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Warum mich ungeschminkte Frauen inspirieren

Leben

Warum mich ungeschminkte Frauen inspirieren

  • Aufgezeichnet von Claudia Minner; Foto: Pexels

Als mir vor gut vier Jahren der Gedanke kam, Frauen ohne Make-up zu fotografieren, sass ich gerade aufgeheizt und tiefenentspannt in der Sauna und überlegte, mit welchem Fokus ich mich als Coach selbstständig machen würde. Da ploppte plötzlich wie aus dem Nichts dieses Wort in meinem Kopf auf: ungeschminkt. Und ich spürte: Ja, das ist es!

Ich persönlich war nie stark geschminkt, trug nur ab und zu etwas Lippenstift auf und färbte mir meine aschblonden Haare rotbraun, das war alles. Aber ich war übersättigt davon, immer und überall in diese jungen, schönen und perfekt optimierten Frauengesichter zu schauen – in Zeitschriften, auf Plakaten oder im Fernsehen; in Filmen sind Frauen ja selbst kurz vor dem Einschlafen im Bett noch geschminkt. Ausserdem hatte ich seit einigen Jahren das Gefühl, dass wir Frauen nicht immer die Wahrheit erzählen. Viel zu oft gaukeln wir uns eine heile Welt vor, ein Alles-ist-Gut. Warum eigentlich?

Ich wollte hinter diese geschminkte Fassade, diesen schönen Schein schauen. Die ungeschminkte Wahrheit! Die wollte ich finden, die wollte ich zeigen. In kurzer Zeit haben sich unfassbar viele Frauen auf meinen Facebook-Aufruf gemeldet, über 150 habe ich fotografiert und rund 100 davon habe ich letztes Jahr in einem Buch veröffentlicht. Die Foto-Sessions haben mich zutiefst berührt. Weil sich Frauen, die ich nicht kannte, mir als Hobbyfotografin anvertraut haben – wissend, dass ihr ungeschminktes Gesicht in einem Buch verewigt wird. Ich hatte Abschmink-Tücher dabei, niemand konnte schummeln, jedes letzte Bisschen Wimperntusche wurde weggewischt. Und dann blickten mich diese Frauen an. Mit ihrem nackten Gesicht. Manche verunsichert und verletzlich, andere selbstbewusst und stolz. Ich werde diese Blicke nie vergessen. Und auch nicht die Gespräche rundherum, diese Offenheit, mit der die Frauen mit mir über ihre Ehe oder Kinder, über den Tod und die Liebe sprachen.

Und dann die Reaktionen der Frauen, wenn sie ihr Bild sahen – auch das war sehr bewegend. Da war alles dabei: von einem positiv überraschten «Cool, das bin ich!» oder «Ich seh ja auch so ganz gut aus» bis hin zu Schock-Momenten: «Oh Gott, habe ich wirklich so viele Falten!?» Viele Frauen sahen ihre natürliche Schönheit erst auf den zweiten Blick.

Ich habe dann noch einen weiteren Aufruf gestartet, dieses Mal ging es um Texte über das Ungeschminktsein. Wieder hatte ich unglaublich viel Rücklauf, auch namhafte Autorinnen haben Beiträge für mein Buch verfasst. Sie handeln nicht allein von Schminke. Es geht vielmehr um das Gefühl, wie es sich lebt, wenn man sich nicht verstellt. Wenn man die eigene Wahrheit sucht und gefunden hat. Wenn man sich traut, sie auszusprechen und zu leben. Wenn man sich selbst anschauen und lieben kann. All das hat mich sehr inspiriert und verändert. Auch ich selbst färbe mir meine Haare nicht mehr, habe mich von diesem künstlichen Rotbraun verabschiedet und mich mit meinem Graumeliert angefreundet. Ich will optisch nichts mehr vortäuschen. Ich will mich zeigen, wie ich bin.

Viel bewegender aber ist meine innere Verwandlung. Ich habe in dem Prozess realisiert, dass ein Teil meines Lebens schon länger nicht mehr zu mir und meiner Wahrheit passt: meine Ehe. Ich hatte ein gutes und finanziell sorgenfreies Leben mit meinem Mann, wir hatten ein schönes Haus, sind viel verreist. Aber wir hatten uns in 28 gemeinsamen Jahren auseinandergelebt.

Durch meine Veränderung habe ich Mut gefasst, dies zu erkennen und meine Sicherheit, die Ehe, aufzugeben. Das war und ist nicht immer einfach. Mein Leben geht nun in eine neue Richtung, die Kinder sind aus dem Haus, ich wohne jetzt allein auf einem Berg in 1500 Metern Höhe und werde bald als freiberuflicher Coach starten. Und dann werde ich noch mehr Menschen helfen, ihre ungeschminkte Wahrheit zu finden.

 

Bettina Zumstein (50) Coach, Rigi Kaltbad LU