als die britische Schwulenorganisation den Gnadenhof bat, Benjy «ein sicheres Zuhause auf ewig» zu geben, sagten Wendy Valentine und John Watson ohne Zögern zu.

Wendy Valentine jongliert mit furchterregenden Zahlen. Heubedarf pro Woche: 5000 Ballen, Kosten: 28 000 Franken. Tierarztkosten: durchschnittlich 7000 Franken pro Woche. Unterhaltskosten für Hillside insgesamt: 69 000 Franken. In jeder Woche. Das sind knapp 3.7 Millionen im Jahr, die Valentine erbettelt. Von ihren Anhängern und solchen, in denen sie mögliche Anhänger wittert. Valentine ruft sie an, schreibt E-Mails, versendet Rundschreiben. Sie lässt Videos drehen und stellt sie auf Youtube. Filme von kahlen Hühnern, die auf wunden Füssen über Drahtgitter taumeln. Filme von dürren, hohläugigen Pferden und Kühen, die bis zum Bauch in Schlamm und in Scheisse stehen.

«Wendy ist dreist», sagt John Watson. «Wendy wagt sich so weit vor wie sonst niemand.» Sie ist grenzenlos. Beim Einsammeln von Tieren und beim Eintreiben von Geld. «Manchmal wird es den Anhängern zu viel. Kann man verstehen.» Andererseits, wie sollen sie den Tieren helfen, wenn nicht mithilfe aller? Und helfen müssen sie, dazu sehen sie keine Alternative. Der griechische Philosoph Plato verglich die Seele des Menschen mit einer Kutsche. Der Verstand ist der Fahrer, die Gefühle sind die Pferde. Das Leben, schloss Plato, ist ein ständiger Kampf, die Pferde unter Kontrolle zu halten. Anders riskiert man, dass sie einen über das Ziel hinaus ins Verderben reissen. Was, wenn sie in Hillside eines Tages den Kampf mit den Zahlen verlieren? «Es ist lebenswichtig, dass wir genug Geld für die Versorgung unserer Tiere beschaffen», sagt Watson. «Die Alternative ist undenkbar.»

Für Benjys Rettung erbettelten sie 6400 Franken, innerhalb von 28 Tagen. Sam Simon, Autor der Comicserie «The Simpsons» und unheilbar an Krebs erkrankt, gab noch einmal so viel. Rund 3200 Franken frass Benjys Transport. Wie viel steckte der irische Farmer ein? Watson und Valentine wollen es nicht wissen. Ein Schlachter in Irland, wo jeder alles über jeden wissen will, brüllte: «5300 Franken hat dieser Hund für das Vieh bekommen. Für eine nutzlose Kreatur. 850 hätte dem ein Metzger gezahlt, mit Glück.»

In irischen Schlachthäusern sterben jährlich 1.55 Millionen Rinder allein für den menschlichen Verzehr. Das britische Königreich tötet in jedem Jahr 2.6 Millionen, die Schweiz knapp 650 000. In allen drei Ländern zusammen werden pro Tag knapp 14 000 Rindviecher geschlachtet. Die meisten von ihnen, davon darf man ausgehen, sind heterosexuell. Und hier steht und mampft dieser eine Gerettete. Ist das Erfolg? Ist es vernünftig? Oder ist es, wie Watson sagt, nicht mehr und nicht weniger als Benjys Recht?