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Ursina Lardi: «Die Schauspielerei ist mir passiert»

Leben

Ursina Lardi: «Die Schauspielerei ist mir passiert»

  • Text: Hanspeter Bundi; Bilder: David Baltzer/Agentur Zenit

Ursina Lardi gehört zu den herausragendsten Schauspielerinnen der Schweiz, doch über Biografisches verrät sie so gut wie nichts. Wir haben trotzdem versucht, den stillen Star kennenzulernen.

Ursina Lardi steht als todkranker Revolutionsführer auf der Bühne. Oder sie erzählt in einem langen Monolog, wie sie als junge Entwicklungshelferin ihre Illusionen verlor. Oder sie versucht, ihren Mann, der seine Homosexualität leben will, doch noch zu verführen. Drei grosse Rollen für die Schweizer Schauspielerin, zweimal an der Berliner Schaubühne, einmal in einem Schweizer Film. Wir schauen ihr gebannt zu, weil sie den Revolutionär schwach und verletzlich zeigt («Lenin»). Sie fasziniert uns, weil sie das Gewehr so beiläufig in der Hand hält («Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs»). Oder weil ihr Blick zeigt, dass sie ihren Mann verloren hat und dass sie das auch weiss («Unter der Haut»). Was ist es, das Tausende von Zuschauern fasziniert, nicht nur in Deutschland oder der Schweiz, sondern auch in Delhi, Moskau, São Paolo oder Tiflis. «Ich spiele einfach», gibt sie zur Antwort. «Die Wirkung müssen andere beschreiben.» Sie lacht. So, wie sie in unserem Gespräch die Ernsthaftigkeit und Schwere immer wieder mit einem Lachen auflöst, das Platz macht für einen neuen Gesprächsansatz und für neue Erkenntnisse.

Wir sitzen im Café der Berliner Schaubühne, eines der wichtigsten Theater des deutschen Sprachraums, sprechen über ihre Muttersprachen, das Italienische und das Rätoromanische. Wir sprechen darüber, dass unsere Eltern im gleichen Churer Mittelstandsquartier leben. «Aber für Smalltalk sind wir ja nicht hier», sagt sie schliesslich. Oder sage ich es? Ursina Lardi beugt sich vor, die Augen weit offen. Aufmerksam und neugierig. So, wie ich sie später auf einem Filmset in Bern sehen werde, als sie mit dem Regisseur über eine blaue Perücke spricht, die sie bei der Züglete wiederentdeckt hat. Diese gespannte Aufmerksamkeit ist das Zweite, das mir an ihr auffällt. Das Erste war ihre entschiedene Weigerung, über Privates zu sprechen. «Es darf nur um meine Arbeit gehen», hatte sie schon beim ersten telefonischen Kontakt gesagt, und sie wiederholte es mehrmals. So halte ich mich an die – erstaunlich wenigen – biografischen Daten, die im Netz zu finden sind: 1970 geboren. Aufgewachsen in Poschiavo und im Unterengadin. Schweizerdeutsch im Alter von zehn Jahren. Lehrerseminar in Chur. Alphabetisierungsprojekt für Frauen in Bolivien. Schauspielschule Ernst Busch in Berlin. Erste Engagements an deutschen Theatern. Erste lobende Kritiken. Theaterexperimente. Kleine und grosse Rollen in Filmen und Fernsehproduktionen. Engagement an der Berliner Schaubühne. Heute lebt Ursina Lardi mit ihrem Mann und ihrem 16-jährigen Sohn in Berlin.

«Die Schauspielerei ist mir passiert», sagt die 49-Jährige während unseres Gesprächs in Berlin. «Ich wusste vorher gar nichts über diesen Beruf.» Ich habe den leisen Verdacht, dass sie kokettiert. Immerhin stand sie schon an der Kantonsschule Chur bei drei Theaterproduktionen auf der Bühne. Georg-Albrecht Eckle zerstreut meinen Verdacht. Er war von 1987 bis 1992, als Ursina Lardi das Gymnasium besuchte, Direktor des kleinen Stadttheaters von Chur und damit wohl der erste Theaterprofi, der auf Lardi aufmerksam wurde. «Sie hat das Theater tatsächlich nicht gesucht. Das Theater hat sie gesucht.» Das tönt sehr pathetisch, Eckle weiss das, und er bleibt pathetisch. «Sie ist herausgestochen. Ohne artifizielle Vorleistung. Ohne den Schutt, mit dem mittelmässige Schauspieler ihr wahres Wesen zudecken. Sondern in ihrer Eindeutigkeit.» Kein Firlefanz, würden andere sagen. «Dieses wahre Wesen ist die Basis aller künstlerischen Arbeit. Nicht scheinen wollen. Sein wollen», sagt Eckle.

 

«Die Schauspielerei ist mir passiert»,
sagt die 49-Jährige während unseres
Gesprächs in Berlin. «Ich wusste vorher
gar nichts über diesen Beruf.»

 

An der Schauspielschule Ernst Busch im Osten Berlins, weit weg von der kleinen Stadt ihrer Jugend, erlernte Lardi die Techniken der Schauspielerei. Sie lernte, sich ihren Ängsten zu stellen, und gleichzeitig wusste sie, dass sie das immer wieder neu tun muss, wenn sie nicht in Routine verfallen will. «Routine ist der Tod für jede Theateraufführung, und sie ist mir immer noch sehr, sehr fremd», sagt sie. Bevor sie sich für eine Rolle enscheidet – und es werden ihr viele angeboten – prüft sie Regisseurin, Regiekonzept und die Aufgabe, für die sie vorgesehen ist. Immer auf der Suche nach Erfahrungen, die sie bis dahin noch nicht gemacht hat, oder nach Herausforderungen, denen sie sich noch nicht stellen musste. Eine der grossen Herausforderungen der letzten Jahre war und ist die Zusammenarbeit mit Milo Rau, dem Schweizer Theatermacher, der damit bekannt geworden ist, Schlüsselszenen oder Hotspots der jüngsten Weltgeschichte auf die Bühne zu bringen. Die Ermordung des rumänischen Diktators Ceausescu. Den Völkermord in Ruanda. Als die beiden sich zu einem ersten Gespräch trafen, war für Ursina Lardi schon nach wenigen Sätzen klar, dass sie mit Rau zusammenarbeiten wollte. Was sie allerdings nicht ahnte, war, welchen Schwierigkeiten sie dabei begegnen würde. Wie all seinen Schauspielerinnen und Schauspielern fordert Rau auch Lardi Bruchstücke ihrer Biografie ab, die sie in seine Stücke einbringen soll. «Meine Biografie ist nicht interessant», sagt Lardi zu mir im Café der Berliner Schaubühne. Zu Rau sagte sie: «Gib mir einen Text, eine Rolle, in die ich hineinschlüpfen kann.» «Es gibt keinen Text», sagte Rau. Das Projekt drohte zu scheitern. Erst als die beiden in den Osten des Kongos und in ein griechisches Flüchtlingslager reisten, zeigte sich ihnen der Titel und damit die grosse Linie des Stücks. In «Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs» erzählt eine Europäerin in einem langen Monolog, wie sie in den Osten des Kongos kommt, um zu helfen, und wie sie an den Realitäten zerbricht. Sie erzählt von Flucht und Träumen, und sie sagt den Zuschauern: «Ich kann jeden von euch wahrnehmen. Jeden einzelnen. Ich höre jeden Huster. Jedes Räuspern ist eine Kränkung für mich. Das hier ist ein Moment völliger Gegenwärtigkeit. Ich bin da. Ich bin absolut da. Und wo sind Sie? Woran denken Sie? Was tun wir hier?»

«Mitleid» war das erste Stück, in dem ich – ein interessierter, aber wenig fachkundiger Theatergänger – Lardi sah. Ich war begeistert darüber, wie viel sie mir erzählte. Und ich war irritiert vom Flimmern zwischen dem Text und ihrer eigenen Biografie. «Sie ist eine der besten Schauspielerinnen, die ich kenne. Was mich bei ihr von Anfang an faszinierte, war ihre Abenteuerlust. Ihre Lust, Neues auszuprobieren», sagt Milo Rau. «Ursina Lardi ist im Land des Kompromisses aufgewachsen – und hat sich der künstlerischen Kompromisslosigkeit verschrieben», sagte Bundesrat Alain Berset, als er ihr 2017 den Hans-Reinhart-Ring übergab, den wichtigsten Theaterpreis der Schweiz. In ihre Projekte kniet sie sich hinein wie nur wenige sonst. Für «Unendlicher Spass», an dessen Produktion auch das Schauspielhaus Zürich beteiligt war, ackerte sie sich durch den 1000-Seiten-Wälzer des amerikanischen Autors David Foster Wallace, durch einen Roman also, der auch für Profileser ein harter Brocken ist. «Aber das ist doch selbstverständlich», sagt sie und spielt die Hauptfigur des Romans, einen jungen Mann. So wie sie Salome gespielt hat. Oder ein vierzehnjähriges Mädchen. Ödipus. Lenin. Jedes Mal gibt sie uns alles, was in ihren Rollen und in ihr selber steckt. Sie weint. Sie vergeht vor Glück. Sie bricht zusammen. Sie zieht sich aus. Sie schweigt. Sie gibt sich als Person ganz, doch von ihrem Privatleben gibt sie uns nichts. Keine Skandale. Keine glücklichen oder unglücklichen Beziehungsgeschichten. Keine Hoffnungen oder Albträume. «Es geht nicht um mich», sagt Lardi. Es ist weder Koketterie noch Proklamation, es ist eine schlichte Feststellung.

«Ursina Lardi ist im Land des
Kompromisses aufgewachsen
– und hat sich der künstlerischen
Kompromisslosigkeit verschrieben»,
sagte Bundesrat Alain Berset

 

Mittlerweile war sie in etwa fünfzig Fernsehproduktionen und Filmen mit dabei, unter anderem im «Weissen Band» von Michael Haneke. 2014 wurde sie beim Schweizer Filmpreis als beste Darstellerin ausgezeichnet. 2016 war sie Ehrengast der Solothurner Filmtage. Ein Jahr später erhielt sie den Hans-Reinhart-Ring. Ein Star ist sie trotz Erfolgen und breiter Anerkennung nicht geworden. In Deutschland nicht, und auch nicht in ihrer ursprünglichen Heimat, wo Ex-Missen in die Schlagzeilen kommen, wenn sie in Hollywood für eine kleine Rolle vorsprechen dürfen. «Ein stiller Star» hat das Berliner Stadtmagazin «Zitty» einmal getitelt. Aber ein stiller Star ist keiner. Es kümmert sie nicht. Ein vorläufig letztes Mal sehe ich Ursina Lardi am Set für den Spielfilm «Das Mädchen und die Spinne». Es geht um ein Mädchen, das von zuhause in die erste eigene Wohnung zieht. In Bern, in der Halle, in der früher das Gurtenbier gebraut wurde, haben die Bühnenbildner eine kleine Wohnung gebaut. Beim Zügeln entdeckt Lardi, die Mutter des Mädchens, die blaue Perücke, die sie sich vor Jahren aus ihrem eigenen Haar machen liess, und sagt: «Immer, wenn ich einen Traum hatte, bin ich aufgestanden und habe sie angeschaut. Wie sie da lag … still … wie ein kleines schlafendes Tier.» «Und jetzt träumst du nicht mehr?», fragt ihre Tochter. «Nein, jetzt träume ich nicht mehr.» So steht es im Drehbuch. Doch da steht nichts darüber, wie sie das sagen soll. Ist sie erleichtert, dass die schwierige Zeit von damals endgültig vorbei ist? Oder ist sie enttäuscht, weil keine Träume mehr da sind? Lardi bespricht es mit Ramon Zürcher, einem sehr leisen und sehr präzisen Regisseur. Er hat die Angewohnheit, in Möglichkeiten zu denken, auszuprobieren, zu schauen, was sich verfestigt. Ursina Lardi hört ihm zu, aufmerksam, so, als sei es das allererste Mal, dass sie bei einem Film mitarbeitet. Als sei sie eine Novizin, die auf keinen Fall etwas verpassen oder vergeigen will. «Ich mach mal beides», sagt sie. «Schauspielprobe», ruft die Produktionsleiterin. Lardi geht zuerst vom Unbeschwerten ins Melancholische, und dann, nur einen Atemzug später, so, als habe jemand einen Schalter umgelegt, vom Melancholischen ins Erleichterte. Es ist ein kleines Schaustück darüber, was möglich ist, wenn jemand die Kunst beherrscht.

Hat Ursina Lardi den Anspruch, mit Film und Theater die Welt zu verändern? «Ich arbeite an den Inhalten, die mich interessieren», sagt sie. Mal seien die politisch, mal nicht. Aber: «Die eine oder andere Frage, die mich beschäftigt, wird auch die Zuschauer beschäftigen, wenn der Abend gut ist. Das ist doch schon recht viel, denke ich.»